Fünf Helden von Tschernobyl: Erzählungen von berühmten Liquidatoren dreißig Jahre nach der Tragödie in Tschernobyl
Leonid Teljatnikow, Leiter der paramilitärischen Feuerwehreinheit Nr. 2 zur Überwachung des Tschernobyler Kernkraftwerks.
Vor elf Jahren erinnerte sich die Witwe Leonid Teljanikows, Larissa, in einem Interview mit „Fakty“ an diese schicksalhafte Nacht.
„Wir saßen in der Küche und warteten, wann man uns Wasser gibt. Bei uns in Pripjat gab es immer heißes Wasser, aber kaltes gab es nur am späten Abend. Leonid las ein Buch und ich machte mich zurecht, weil wir am nächsten Tag häusliche Dinge regeln wollten. Ungefähr halb eins nachts hörten wir Explosionen, maßen dem aber keine Bedeutung bei. In der Nähe war ein Flugzeugregiment stationiert und sehr oft durchbrachen die Flugzeuge über Pripjat die Schallmauer. In niedriger Höhe war das ziemlich laut. Aber nach drei Minuten klingelte das Telefon: Sie erklärten, dass das Dach der Maschinenhalle im KKW brennt. Leonid ging seine Uniform anziehen und ich lief mit den Stiefeln hinter ihm her. Weil mein Mann damals im Urlaub war, konnte er keinen Fahrer rufen. Die ganze Wache war schon beim Brand, also bestellte er einen Milizwagen. Am Kraftwerk kam er 15 Minuten nach der Explosion an.
Zwei Jahre vor der Katastrophe von Tschernobyl gab es einen Brand im Armenischen Kernkraftwerk. Dort brannte auch das Dach der Maschinenhalle, bei dessen Einsturz starben Menschen. Das weiche Dach aus Bitumen brennt gut und lässt sich schwer löschen. Mit dem Gedanken daran wusste mein Mann in dieser Nacht nicht, ob er nach Hause zurückkehrt oder nicht. Normalerweise sagte er, wenn er zum Einsatz ging: „Larissonka, Auf Wiedersehen!“ Aber an diesem Tag sagte er aus irgendeinem Grund „Leb wohl!“ Ich sah in schon am nächsten Tag wieder, im Krankenhaus.“
Teljatnikow selbst gab kein Interview, ging nicht zu Empfängen, hinterließ kein Erinnerungsbuch. Er zog seine Generalsuniform nur selten an, und trug nicht den Goldenen Stern des Helden der Sowjetunion.
Bis zum Ende seines Lebens quälte er sich damit, dass seine Untergebenen starben und er überlebte.
Teljatnikow starb unter schwierigen Umständen. Er konnte nicht schlucken, nur mit Schwierigkeiten sprechen und das Gesicht zerfraß eines der verschiedenen Papillome – eine Folge der heftigen Strahlenkrankheit.
Sein Tod am 2. Dezember 2004 blieb von der Gesellschaft unbemerkt. Im Land tobte der Majdan.
Wladimir Maksimtschuk, Feuerwehr-Held
Kaum einer weiß darum, dass in der Nacht vom 22. Auf dem 23. Mai im vierten Block ein weiteres Feuer ausbrach. Es brannten die Hauptzirkulationspumpen und Hochspannungsleitungen.
Die sowjetische Führung bemühte sich, diesen Unfall zu verschweigen: die Welt war auch so schon von Tschernobyl erschrocken.
Die Erkundungsgruppe der Feuerwehr wurde von Wladimir Maksimtschuk angeführt: er drang selbst in die Brandzone vor, um herauszufinden, wo und was brennt.
Die Strahlung betrug 250 Röntgen in der Stunde.
Der Unterregimentsführer entschied: Die Technik dringt in den Löschbereich vor und bleibt dort. Die Menschen arbeiten in Kampfgruppen jeweils zehn Minuten. Aber Maksimtschuk selbst nahm an jedem Ausfall teil.
Nach zwölf Stunden brachte man ihn in das Kiewer Krankenhaus des Innenministeriums mit Strahlungsverbrennungen der Waden und Atemwege. Er konnte nicht mehr auf den Beinen stehen.
Im Tschernobyler Museum wird bis heute das „Einsatzprotokoll“ aufbewahrt, das 1991 von Maksimtschuk selbst geschrieben wurde.
„… Mittel zum Schutz, eine Atemmaske, hatte ich nicht. An den Füßen hatte ich Turnschuhe, andere Schuhe passten nicht.
