„Das macht sich sehr einfach. Der Korb wird mit allerlei Kartoffeln und Mohrrüben gefüllt, darüber kommt ein halbes Laib Brot und ein Stück Speck, und das alles wird mit einer Zeitung überdeckt. Danach nimmt die Mutter dich an der Hand und bringt dich in die Verwaltung. Zu ihr zu gehen ist beängstigend, denn sie ist der Ort, an dem alles entschieden wird: das menschliche Leben, Essen, Arbeit, Tod – von dort wird man nach Deutschland geschickt oder in den Abgrund gestoßen.
Deutsche gibt es nicht. Hinter den Tischen sitzen Volksdeutsche oder „beflissene“ ukrainische Onkel mit Schnauzbärten in bestickten Hemden; die betrügst du nicht wie die Deutschen, die kennen ihr Volk. Sie alle schreiben Vorladungen, stellen Listen zusammen, und eine dicke, energische Frau mit männlichem Auftreten, geht auf und ab, gekleidet mit strengem, grauen Jackett und Rock, mit kaltem Blick und sagt mit unmissverständlicher Stimme:
„Wenn sie nicht arbeiten wollen, können wir sie an die Gestapo überstellen… Im Falle einer Nichterfüllung wird sich die Gestapo ihrer annehmen…““
Das ist eine Erinnerung des Schriftstellers Anatolij Kusnjetzow an den Alltag im besetzten Kiew. Versetzen wir uns in die Lage des Autors. Du bist nur dreizehn Jahre alt, du willst unbedingt leben und vor dir steht eine Wand aus drakonischen Befehlen und Verboten, eine Welt aus Grausamkeit, Kälte und Gleichgültigkeit.
Was tun? Wie die feindlichen Schranken überwinden? Die allgegenwärtige Korruption kommt zur Hilfe. Ein Korb mit Lebensmitteln, heran geschoben an das Bein des Beamtenstuhls, vollbringt Wunder: Eine fremde Hand findet deinen Namen in der einen Liste, streicht ihn durch und schreibt ihn in eine andere Liste.
Nichts anderes geschah in ganz Europa: Korruption bewahrte die Menschen vor Erschießung und Deportation, sicherte Nahrung und Arbeit, gab Hoffnung auf eine Befreiung. Der legendäre Film „Schindlers Liste“ ist nicht nur eine Ode an den Humanismus, sondern eine Hymne auf die befreiende Korruption. Eben jene Korruption, die man gemeinhin für das unzweifelhafte Böse und das Hauptproblem der Ukraine hält.
„Religion ist Opium für das Volk“, schrieb der bärtige gottlose Karl Marx. Aber diese bekannte Metapher drückt, besser als alles andere, das Wesentliche der Korruption aus. Wenn harte Gesetze, Instruktionen und Regeln unvereinbar sind mit dem physischen Überleben, wird eben die Korruption zum „Opium für das Volk“, zum „Herzen einer herzlosen Welt“, zum „Geist der geistlosen Ordnung“.
Je stärker die Entfremdung zwischen Mensch und staatlichem Mechanismus, desto mehr wird diese wunderträchtige Droge gebraucht. Aber, indem sie die gewünschte Erleichterung bringt, ruft sie Abhängigkeit hervor, versklavt die Bürger und zerstört den gesellschaftlichen Mechanismus.
Die Rolle der Korruption ist in unserem Leben kaum über zu bewerten. Aufgrund der historischen Umstände sind die Ukrainer gewöhnt, den Staat als fremde und feindliche Macht wahrzunehmen; Gesetze und Regeln als heimtückische Hindernisse auf dem Weg zum persönlichen Wohlergehen zu betrachten. Die allgegenwärtige Korruption erlaubt es, „Fragen zu entscheiden“ und befreit den Bürger von ermüdenden bürokratischen Prozeduren.
Sie verspricht dem Geschäftsmann leichte Bereicherung. Sie hilft dem Beamten, Milizionär, Lehrer und Mediziner den Spalt zwischen seinem sozialen Status und seinem unzureichend hohen Gehalt zu schließen. Sie befreit den Studenten vom Lernen, den Fahrer vom Fahrtenschreiber. Sie hilft den besorgten Eltern aus der Patsche, die ihrem nichtsnutzigen Sohn eine Chance geben möchten.
Die Korruption nivelliert sogar die absurdesten Kontraste zwischen gesetzgeberischer Basis und ukrainischer Realität. Zum Beispiel ist die Prostitution bei uns illegal, aber dieses Verbot verträgt sich ausgezeichnet mit der großen Popularität des ältesten Gewerbes der Welt.
Das Einberufungssystem hat sich in der Ukraine schon lange überlebt und eine professionelle Armee gibt es bis heute nicht. Die Korruption hat dieses Problem gelöst: Die Jugend, welche der militärischen Welt gleichgültig gegenübersteht, entgeht dankbar dem militärischen Drill…
Bürgeraktivisten beklagen häufig die Passivität und Verängstigung der Ukrainer, die sich nicht in den Kampf gegen die Korruption einschalten wollen. Aber leider liegt es nicht nur an der Apathie und der Angst des Volkes.
Die ukrainische Korruption ist kein fremdartiges Geschwür, das die Gesellschaft unbedingt ausbrennen möchte. Wir haben es mit einer Dienstleistung zu tun, die massenhaft nachgefragt wird. Die Möglichkeit eines Umgehens der unbequemen, uns einschränkenden, Regeln begeistert Millionen von Bürgern.
