Feudaler Kapitalismus
Die Polizei berichtet, dass am 1. Mai ca. 400 Massenaktionen anlässlich des Tages der Arbeit stattfanden. Bei solchen Veranstaltungen preist man traditionell die Arbeit und man schimpft über den Kapitalismus, was meistens völlig gerechtfertigt ist.
Als der sozialistische Inkubator unter dem Druck der geschichtlichen Ereignisse zerfiel, haben wir gehofft, uns der allgemeinen Strömung anzuschließen zu können. Die schmerzhaften gesellschafts-ökonomischen „Entzugserscheinungen“ und der Horror des „wilden“ Kapitalismus sollten durch Köder des Kapitalismus „mit menschlichem Antlitz“ gemildert werden. Wir haben uns damit beruhigt, dass die ursprüngliche Akkumulation nicht ewig wärt, die Geschäftsleute ihre Sportkleidung in Geschäftsanzüge umtauschen und der neu geschaffene Markt gemeinnützig funktionieren wird. Die Geschäftsleute haben sich zwar umgezogen, danach passierte aber etwas, worauf uns weder Marx noch Soros vorbereitet hatten. Der ukrainische „wilde“ Kapitalismus fing an, in Richtung Feudalismus zu driften.
Dies ist keine Metapher! Als Beispiel kann man die Verteilungsmechanismen der Macht und des Privateigentums nennen. In der modernen Ukraine sind Macht und Eigentum de facto das Gleiche: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Armer ins Parlament gelangt und umgekehrt: Sogar ein kleiner Umfang an Macht lässt sich leicht in einen entsprechenden Umfang an Eigentum konvertieren. Selbstverständlich gab es im späten Feudalismus sowohl arme Barone als auch reiche Händler. Aber sowohl die einen als auch die anderen versuchten um jeden Preis die Nachteile durch Verwandtschaft und den Ankauf von Titeln zu kompensieren, weil die gegenseitige Anziehung von Geld und Macht unbezwingbar war. Manche behaupten, dass in der Ukraine zu viel Korruption herrscht. Das englische Wort „corruption“ bedeutet aber unter anderem eine Veränderung und Verzerrung, wobei die Theorie der korruptionsbedingten Evolution der Gesellschaftsordnung auf ihren Darwin wird noch warten müssen.
Macht und Eigentum werden in der Ukraine durch das System von Patronage-Klientel-Beziehungen verteilt. Früher hieß es Lehnverhältnis, jetzt nennt man das in der Regel Mafia. Wobei die Analogie zu Mafia ziemlich zutreffend ist, da ihre Funktionsprinzipien noch aus Urzeiten stammen: Eine strenge Hierarchie, ein System der persönlichen Verpflichtungen, Verbindung der Geschäfts- und politischen Beziehungen mit den familiären Beziehungen – es ist keine kranke ukrainische Demokratie, sondern der ganz gesunde ukrainische Feudalismus, wenn auch sehr jung. Der Hauptunterschied zwischen einem Politiker, einem Beamten und einem Feudalen besteht darin, dass der Letztere sein Land (Region, Bezirk, Stadt, Dorf) als sein tatsächliches oder potenzielles Eigentum betrachtet. Genau das gleiche beobachten wir heutzutage. Als die „Weiß-Blauen“ in Kyjiw (Kiew) ihre Wurzeln geschlagen haben, hat „Donezk“ „Luhansk“ (und danach auch viele andere) verschlungen, in dem sie sich die mehr oder weniger wichtigen Geschäfte aneigneten. Sind das keine Nachbarstreitigkeiten von Baronen?
Die gesellschaftlichen Schichten sind von der typischen Klassenteilung einer kapitalistischen Gesellschaft ebenfalls weit entfernt. Auch hier geht es wiederum in Richtung Archaik. Die Klassenungleichheit ist natürlich keine angenehme Angelegenheit, aber sowohl ein Kapitalist als auch ein Lumpenproletarier unterliegen den gleichen Gesetzen. Im Feudalismus ist es aber anders. Die Gesellschaftsschicht, die die Macht und das Eigentum in ihren Händen hält, unterliegt ihren eigenen geschriebenen und ungeschriebenen Regeln. Als Beispiel nehmen wir die „Mashory“, über die wir das ganze letzte Jahr schimpften. Das sind typische junge Prominente, deren Überlegenheit im Status gegenüber den „einfachen Leuten“ bereits in ihre Erziehung eingeflossen ist. Es ist ihnen genau so gut bewusst, wie ihren reichen Eltern, dass nur ein „König“ oder andere prominente Leute sie verurteilen können, aber auf keinen Fall das Volk. In diesem Sinne ist die Verhaftung von Luzenko und Tymoschenko eine interne Auseinandersetzung der Aristokratie, in die die einfache Bevölkerung ausschließlich in der Rolle von Statisten oder als Kanonenfutter einbezogen ist. Ein prominentes Beispiel ist der persönliche Konflikt zwischen zwei Schlachtschitzen (Adligen) – Chmelnyzkyj und Tschaplynskyj – der in einen blutigen Kampf überging, nur weil es einem von ihnen eingefallen ist, wie es heutzutage heißt, das „Elektorat zu mobilisieren“. Es ist also eine alte adlige Belustigung, an der Spitze von „Volksaufständen“ zu stehen.