…mit einem Dosimeter gingen wir zur Erkundung des Feuers…Irgendwann gegen 6 Uhr morgens, vielleicht auch früher, fühlte ich einen Schmerz in der Brust, so ein Gefühl, als ob jemand heiße Kohlen hineinstreut. Der Schmerz wurde immer stärker und hielt noch lange an, als ich mich schon in den Krankenhäusern befand. Es wurde schmerzhaft zu sprechen und schwierig, sich zu bewegen (das Bein!). Um 14:30 Uhr gab ich, eine Gruppe Feuerwehrleute im KKW zurücklassend, den anderen Kräften Entwarnung, verließ das Kraftwerk und dachte, ich werde mich ein wenig ausruhen und dann weiter arbeiten, obwohl die Erde unter meinen Füßen wankte. Aber die Ärzte schickten mich ins Krankenhaus des Innenministeriums der USSR.
…Es vergingen fünf Jahre eines Kampfes, eine Odyssee durch Kliniken, Krankenhäuser und Hospitäler. Ich werde schnell müde, habe wenig Freude, aber Gott sei Dank, lebe ich, sehe meine Angehörigen, habe Arbeit und deshalb… Die Jahre 1986 und 1987 „flogen weg“ aus meinem Leben. Es wurde besser in den 90gern. Moralisch habe ich mich damit abgefunden, dass nicht alles da ist, was vor dem Mai 1986 war.“
Im April 1994 schlug das Rote Kreuz Schwedens dem schon totkranken Maksimtschuk vor, zur Behandlung nach Stockholm zu kommen. Aber nichts half. Am 22. Mai, fast genau am Jahrestag seines Einsatzes starb der 46jährige Mann.
Der im Ternopiler Gebiet geborene erhielt posthum den Titel „Held der Russischen Föderation“, da er in Moskau lebte. Und eben aus Moskau wurde er nach Tschernobyl abgeordnet.
Nikolaj Tscheremuchin, Vorgesetzter der Abteilung medizinischer Schutz des Stabs des Zivilschutzes unter dem Ministerrat der USSR.
Der Kalender zeigte den 28. April, als der Militärarzt Tscheremuchin in der Vernichtungszone ankam. Er organisierte persönlich die Rettungsaktion in Pripjat, Tschernobyl und 40 bewohnten Orten und wurde am 13. Juni als klinisch tot aus dem Kraftwerk evakuiert.
„Die Evakuierung verlief schnell und geordnet: zuerst brachten wir die Frauen mit Kindern und Schwangere weg. Aber die Männer arbeiteten praktisch alle im Schichtdienst im Tschernobyler Kernkraftwerk… Ich arbeitete fast rund um die Uhr, schlief 2-3 Stunden. Die Tiefe und das Ausmaß der Tragödie begriff ich vor Ort. Ich verstand nicht alles, konnte nicht über alles sprechen. Und es war keine Zeit. Die Zeit war begrenzt. Nicht einmal über das Haus, in dem der einjährige Enkel zurückblieb, war Zeit nachzudenken.
Ich war Arzt, wir leisteten den Arbeitern des Kraftwerks Hilfe und entschieden, wer zuerst mit dem Flugzeug nach Moskau, Kiew gebracht wird. Zunächst reichten die Medikamente nicht, aber dann schickte man sie uns aus der ganzen Union. Die Dorfbevölkerung wollte nicht abreisen, viele hatten Nutztiere. Der Staat kaufte den Leuten die Tiere ab und sie wurden geschlachtet und in Gräbern verscharrt.
Es war ein Fehler der Regierung, vielleicht sogar ein Verbrechen, dass sie nicht gleich die Wahrheit gesagt haben. Die Bevölkerung muss immer und rechtzeitig informiert werden. Dann werden die Ärzte weniger Arbeit haben.“ Sagte der Oberst Tscheremuchin Ende der 90er im Interview mit den „Klowsker Nowosti“.
Am 30. November 2008 starb er im Alter von 80 Jahren an Krebs.
Sergej Mirnyj, ehemaliger Zugführer in der Strahlungserkundung
Anfang Juni erhielt Leutnant Mirnyj, ein damals 27jähriger junger Mann, seine Einberufung: „Ich empfehle Ihnen, sich am 6. Juni 1986 um 8 Uhr im Dserschinsker Wehrkreiskommando der Stadt Charkow einzufinden zur wissenschaftlichen Vorbereitung für die Dauer von 25 Tagen. Bitte bringen Sie mit: Ausweis, Wehrausweis, Komsomolzen-Ausweis, zwei Paar Unterwäsche, zwei Handtücher, zwei Paar Fußlappen oder Socken, zwei Taschentücher, feste Schuhe und Kleidung, persönliche Hygieneartikel.“
Über diese Sommertage schrieb Mirnyj später ein Buch „Lebendige Kraft. Tagebuch eines Liquidators“. Es ist lebendig geschrieben und mit Humor, oft schwarzem.