Unser Zorn ruft nicht soviel Korruption wie Korrupte hervor – Menschen, die von der Bereitstellung der gewünschten Dienstleistungen leben. Die ukrainische Gesellschaft tut es dem ländlichen Trinker gleich, der den kräftigen Wodka liebt, aber den reichen Schankwirt hasst, der Geld für seine Ware verlangt.
Wie jedes andere nachgefragte Produkt auch, unterliegt die Korruption den natürlichen Gesetzen des Marktes, und man sollte nicht auf eine schnelle Beseitigung dieses Übels mit gewaltsamen Methoden zählen.
Vor zwei Jahren träumten die naiven Bürger von einer starken Hand, die leicht Ordnung schafft und die verhassten Korrupten wegfegt. Im Februar 2010 bekamen wir die heiß begehrte starke Hand, aber unter Janukowitsch sind die Preise für die korrumpierten staatlichen Institutionen nur noch gestiegen.
Nun ja, daran ist nichts Verwunderliches. Das Führungschaos der Zeiten Juschtschenkos schuf eine Konkurrenz zwischen den korrupten Beamten. Die vereinigten „Donjetzker“ errichteten eine zentralisierte Vertikale der Macht und der Markt der korrumpierten Dienstleistungen wurde monopolisiert. Und jeder Monopolist erhöht die Preise – das ist unausweichlich.
Was kann man der allgegenwärtigen Korruption entgegenstellen? Schärfste Repressionen?
Nehmen wir an, dass morgen in der Ukraine ein Straforgan geschaffen würde, das außergewöhnliche Vollmachten hätte – bis hin zur Erschießung der überführten Korrupten ohne Gericht und Folgen.
Nicht ausgeschlossen, dass diese Struktur schon bald zur Hauptbrutstätte der Korruption würde. Man muss sich nur der berühmten Kommissare des Jakobiner Konvents erinnern, welche zur Herstellung von Ordnung in die Provinz abkommandiert wurden und feststellten, dass Zuckerbrot und Peitsche sich sehr positiv auf ihre materielle Lage auswirkten.
Möglich, dass eine unbarmherzige Lustration und der massenhafte Zufluss neuer Kader in die Regierungskabinette das Problem löst?
Es besteht die Gefahr, dass der gutmütige Mensch aus dem Volk, wenn er auf die Bankowaja kommt, genauso urteilen würde wie Viktor Andrejewitsch und Viktor Fjodorowitsch. Ja, Korruption ist schädlich und man muss sie beseitigen!
Der Kampf mit einer abstrakten Korruption ist eine Sache, aber reale, lebende, dir nahe stehende Leute sind eine ganz andere. Treue Genossen, teure Verwandte, hilfsbereite Landsleute, gute Freunde, dufte Kumpel… Kann man diese hervorragenden Leute etwa alleinlassen mit geistlosen Gesetzen und feindlichen Normen? Ist es etwa schwer, für sie eine Ausnahme zu machen?
Der Antagonismus zwischen Staatsmaschine und zwischenmenschlichen Beziehungen ist zu weit gekommen und führt die Antikorruptionsmaßnahmen ins Nichts. Das Traurige ist, das die moderne Ukraine ohne die totale Korruption, diesen Puffer zwischen kafkaesken Regeln und objektiver Wirklichkeit, einfach nicht leben kann.
Für den erfolgreichen Kampf gegen die Korruption muss ein neues gesellschaftliches Koordinatensystem geschaffen werden, die Rolle des Staates im bürgerlichen Leben überdacht, der Kreis der gegenseitigen Rechte und Pflichten überprüft und eine gesetzgeberische Basis zu den Realien des Lebens adaptiert werden.
Dieser Weg ist nicht leicht. Er erzeugt nicht wenige Streitmomente: Die Abschwächung des staatlichen Drucks ist verknüpft mit einer Verringerung der staatlichen Garantien, viele illegale Schemen sind aber leichter zu legalisieren, als zu beseitigen. Aber einen anderen Ausweg gibt es nicht.
Die Welt der Regeln muss sich unbedingt der Welt der Menschen annähern – nur dann gibt es eine Chance, die Korruption zu überwinden.
Leider beobachten wir heute einen diametral entgegengesetzten Prozess: Die ukrainische Staatsmaschinerie entfernt sich immer weiter vom realen Leben. Die fieberhaften Versuche des Ministerkabinetts, das Budget anzureichern, haben eine weitere Chimäre geboren – den ambitionierten Plan zum Kampf gegen Schattengehälter.
Die Folgen dieser Initiative sind nicht schwer vorauszusehen. Der rastlose Geschäftsmann sucht ein Schlupfloch zwischen Ruin und Strafe, dem angestellten Arbeiter drohen Entlassung und Armut, aber ein verständnisvoller, korrupter Beamter taucht auf und reicht seine helfende Hand.
Einige knisternde Blätter in seiner Hand lösen das unlösbare Problem. Die gemeine Erfindung des boshaften Staates ist neutralisiert und man kann erleichtert aufatmen…
So entsteht die Nachfrage für das Opium der Korruption, das unseren Schmerz lindert und unsere Zukunft zerstört.
8. April 2011 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrajinska Prawda
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