Fremde Brüder
Je kleiner der Grenzübergang, desto länger dauert die Abfertigung. Der russische Offizier prüft eine halbe Stunde lang meinen Reisepass. Mehrmals will er will wissen, an welchem Datum das Dokument ausgestellt wurde. Er telefoniert zwischendurch, fragt höheren Orts, ob es mit diesem seltsamen Radfahrer aus Deutschland alles seine Richtigkeit habe. Dann lässt er mich doch in die Ukraine, nach Kleinrussland, ausreisen.
Der erste Offizier auf der anderen Seite ist auch ein Bürokrat. Seiner Meinung nach habe ich die Immigrationskarte nicht korrekt ausgefüllt, da ich mein Fahrrad doch über die Grenze geschoben habe, also zu Fuß eingereist bin. Hinter ihm stehen drei Zolloffiziere und lachen. Sie seien Fahrrad-Enthusiasten, rufen sie, und einen Radfahrer aus Deutschland haben sie hier noch nie gesehen. Ob sie mich fotografieren dürfen? Wenn es kein Fahndungsfoto wird, antworte ich. Sie laden mich zum Frühstück ein. Ich habe noch keinen Krümel im Bauch, nur Wasser getrunken, es ist ja erst acht Uhr morgens. Während wir in die Küche gehen, fragt einer von ihnen, ob ich auch Wodka mag. Selbstverständlich, nur normalerweise nicht am Morgen. Doch wann wird man an einer Grenze schon mal zum Saufen eingeladen?
In der Küche deckt eine ukrainische Mama den Tisch. Es gibt Borschtsch, Gurken, Tomaten und Speck, und die Flasche mit dem Wässerchen ist eisgekühlt. Wer jetzt über die Grenze will, muss warten. Ich verspreche den ehrenwerten Herren, in Deutschland keine Reklame für diesen Grenzübergang zu machen, sonst, so prophezeie ich ihnen, werden hier im nächsten Jahr wohl einige Radfahrer eintrudeln und auf ein Wodkafrühstück hoffen.
Gänzlich besoffen reise ich in die Ukraine ein. Ich sehe Dutzende Landkarten auf meiner Fahrradtasche, kann mich aber noch erinnern, dass es bis zur nächsten Siedlung etwa vierzig Kilometer sind. Ich lache, ich schreie, ich quassle in mein Diktaphon, rede von der Liebe zu diesem Land, in dem niemand Autorität hat und in dem es nicht so ernst zugeht wie in Russland, wo jeder zweite Mann glaubt, er trage das Schicksal der Welt auf seinen Schultern.
Nach zwei Stunden stehe ich vor einem Zelt, das mir irgendwie bekannt vorkommt. Verwechsle ich etwas? Ich war doch gerade in solch einem Zelt, wo eine Alkohol-Kommission von drei Jugendlichen Strafgelder kassierte, weil sie Bier getrunken hatten? Ihre Freunde hatten es schlauer angestellt und auf dem nahen Fußballplatz getrunken, sie hatten den Dummköpfen, die sich unter die saufenden Erwachsenden gemischt hatten, vom grünen Rasen aus gewunken.
Offiziell darf man in der Ukraine wie auch in Russland auf den Straßen keinen Alkohol mehr trinken; beide Länder haben von Weißrussland und von den USA gelernt. Bevor ich noch länger darüber nachdenken kann, weshalb in so unterschiedlichen Staaten die Bürgerrechte auf das Niveau von 1848 zurückgeschraubt wurden (weil, je grotesker die Widersprüche in einer Gesellschaft, die Regeln der staatlichen Bürokratien desto bizarrer werden), kommen mir drei Gestalten entgegen, von denen ich zumindest einen kenne. Er ist ein Notar, den ich vor einem Monat als Manjak beschimpft habe, als sexuell kranken Menschen, weil er mit mir in seinem Auto mit 150 km/h durch die Dörfer gefahren war, obwohl ich ihn mehrmals gebeten hatte, sich an das Gesetz zu halten, das innerhalb von Ortschaften nur 50 km/h erlaubt. Außer Durak (Idiot) und Manjak kenne ich leider keine weiteren russischen Schimpfworte. Der Herr Notar hatte mir nach wenigen Minuten unserer Bekanntschaft seine Pistole gezeigt und erklärt, dass er nicht für die Regierung arbeite, weil die auch nicht für ihn arbeite.
