Georgische Lektionen für die Ukraine
Der Kontrast zwischen der eleganten Fassade des „Potjomkinschen Dorfes“ und ihrem Hinterhof ist viel zu groß. Ein oberflächlicher Beobachter kann sich damit vielleicht abfinden, die Einwohner des Dorfes aber nicht. Wie die georgischen Wähler beweisen.
Die georgische Opposition wurde von der Bevölkerung wirklich unterstützt. Saakaschwili ruinierten nicht seine unpopulären Reformen. Ihm brachen die Manipulation der Wirklichkeit und eine neue Denkweise das Genick.
Das ist das, was im Moment in der Ukraine passiert. Es ist augenscheinlich, dass es sich für die Kandidaten (die wirklichen und die fiktiven) lohnt, daraus für 2015 Konsequenzen zu ziehen. Für die ukrainische Gesellschaft ebenso. Die „Rosenrevolution“ ist ein Jahr älter, als die Orangene Revolution.
Mit Beginn des Jahres 2003 ist es zu einer Gewohnheit geworden, von dem „georgischen Wunder“ zu schwärmen. Es gehört buchstäblich zum guten Ton. „Sogar das kleine Georgien hat es hinbekommen, aber warum schaffen wir das nicht?“
Den Verdienst der georgischen Staatsmacht kann niemand kleinreden. In den Städten wird kein Licht, Gas und Wasser mehr ausgeschaltet; auf den Straßen wird nicht geschossen; man muss keine Angst mehr haben, abends spazieren zu gehen und – Oh Wunder! – man kann das Fahrzeug ohne Aufsicht stehen lassen. Die Polizei nimmt keine Bestechungsgelder mehr und spricht englisch. In Tiflis finden sich gläserne Paläste und Brücken und ein puppenhaftes altes Zentrum. Batumi konkurriert mit Sotschi. In Bergdörfern wurden Museen eröffnet, wo monatelang Picasso oder Monet ausgestellt wurden. Ganz zu schweigen von Pirosmani.
Doch auch das andere Georgien existierte die ganze Zeit, als ob es eine Parallelwelt wäre. In diesem „anderen“ Georgien kommen auf fünf Millionen Einwohner 25.000 Häftlinge (so die offiziellen Daten des Statistischen Amtes). Der Löwenanteil sind politische Gefangene. Über weiteren zehntausend schwebt das Damoklesschwert bereits: Sie dürfen ihren Aufenthaltsort nicht verlassen.
Die politische Konkurrenz fehlt. Eine echte Opposition ist schon seit langem ausgemerzt, ihre Aktionen sind unklar, die Führung diskreditiert. Die Rolle „Andersdenkender“ spielen die „Taschenprojekte“ der Staatsmacht, sie sponsoren sie sogar (die Christdemokraten und Labor). Diese präsentieren sie dem Westen (der möglicherweise Zweifel daran hat, dass bei uns Demokratie herrscht), sie senden nur kontrollierte Fernsehkanäle – unabhängige Massenmedien sind seit langem ausgerottet, zwei oppositionelle Kanäle überleben mit viel Mühe. Das Justizsystem ist unter der Kontrolle der zentralen Staatsmacht, die Institutionen der Zivilgesellschaft stagnieren. Die gesellschaftliche Führung, die Journalisten und Politologen haben sich schon daran gewöhnt, in ständiger Angst um Leben und Freiheit zu existieren. So wie nach den Vorfällen im Mai 2011, als buchstäblich öffentlich zur Jagd nach dem Sohn Nino Burdschanadses aufgerufen wurde, der dann Zuflucht im Haus des Patriarchen Ilia fand.
Die Präsidentschaft Saakaschwilius hat in diesem Land über die Jahre faktisch keine freien Massenmedien übrig gelassen. Seine eigene „virtuelle Realität“ erschuf Saakaschwili lange und penibel. Mehr noch – die Wahrheit führt logischerweise genau zu hierzu: Ein Wunder wie das in Georgien ist ohne Opfer und Kompromisse nicht möglich.
Wer, wenn nicht er, bestimmt die Maßnahmen von Kompromiss und der Wohltätigkeit? Für diese Aufrichtigkeit haben ihm viele verziehen. „Ja, es ist nicht einfach, aber er will das Beste. Und Alternativen gibt es nicht. Es ist peinlich, sich unserer Opposition anzuschließen“, erzählt uns der Tifliser Wadim, in dessen Haus in der georgischen Hauptstadt wir wohnen.
