Gibt es Fremdenfeindlichkeit in der Ukraine?
Neulich kam gegen Mittag eine Freundin aufgeregt zu mir ins Büro und erzählte, dass eine Gruppe junger Leute auf dem hauptstädtischen Unabhängigkeitsplatz über einen dunkelhäutigen Mann hergefallen sei. Nachdem sie ihn zusammengeschlagen hätten, suchten die Jugendlichen eilig das Weite. Niemand wäre dem Ausländer zu Hilfe gekommen. Meine Freundin war voller Empörung und Mitgefühl, aber trotz allem überzeugt, dass es in der Ukraine keinen Rassismus gebe und lediglich sie unglücklicherweise Zeugin eines einzelnen solchen Ausbruchs von Gewalt bei ukrainischen Jugendlichen wurde.
Eine andere Journalistin erinnerte sich sofort eines Ausflugs zu den dunkelhäutigen Ladenbesitzern in die Schuljawka, kurz nachdem bei einem der dort periodisch auftretenden Feuer ihre gesamten Waren verbrannt waren. Sie unterhielten sich ruhig mit der Presse, sprachen ängstlich, nannten mit Furcht ihre Namen.
„Ich weiß nicht, woher das alles kommt. Wir machen keine solch schlechten Sachen. Das ukrainische Volk ist nicht sehr reich“, erzählte ein dunkelhäutiger Verkäufer. „Wir geben den ukrainischen Mädchen ohne Ausbildung und den Rentnern Arbeit, die sonst nicht mehr in der Lage wären, etwas zu finden. Und dann kommst du eines Tages hierher und siehst, dass die Ware hinüber ist. Aber du kannst nichts öffentlich sagen, weil sie dich sonst morgen „zufällig“ auf der Straße treffen…“
Also, wie aktuell sind Fragen des Rassismus und der Fremdenfeindlichkeit heute in der Ukraine?
Die Vertreter der Staatsmacht bekräftigen, dass es solche Strömungen wie Fremdenhass, Neofaschismus und Antisemitismus in der Ukraine nicht gebe. Gleichzeitig bestätigt die überwältigende Mehrheit der Experten und Soziologen das Vorhandensein eines solchen Problems, konstatiert der Abgeordnete und Präsident der Assoziation der nationalkulturellen Gesellschaften der Ukraine Alexander Feldman während der kürzlich abgehaltenen, öffentlichen Diskussion „Wachsende Fremdenfeindlichkeit in der Ukraine: Zugeben, leugnen oder verschweigen?“ Auf der einen Seite kann man dem kommunistischen Regime die Schuld geben, das die Augen vor dem offenen Verkauf faschistischer, antisemitischer Symbolik und fremdfeindlicher Literatur verschloss und keine strenge Reaktion auf die Versuche einer Rehabilitation der faschistischen Helfershelfer und Kollaboranten zeigte.
Nach den Resultaten der sozialen Studie „Der Grad der nationalen Distanziertheit bei den Bürgern der Ukraine“ des soziologischen Instituts NAN (letzte Erhebung April 2008), welche die höhere wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Ethnologie des ukrainischen Instituts für politische und nationalethnologische Studien Jelena Kriwitzkaja veröffentlichte, bezeichnen nur 12% der Befragten die heutige Situation in der Ukraine als ruhig. Über 60% hingegen als angespannt und sogar konfliktreich.
„Die engsten und intensivsten Kontakte wurden bei den Befragten in den Verhältnissen zu Ukrainern, Russen, Weißrussen und Juden festgestellt, das heißt zu jenen, mit denen man historische Erfahrung im öffentlichen Zusammenleben hat“, sagt Kriwitzkaja. „Was die Bürger anderer ostslawischer Völker betrifft, so ist hier ein spezifisches „osteuropäisches Absonderungsgefühl“ zu beobachten. Moldawier und Krimtataren gehören nicht in den engeren Kreis, werden aber im Ganzen als Teil der multiethnischen, ukrainischen Bevölkerung wahrgenommen. Vertreter der afrikanischen bzw. asiatischen Länder werden hingegen gar nicht als dauerhafte Bewohner der Ukraine betrachtet. Mehr als 30% der Befragten glaubt sogar, dass es Kaukasiern, Zigeunern und Afghanen überhaupt nicht möglich sein sollte, in die Ukraine einzureisen.“
Grund für die Intoleranz gegenüber Ausländern ist immer wieder die ukrainische Visapolitik. Die bekannte überregionale Akademie für Führungspersonal (MAUP) publizierte vor einigen Jahren aktiv antisemitische Artikel und gab Bücher heraus, in denen die Judenverfolgung durch Faschisten in der Ukraine geleugnet wurde. Studenten des Kiewer Polytechnischen Instituts, in dem auch viele Ausländer studieren, führten 2006 auf dem Campus der Universität einen ausländerfeindlichen Marsch mit Losungen wie „Geht nach Hause Immigranten“, „Die besten Wohnheime den ukrainischen Studenten“ oder „Vergiss nicht, wer hier der Herr ist, Ausländer – der Ukrainer!“ durch.
