Fragen an die Ukrainer


Warum lasst ihr euch einreden, euer Land sei gespalten? Weil es in der westlichen Ukraine ein paar Idioten gibt, die russischsprachige Menschen anblaffen: Hier wird Ukrainisch gesprochen!? Weil im Donbass Stepan Bandera als Faschist gilt? Sind das nicht Kleinigkeiten, verglichen mit den Erlebnissen eurer Großeltern?

Ich frage als Radfahrer, der euer schönes Land bereits zehn Mal von West nach Ost durchquert hat. In Ivano-Frankivsk habe ich drei Männer getroffen, die mir einreden wollten, dass die Menschen im Osten der Ukraine, die Russen, ganz anders seien. „Sie haben eine vollkommen andere Kultur als wir hier im goldenen, früher kaiserlichen Westen. Wir gehören zu Europa, die anderen nach Russland!“. Als ich die Männer nach ihren Vorfahren befragte, zeigte sich, dass der eine einen polnischen Vater hatte, der zweite eine armenische Großmutter, der dritte war ein halber Ungar. Auf meine Frage, wann sie zum letzten Mal im Donbass gewesen waren, wo doch angeblich nur reaktionäre Russen leben, antworteten sie: „Noch niemals!“

Sie hatten auch nicht die Absicht, dorthin zu fahren. Denn jedes Land hat seinen Osten und dieser Osten ist immer weit weg. In Berlin fragen mich Westberliner Freunde entsetzt: Du willst mit dem Fahrrad nach Osten fahren, sogar bis nach Polen? In Polen kloppen sich Leute die Faust an die Stirn, wenn ich gestehe, in die Ukraine zu fahren. Im Donbass warnen mich ängstliche Verkäuferinnen vor den Banditen in Russland. In Russland sagt man mir, aber weiter als bis zur Wolga dürfe ich wirklich nicht fahren, auf keinen Fall bis Kasachstan.

Ich gähne meistens, wenn ich solche Sätze höre. Und wie Ronja die Räubertochter mache ich die Erfahrung, dass es dort, wo es angeblich ganz gefährlich ist, ziemlich gemütlich sein kann. Ich habe in der Ukraine schon oft Gastfreundschaft genossen, aber nirgendwo so viele Einladungen erhalten wie von Kohlearbeitern im Donbass.

Dort leben harte Jungs, keine Frage. Man braucht schon einen guten Magen, wenn man dort Gast sein will. Aber so viel wir auch gesoffen haben, nie habe ich gehört, dass sich einer abfällig über den ukrainischsprachigen Westen geäußert hat. Wie überall wird auf die Politik geschimpft, auf die Betrüger im Parlament, über die niedrigen Renten und die gefälschten Medikamente, aber nie wird etwas Schlechtes über Ukrainer gesagt. Manchmal sagt jemand: „Sie mögen uns dort nicht“, und es klingt Enttäuschung raus.

Mein Freund Anatoli aus Tynivka in der zentralen Ukraine hat es einmal sehr schön ausgedrückt: Der Arbeiter im Donbass betrügt mich doch nicht. Der muss genauso hart arbeiten wie ich, wenn er seine Familie ernähren will. Und Faulpelze gibt es überall.

Man sollte zunächst einmal fragen, wer einen Nutzen von der Behauptung der gespaltenen Ukraine hat. Wer kann ein Interesse daran haben, die arbeitenden Menschen gegeneinander aufzubringen, Ressentiments zu schüren?

Natürlich das Großkapital, die Oligarchen. Wer über Sprachen streitet, muss nicht über niedrige Renten reden. Eine gespaltene Arbeiterklasse kann leichter manipuliert werden als eine einige. Im Parlament finden nur die Scheingefechte statt, für das Publikum, das sich längst abgewendet hat.

Ein weiterer Nutznießer ist Westeuropa, besonders Deutschland, d.h. die deutsche Politik. Solange die Ukraine als gespalten gilt, gibt es aus westeuropäischer Sicht die Maßstäbe gut und böse. Das Chaos hat einen Namen: Spaltung. Das vereinfacht den Blick nach Osten. Einen uneinigen Staat kann man nicht in die EU aufnehmen. Man hat schließlich kaum Personal, das sich um die Ukraine kümmern kann. Wenn man zusammenzählt sind es am Ende drei Dutzend Beamte in der EU, die sich um die Beziehung zum der Fläche nach größten europäischen Land kümmern.

Auch gewisse destruktive Kräfte in Russland sehen den Streit ganz gern. Man kann dann sagen: Ohne uns schaffen sie es nicht, die ungeschickten, kleineren Brüder.

Eine weitere Frage: Was wäre die Alternative zur Ukraine in ihren jetzigen Landesgrenzen? Es soll ja Leute geben, die eine Abspaltung der angeblich rein russischsprachigen Teile des Landes befürworten. Nur was wird mit den Millionen russisch-ukrainischen Ehen und Familien? Sollten die auch getrennt werden? Wer entscheidet darüber? Etwa die Journalisten und Schriftsteller, die sich so gern mit diesem Thema profilieren, weil man dafür nicht viel wissen muss und auf bekannte Klischees zurückgreifen kann?

Und was ist mit den Gegenden, wo überwiegend Surschyk gesprochen wird, also so, wie den Leuten die Zungen gewachsen sind? Oder gar Rumänisch oder Griechisch? Die Ukraine hätte eine fantastische Form, wollte man sie nach Blut-und-Boden-Kriterien ordnen.

Als Radfahrer kann ich nur sagen: Die Unterschiede zwischen dem Westen und dem Osten der Ukraine sind minimal. Viel geringer als die zu Polen.

Überhaupt: Was kann ein einzelner wissen? Wie viele Menschen kann er nach ihrer Meinung fragen? Und wer sagt ihm, dass die Meinungen sich nicht ändern?

Auch ich habe in den letzten Jahren höchstens mit fünfhundert Ukrainern längere Gespräche geführt. Fünfhundert von 45 Millionen.

Das Bild, das sich daraus ergibt, ist dennoch klar: Die Menschen in der Ukraine leiden nicht unter sprachlichen oder kulturellen Unterschieden, sondern unter ökonomischen und sozialen Problemen. Selbst über das Wetter wird häufiger geschimpft als über irgendeine Volksgruppe. Schließlich scheinen sich in den letzten Jahren Hitzeperioden mit Regenkatastrophen abzulösen.

Auch in westeuropäischen Ländern wie der Schweiz, Belgien oder Finnland benutzt man mehrere Amtssprachen. Weshalb sollte das nicht auch in der Ukraine möglich sein? Meinen Freund Anatoli würde es nicht stören, wenn man in Lugansk russischsprachige Formulare ausfüllen könnte. Aber er würde sich freuen, wenn man ihn seltener mit Formularen quälen würde.

Christoph D. Brumme

Der Text wurde leider ohne Erfolg mehreren ukrainischen Zeitungen und Nachrichtenportalen angeboten. Nachfolgend daher die Übersetzungen ins Ukrainische und Russische. Eine Verbreitung ist ausdrücklich erwünscht!
Питання до українців - Крістоф Д. Брумме [37 kB]
Вопросы к украинцам - Кристоф Д. Брумме [23 kB]

Mehr Erlebnisse und Eindrücke aus der Ukraine und Russland finden sich in Christoph D. Brummes Buch Auf einem blauen Elefanten im Dittrich-Verlag. Der Autor veröffentlicht auch regelmäßig auf seiner Website.

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