Vor diesem Hintergrund ist es einfach, die Natur des ukrainischen politischen Prozesses zu verstehen. Wenn die „Leibeigenen“ ihre verhassten Patrone (z.B. aus der Partei der Regionen) ersetzen wollen, dann müssen sie sich der starken Hand eines anderen (sagen wir mal aus der Partei „Batkiwschtschyna/Vaterland“) ergeben. Zur Zeit gelingt dies in den Wahllokalen, wobei die Praxis zeigt, dass man die Wirkung der Wahlen nicht überschätzen sollte. Außerdem stehen uns nur Vertreter einer einheitlichen Elitenschicht zur Wahl, die durch Geschäfts-, Heimats-, Freundschafts- und Verwandtschaftsbeziehungen verbunden sind.
Trotz Streitigkeiten schützt diese Bevölkerungsschicht ihre Sonderstellung und Unantastbarkeit sehr vehement. Wir erinnern uns, wie neulich „einfache Leute“ sich getraut haben, eine Schneeballschlacht gegen die Würdenträger zu veranstalten: Für den Schutz der „Opfer“ haben sich sogar ihre politischen Erzfeinde eingesetzt. Die wichtigste Art und Weise einen Status quo zu bewahren, ist die Macht und das Eigentum zu vererben. Dies hat die feudale Welt Jahrtausende lang aufrechterhalten. Auch jetzt sind wir Zeugen (oft sogar unbewusst) der Entstehung neuer Herrscherdynastien. Selbstverständlich kann man die unverborgene Gevatterschaft und Vetternwirtschaft sowie das Hineinziehen der eigenen Kinder in die große Wirtschaft und Politik einfach für Einzelelemente der Korruption halten. Man kann aber auch mit dem gleichen Erfolg die Familie Medici nur einfach für korrupt halten.
Unter diesen Bedingungen ist kein Klassenwiderstand, der eine kapitalistische Gesellschaft auszeichnet, möglich. Natürlich existiert bei uns formell sowohl eine Gewerkschaftsbewegung, als auch ein Arbeitskodex. Aber wann haben wir sie das letzte Mal im Einsatz erlebt? Stattdessen formiert sich nach und nach eine skurrile patronage- und klientelgeprägte Solidarität zwischen den lokalen Fürsten und der Bevölkerung: Ein sogenanntes Stockholm-Syndrom. Ebenfalls merkt man die Auswirkungen einer enormen Ausbreitung der illegalen Beschäftigung, wobei der Arbeitnehmer seine Rechte nicht einmal hypothetisch ausüben kann. Eigentlich betreiben die Feudalen selbst wirtschaftlichen Geschäfte eher selten persönlich. Sie sind entweder Unternehmensinhaber oder sie sammeln Tribute der Unternehmen auf einem bestimmten Gebiet, das entweder durch die Fehde gewonnen oder vom Lehnsherren zugeteilt wird. Übrigens sind die bedauerlichen „Rollbacks“ („Widkaty“) – privater Verdienst der Entscheidungsträger durch Staats- oder Firmenankäufe bei einem Vertragsabschluss – keine Pathologie des modernen Wirtschaftssystems, sondern noch eine Ausprägung des gesunden Feudalismus. Ein Feudaler trägt natürlich eine bestimmte Verantwortung für sein Zuständigkeitsgebiet (weil er davon lebt), seine Priorität ist aber sein eigener Wohlstand, seine Bereicherung und seine Macht. Er ist aber auch irgendwie, ein durch die Gemeinde temporär angestellter Manager. Die Mittelschicht fehlt in der Ukraine nicht, weil die Beamten zu viel stehlen, sondern weil sie in einer feudalen Gesellschaft einfach unmöglich ist.
Unser inländischer Feudalismus hat aber einen wesentlichen mentalen Defekt. Die alte europäische Szlachta (Adel) hat ihre Lehen so behandelt, dass sowohl sie selbst als auch ihre Kinder und Enkelkinder in Zukunft davon leben können. Ein Lehnsherr war im Prinzip an sein Gut gebunden, weshalb er es wegen der Angst vor Armut mit seinem Leben beschützte. Er musste ebenfalls seinen Ausbeutungstrieb zurückhalten. Unsere modernen Feudalherren hoffen in ihrem tiefsten Inneren früher oder später ins Ausland zu fliehen, nach dem sie alles mögliche aus dem Land herausgeholt haben. Daher haben sie keinerlei innerliche Hemmungen, dafür gibt es Immobilien in verschiedenen komfortablen Ländern der Welt. Während die Gesellschaft im klassischen Feudalismus Kriege, Epidemien und andere historische Erschütterungen überlebte, kann man sich im gegenwärtigen ukrainischen Feudalismus („Sutschasnyj Ukrajinskyj Feodalism“) eher nicht darauf verlassen.
Die Organisatoren der „Majowky“ (Massenaktionen zum 1.Mai) sollten eine entsprechende Korrektur der Realität vornehmen. Die antifeudale Thematik hat eine Perspektive und wird bald als oberster Punkt auf der Tagesordnung stehen. Doch wie weit die Degradation des Landes bis dahin fortgeschritten sein wird, ist schwer zu sagen.
12. Mai 2013 // Maxym Wichrow
Quelle: Zaxid.net