Du hast mich als Manjak bezeichnet, sagt er jetzt. Ich hebe die Hände, wie es mein Großvater hätte tun sollen, als er vor 68 Jahren als Soldat hier durchzog, bevor er in Stalingrad starb. Schon gut, murmelt der Notar und lädt mich zum Mittagessen ein. Der Wirt erkennt mich, auch er will mich einladen und stellt erst einmal ein Bier auf den Tisch.
Ich berichte von meinem Erlebnis an der Grenze. Sie sind begeistert, und wir trinken auf die ukrainische Mentalität. Als ich behaupte, dass in Russland weniger Alkohol getrunken werde als hier, wollen sie es nicht glauben. Doch meine empirischen Forschungen sprechen ein klares Zeugnis.
In einer für russische Verhältnisse mittelgroßen Stadt wie Saratow (800.000 Einwohner) ist Hare Krishna inzwischen populärer als die kommunistische Partei, man sieht mehr Fahrradfahrer als Betrunkene auf den Straßen. Die Miliz heißt neuerdings Polizei, und das Innenministerium ruft in den Zeitungen die Komponisten auf, neue Lieder zu dichten, die zu dem neuen Namen passen. Präsident Medwedjew, der als großes Kind gilt, das in der Kindheit nicht genug gespielt hat, will mit der Reform gegen die Korruption ankämpfen. Jeder Polizist muss eine Prüfung ablegen, muss seine Sportlichkeit, seine Schießkünste, die Kenntnis der einschlägigen Gesetze und der Verfassung nachweisen, und am Ende soll der Personalbestand um 20 Prozent reduziert sein.
In der Ukraine ist die Lage derart verzweifelt, dass man den Staat wohl als gescheitert bezeichnen muss. Ein Milizionär, den ich traf, prophezeite für den Winter Hungerrevolten, die Miliz jedenfalls werde nicht gegen das Volk vorgehen. Er müsse seine Uniform mittlerweile selbst bezahlen, und jeder wisse, dass eine leitende Stelle in der Verwaltung an den Meistbietenden vergeben werde, ab 100.000 Euro aufwärts. Die durchschnittliche Rente beträgt umgerechnet 80 Euro, eine kleine Wohnung in einer Stadt wie Charkow (1,5 Mill. Einwohner) kostet mindestens 60 Euro.
Ohne uns schaffen sie es nicht, kommentiert eine Bibliothekarin aus Saratow die Lage im Nachbarland. Sie würde die Ukraine und Russland am liebsten morgen wieder vereinigen. Nebenbei erzählt sie, welche Informationen sie über mich an interessierte Behörden weitergegeben habe. Im landesweiten Ranking der ausländischen Direktinvestitionen belegt die Oblast Saratow nur den 76. von 81 möglichen Plätzen. Man will etwas unternehmen, um die Attraktivität der Region für ausländische Investoren zu erhöhen, deshalb werden nun auch über Badeurlauber und Fahrradtouristen Dossiers erstellt, und gemäß der alten sowjetischen Tradition garantiert die Frau für meine Sicherheit. In die Ukraine hingegen können Westeuropäer ohne Visum einreisen und sich dort drei Monate pro Halbjahr aufhalten, ohne dass es irgendjemanden interessiert, wo man wohnt und was man macht.
Das Verhältnis zwischen Russen und Ukrainern ist von gegenseitigem Misstrauen geprägt. Ukrainer seien so impulsiv wie Kaukasier, sie seien zu stolz auf ihre Unabhängigkeit, sie hätten Komplexe, seien lebenslustiger, aber auch hämischer als Russen, erzählt mir ein Drogenfahnder in Saratow. Freunde seiner ukrainischen Schwägerin hatten sich am Strand der Wolga zugeflüstert, dass sie hier kein Ukrainisch sprechen dürften, weil sie sonst Prügel beziehen würden. Die Russen seien doch so starke Nationalisten! Er habe sie kühl darauf hingewiesen, dass man in der Westukraine, woher die Besucher stammten, vielleicht kein Russisch sprechen dürfe, Saratow aber sei eine internationale Stadt, in der Dutzende Nationalitäten friedlich zusammenlebten. Letzteres entspricht zweifellos der Wahrheit, es gibt hier eine armenische, eine koreanische und eine deutsche Gemeinde, und die Muslime haben eine neue Moschee erbaut.