„Seltsames geschah in der Kompanie des Strahlungserkundungsnachwuchses…
Am ehesten Ersatz statt Nachwuchs… Seltsam waren die Instruktionen, die diese Verstärkung begleiteten.
Zum Beispiel: Jeden Tag sollten diese Leute eine Strahlungsdosis von genau zwei Röntgen erhalten… Wir waren verblüfft. Zwei Röntgen waren damals die Untergrenze der zumutbaren Strahlungsdosis am Tag. Dies wurde vom Verteidigungsminister der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken per Befehl festgelegt (so sagte man uns das, der Befehl selbst war geheim, niemand hat ihn mit eigenen Augen gesehen). Wenn ein Vorgesetzter zuließ, dass einer seiner Untergebenen mehr abbekam, so wurde der Vorgesetzte bestraft. Wie, das weiß ich nicht, kann ich nicht sagen; niemand ließ das zu – auf dem Papier natürlich.
Das ist das Wichtigste, nicht mehr. Aber dass es genau und akkurat – und täglich – zwei Röntgen für jeden Mann sein sollten…
Und zweitens, das ging einfach nicht. Wir konnten einfach nicht garantieren, dass die Mannschaft von ihrer Erkundung genau zwei mitbringt, es ist ja auch eine Erkundung.
Seltsam.
Und wofür wird das alles gebraucht?… Nach einer halben Stunde wurde es klar (im Lager zirkulieren Informationen schnell).
Und die Männer, die noch im Haufen sich zuzwinkerten (die es noch nicht geschafft hatten, sich im Zug zu verteilen) erhielten den Spitznamen „Versuchskaninchen“. Bei allen von ihnen hatte man vor der Einreise in die Zone Blut abgenommen, aus der Vene für die biochemische Untersuchung. Und man schickte sie normale Arbeit zu verrichten beim Aufräumen des radioaktiven Mülls.
Das kennzeichnende Merkmal eines guten Experiments ist die Glaubwürdigkeit. Es war eine auf günstigem Weg (vor allem, wenn es an Intelligenz mangelt) erreichbare große Menge von Versuchsmaterial… Ganz einfach.
Ehrlich gesagt, erinnere ich mich nicht, ob wir es schafften, sie zur Arbeit in die Zone zu schicken oder nicht – man hat sie schnell wieder abgezogen.“
Im August des gleichen Jahres erhielt der Zugführer der Tschernobyler Strahlungserkundungstruppe die Danksagung des Kommandierenden der Kiewer Militärabteilung für Mut und Heldentum. Aber Tschernobyl ließ ihm keine Ruhe.
In der Folge erwarb Mirnyj eine weitere höhere Ausbildung im Ausland mit der Spezialisierung „Umwelt“. Er erforschte den wahren Gesundheitszustand der Liquidatoren, hielt Vorträge auf vielen internationalen Konferenzen. Außerdem schrieb er, und schreibt immer noch Bücher und Szenarien und dreht Dokumentarfilme über Tschernobyl. Er sieht es als logische Fortführung der Arbeit, die er 1986 begonnen hat. Man sagt, damals kämpfte er mit radioaktiver Verschmutzung, jetzt mit informationeller.
Aleksander Leletschenko, stellvertretender Leiter des energetischen Werks des Tschernobyler Kernkraftwerks
Nach der Behandlung am Tropf fühlte sich Aleksander Leletschenko so gut, dass er die Ärzte darum bat „frische Luft schnappen“ zu dürfen. Und während die sich um andere Patienten kümmerten, verließ er leise die Krankenstation und tauchte wieder im havarierten Block auf, um seinen Kollegen, die mit den Folgen des Unfalls im KKW Tschernobyl kämpften, tatkräftige Unterstützung zu leisten.
Beim zweiten Mal brachte man ihn gleich nach Kiew, wo Leletschenko unter schrecklichen Qualen starb. Insgesamt erhielt er eine Strahlendosis von 2500 Röntgen, weshalb keine Knochenmarkstransplantation und keine Intensivtherapie ihn retten konnten.
Aleksander starb am 7. Mai 1986.
26. April 2016 // Anastassija Rafal
Quelle: Strana