Der Faschismusbegriff


Ausgehend von meiner Vortragsreise in die Ukraine Ende Februar und Anfang März 2012 hat eine Vielzahl von Aktivisten, Politikern, Intellektuellen und Historikern ihre Empörung über etwas geäußert, das Taras Kurylo in seinem Artikel „Der Skandal um Rossolinski-Liebe und der Zustand der ukrainischen Geschichtswissenschaften“ beschreibt. Kurylo ist der Ansicht, ich hätte einen politischen Skandal bewusst verursachen wollen, indem ich den Faschismus-Begriff dort benutze, „wo er angemessen ist und auch dort, wo dies nicht der Fall ist.“ Diese Behauptung möchte ich kurz widerlegen und die Anwendung des Begriffes klarstellen.

Ich stütze mich bei meiner Faschismusdefinition auf den britischen Faschismusforscher Roger Griffin und definiere den Faschismus als eine revolutionäre Form des populistischen Ultranationalismus. Außerdem betrachte ich eine Ideologie bzw. Bewegung nur dann als faschistisch, wenn sie antidemokratisch, antikommunistisch, antiliberal, antisemitisch, radikal nationalistisch und rassistisch ist und dazu noch einen Kult des Krieges und der politischen und ethnischen Gewalt pflegt. Ich benutze den Faschismusbegriff in der Regel nur für Bewegungen, die zwischen 1918 und 1945 existierten. Ultranationalistische, populistische und revolutionäre Bewegungen oder Ideologien, die später existierten und sich auf das faschistische Gedankengut der Zwischenkriegszeit beriefen, bezeichne ich als neo-faschistisch oder rechtsradikal. Wenn ich zum Beispiel in meinem Aufsatz Celebrating Fascism and War Criminality in Edmonton. The Political Myth and Cult of Stepan Bandera in Multicultural Canada beschreibe, wie während des Kalten Krieges oder in der Gegenwart rechtsradikale oder nationalistische Individuen oder Vereine den Kult einer Person oder einer Organisation betreiben, die in der Epoche des Faschismus (1918-1945) faschistisch waren, dann behaupte ich nicht, dass die Vertreter dieses Kultes Faschisten sind und bezeichne sie auch nicht als Faschisten. Es ist mir aber bewusst, dass diejenigen Individuen, die Faschisten verehren und meinen oder Per Anders Rudlings Aufsatz zur verwandten Problematik gelesen haben, den Eindruck bekommen können, sie wären Faschisten, weil sie bei der Lektüre darüber aufgeklärt werden, was sie eigentlich tun. Diese Personen möchte ich mit Anton Schechowzows Artikel „Leidenschaften um den Faschismus“ vertraut machen und zur weiteren Selbstreflexion ermuntern.

Die Faschismusforschung wurde neben der Holocaust- und Antisemitismusforschung in der Ukraine jahrzehntelang vernachlässigt. Diese nicht aufgearbeiteten Felder der ukrainischen Geschichte rufen heute viele Emotionen auch bei nicht für nationalistische Sympathien bekannten Wissenschaftlern wie Vasyl Rasevych oder Olena Betlij hervor. Man kann jedoch die ukrainische Vergangenheit nur dann aufarbeiten und den Zustand der Geschichtswissenschaft in der Ukraine verbessern, wenn man sich mit den problematischen Feldern der Geschichte kritisch auseinandersetzt. Dazu gehört unter anderem, den ukrainischen Faschismus öffentlich debattieren zu können und die Faschismusforschung in der Ukraine als eine wissenschaftliche Disziplin zu etablieren.

Grzegorz Rossolinski-Liebe

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