Der böseste Satz, den sich Russen über die fremden ukrainischen Brüder erzählen, lautet: Als der Ukrainer auf die Welt kam, erbleichte der Jude. Dies spielt auf den traditionellen Antisemitismus der Ukrainer an. Chmelnyzkyj heißt noch heute eine Stadt in der Ukraine, benannt nach einem Judenschlächter.
Im Donbass erzählt mir ein Philosoph, dass es Auschwitz nicht gegeben habe. Er ist Grieche, arbeitet im Sommer als Bauleiter und schreibt im Winter oder nachts seine Bücher, vor allem über das Wesen der Erziehung, hergeleitet von den Gedanken Friedrich Nietzsches und Fjodor Michailowitsch Dostojewskijs. Die Ukrainer bezeichnet er als das liederlichste und feierwütigste Volk Europas, während die Russen sich seiner Meinung nach viel schneller entscheiden könnten, disziplinierter leben würden und kollektivistischer seien. Im Schrank hat er eine Kalaschnikow, er trinkt Spirt, neunzigprozentigen reinen Alkohol, auf dem Hof wacht ein Pittbull. Der Philosoph fragt: Ihr habt den Krieg verloren und lebt heute einhundert Mal besser als wir. Wäre es nicht besser gewesen, wir hätten den Krieg verloren?
Diese Frage höre ich nicht zum ersten Mal. Auch der Hitlergruß wird in Klein- wie in Großrussland noch immer gern gezeigt, natürlich nur aus Spaß, man will dem Deutschen gegenüber als witzig erscheinen. Doch eine Phrase ist inzwischen noch populärer als der Ausruf Gitler kaputt: Ja, ja, das ist fantastisch! Lange Zeit wunderte ich mich, weshalb auch Menschen, die in der Schule kein Deutsch gelernt haben, solch eine Formulierung kennen. Es ist ein Satz aus einer deutschen Porno-Reklame, der sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion rasch verbreitete.
Meine Freunde im Bierzelt lassen mich nur ungern weiterfahren. Aber ich ahne schon, dass mir im nächsten Dorf das nächste fantastische Erlebnis droht. Männer und Frauen haben sich neben dem zentralen Geschäft des Dorfes auf Holzklötzen und Bänken niedergelassen, ein Geburtstag wird gefeiert. Kaum haben sie herausgefunden, dass ich nicht verheiratet bin, bietet mir ein Mann für die Nacht eine Frau zur Erholung an. Die Dame, die er meint, sitzt neben mir, streichelt mir bald den Rücken und erzählt, dass ihr Mann in Moskau arbeite, die Kinder bei der Großmutter seien. Beste Voraussetzungen also für eine gemeinsame Nacht. Überhaupt, es sei Tradition in der Ukraine, Fremde zu verwöhnen. Das kann ich nur bestätigen, denn es ist nicht das erste derartige Angebot, das ich auf meinen Fahrradreisen erhalte.
Ich kaufe ein paar Biere für die feine Gesellschaft, da sitzt die Frau, die für mich bestimmt war, auf dem Schoss des Mannes, der sie zuvor mir angeboten hatte. Und er zeigt, wie man sich mit ihr erholen könnte, indem er ihre Brüste massiert. Ein anderer Mann weist auf ihn und erklärt: Das ist übrigens unser Schuldirektor.
Obwohl ich am Morgen schon mit Zöllnern gesoffen habe, äußere ich Zweifel. Wieso, entgegnet der Mann, es sind doch Ferien, er ist auch ein Mensch!
In Russland wäre eine solche Szene wohl ein Skandal. In der Ukraine aber kann man erleben, wie schön das Leben ist, wenn die Sitten verwahrlosen und der Staat sich moralisch so stark diskreditiert hat, dass ihn nur ganz Verblendete ernst nehmen.
Christoph D. Brumme
Mehr Erlebnisse und Eindrücke aus der Ukraine und Russland finden sich in Christoph D. Brummes Buch Auf einem blauen Elefanten im Dittrich-Verlag. Der Autor veröffentlicht auch regelmäßig auf seiner Website.