Darin – in der Durchführung fachmännischer PR-Kampagnen, kannte sich die derzeitige georgische Regierung – die „goldene Generation“ junger, gebildeter und ambitionierter Leute – immer aus. Mythen wurden sowohl für den Export, als auch für die den „einheimischen Gebrauch“ generiert. Ein Beispiel sind die schon genannten Stereotypen: „Es gibt keine Alternativen; die Opposition zu stärken ist zu peinlich.“
Saakaschwili hat die Meinung der reflektierten Minderheit, der städtischen Intelligenz ignoriert. So hat er die Hauptstadt verloren: Die Wahl in Tiflis ist einer der Hauptindikatoren der zurückliegenden Parlamentskampagne.
Aber auch die Sympathien der Wahlmehrheit konnte sich der junge Reformator nicht sichern. – die Reformen erwiesen sich als zu hart, und der soziale Gewinn war nichtssagend.
Sie geben mir Recht, dass hungrige Bauern sich nur schwerlich für gläserne Paläste in Tiflis und die „Bauvorhaben des Jahrhunderts“ begeistern können. Könnten sie sich vielleicht, aber nicht lange. Saakaschwili ist schon fast neun Jahre an der Macht – die Georgier haben ihn einfach satt.
Was entsteht stattdessen? Was wächst da heran, überdüngt mit chemischen Düngemitteln, aber ohne Sauerstoff und Sonnenlicht?
Es ist die Möchtegern-Opposition mit oligarchischen Wurzeln. Eine „leere Hülle“ mit Anführern, die keine Ahnung von nichts haben, die kein Programm haben, die ihre Kraft nur aus dem Überraschungseffekt heraus schöpft. Und die noblen Investitionen darf man auch nicht vergessen. Sogar ihre Benennung ist symbolisch: „Georgischer Traum“
Noch bis zu einem Monat vor den Wahlen gab es zwar große Treffen, aber das alles hat nicht ausgereicht, um eine eigene Mehrheit zu formieren. Und dann erschüttert doch tatsächlich zwei Wochen vor dem „Tag X“ (bis zu dem natürliche jeder Kampagne „nachgegangen“ wurde) ein Foltervideo aus dem Gefängnis das Land. Zur Vervielfältigung der Aufnahmen beigetragen haben wohl oppositionelle Kanäle. Zufall? Ich glaube kaum…
Die für den Westen positiven georgischen Reformen erwiesen sich als eine Bedrohung für den einfachen Bürger. Die Gesellschaft geht buchstäblich auf die Barrikaden. Wegen der übermäßigen Anzahl Gefangener, wegen der totalen Verletzung ihrer Rechte, wegen der Zerstörung der Bürgerrechte. Dass das alles so ist, wussten die Georgier natürlich. Aber dieser Film hatte den Effekt der Visualisierung. Das hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Es ist das eine, bestimmte Dinge zu wissen, aber etwas anderes, sie zu sehen.
Das Land unterbindet die Welle elementarer Protestaktionen. Saakaschwili leitet schnell Maßnahmen ein: Er feuert die verantwortlichen Beamten, öffnet die Gefängnisse für Journalisten und bittet die Menschenrechtler um Unterstützung.
Aber die Zeit rast. Am Montag den ersten Oktober wählten die Georgier, wie sie wählten. Das Resultat überraschte die Gesellschaft und die Opposition gleichermaßen. Niemand hat geglaubt, dass so etwas möglich ist. Und es ist noch unklarer, wie man jetzt damit umgehen soll. Die Tradition einer friedlichen Machtübergabe gibt es in Georgien nicht.
Letztlich schlagen Michail Saakaschwili seine eigenen Methoden. Eine virtuelle Realität hat die andere virtuelle Realität besiegt.
Die Oligarchen sind besiegt, das ist klar. Die Anforderungen der fehlenden, funktionstüchtigen Opposition und einer Zivilgesellschaft auf sich nehmen – das ist die Aufgabe der „Alternative“.
Nach der Veröffentlichung des Textes „Spürsinn, als Strategiefaktor“, beschuldigten mich viele der „Verherrlichung der Oligarchen“; nämlich, dass ich Öl ins Feuer gieße, wenn ich ihre oppositionelle Haltung gegenüber der Staatsmacht bemerke. Das, was in Georgien passiert, ist belegbar: Wenn in einem Land (aus welchen Gründen auch immer) die politische Konkurrenz vernichtet, die Bürger infantil, die Medien nicht frei und die Zivilgesellschaft einfach nicht existiert, dann übernimmt ihre Funktion jemand anderes. Einfach nur deswegen, weil die Funktionen so oder so erfüllt werden müssen. In der Ukraine und in Georgien erledigen das die Oligarchen.
Ob eine derartige Situation normal und gesund ist? Ganz offensichtlich nicht. Worin liegt die Gefahr? Die Ukraine hat nun die Möglichkeit, Georgien zu beobachten. Und daraus Schlüsse zu ziehen. Denn ihre Revolution ist genau ein Jahr älter als unsere.
5. Oktober 2012 // Sonja Koschkina
Quelle: Lewyj Bereg