„Ihr habt keine sehr loyale Gesellschaft“, erzählt der Türkischlehrer Timur. „Wenn du von Freunden in eine Gesellschaft von Ukrainern gebracht wirst, so nimmt man dich freundlich auf. Gehst du aber einfach auf der Straße, so wird das Verhalten deiner Umgebung eher negativ sein. Ich selbst habe ein relativ „internationales Aussehen“, weswegen ich noch nie unter rassistischen Anfeindungen gelitten habe. Aber ich lebe in einer Wohnung mit einem Afrikaner zusammen, den sie auf der Straße nicht nur einmal geschlagen haben. Am Anfang fragen sie meist nach Feuer und sobald er es aus der Tasche holt, schlagen sie zu. Im letzten Jahr haben Skinheads einige Aktionen in Kiew durchgeführt, von denen eine am Geburtstag Hitlers stattfand. Während solcher Aktionen bemühen wir uns, das Haus überhaupt nicht zu verlassen.“
Skinheads – glatzköpfige, radikale Nationalisten – gibt es auch in der Ukraine. Das gesteht auch Innenminister Juri Luzenko ein. Nach seinen Angaben operierten solche Gruppierungen 2008 in sechs Regionen der Ukraine: Kiew, Dnjepropetrowsk, Zaporozhie, Lwow, Tschernigow und auf der Krim. Im Ganzen zählt die Miliz im Land ungefähr 500 Skinheads im Alter von 14 bis 27 Jahren. Sie zeigen eine besonders gesteigerte Aggression im Verhältnis zu Ausländern in der Ukraine.
Im Frühjahr bereitete eine Charkower Bürgerrechtsgruppe eine Studie zum Thema „Rassismus und Xenophobie in der Ukraine – Eine Betrachtung von Fällen von Rassismus und Fremdenhass in der Autonomen Republik Krim, der Sloboda-Ukraine und Galizien in 2008 und zu Beginn des Jahres 2009“ vor. Hier wird insbesondere ein Anstieg der Aktivität informeller Jugendgruppen festgestellt, die Gewaltakte aufgrund von Fremden- und Rassenhass begehen.
„Das sind Leute, die auf entschiedene Art agieren wollen. Ihrer Auffassung nach verteidigen sie das Land gegen die Übermacht der Ausländer“, sagt der Experte des Charkower Instituts für Sozialforschung, Denis Kobsin. Nach seinen Worten gebe es in verschiedenen Städten Rayons, wo es Mode sei, Skin- oder Bonehead zu sein und in entsprechendem Maße an Aktionen der Intoleranz teilzunehmen; angefangen bei der Beleidigung von Menschen unslawischen Aussehens und endend bei Körperverletzungen und Mord.
Am häufigsten richtet sich die Gewalt gegen ausländische Studenten, Flüchtlinge und Immigranten, Geschäftsmänner und Touristen. Opfer von Angriffen wurden des Weiteren einige Mitarbeiter von Botschaften und der Vertretung der Vereinten Nationen und ihre Familien.
Als aktivste und aggressivste Gruppen stufen Experten Mitglieder der ultrarechten Bewegung „White Power – Skinhead Spektrum“ – ukrainischer Zweig des weltweiten, extremistischen Netzwerks „Blood and Honour“ – und die paramilitärische, neonazistische Sekte „World Church of the Creator Ruthenia“ ein. Beide vereint eine Ideologie des Rassismus und Nationalismus, welche auf einem Prinzip der Überlegenheit gegenüber anderen Rassen und Nationalitäten beruht.
„Wenn man bei uns Immigranten oder orthodoxe Juden schlägt, so wird dies nicht als Verbrechen mit nationalistischem Hintergrund, sondern als leichtes Rowdytum betrachtet“, empört sich Vadim Kolesnitschenko. „In zwei Jahren konnten wir beim Innenministerium kein einziges Dokument finden, das eine solche, bis zum Ende nachgewiesene Straftat mit nationalistischem Hintergrund bestätigt hätte. So etwas ist unangenehm und deshalb unerwünscht. Gleichzeitig hat die internationale Bürgerrechtsbewegung beinahe täglich Alarm geschlagen und dem Staat nahe gelegt, seine Minderheitenpolitik zu überarbeiten. Wirkliche Veränderungen sind allerdings bis heute ausgeblieben.“
Andrej Schkil vom „Block Julia Timoschenko“ glaubt, dass Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus vorwiegend die patriotische Entwicklung der Ukraine stören.
„Es ist eine Sache, sein Land und seine Mutter zu lieben, aber eine andere, die Übrigen zu hassen. Denn die, die hassen, stören jene, die lieben.“
„Ein Staat sollte genauso eine Minderheitenpolitik wie eine Sozialpolitik haben. Während sich letztere mit dem Glätten von sozialen Problemen beschäftigt, sollte erstere das Auftauchen von Fremdenhass, Antisemitismus und Neofaschismus bekämpfen. Es gibt bei uns dafür keine konkret festgeschriebenen Gesetze“, stellt Feldman fest.
Folglich sprechen die Fakten für sich selbst – in der Ukraine existiert das Problem der Fremdenfeindlichkeit. Aber das bedeutet nicht, dass es bedrohlich wäre oder Massencharakter trüge. Die Angst vor dem Fremden und Unbekannten liegt in der menschlichen Natur, solange sie sich nicht in aggressiver Form äußert.
In der modernen Ukraine geht der Fremdenhass einher mit schwierigen politischen Verhältnissen und einer Presse, die im täglichen Informationskrieg das Bild des „Feindes“ immer schärfer umreißt. Dieses Feindbild wird auch zum politischen Instrument, besonders am Vorabend des Wahlkampfes. Nach den Worten der Politiker selbst, sei es jedoch nicht angebracht, den Kopf in den Sand zu stecken und so zu tun, als ob die Probleme nicht existent wären, sondern sich zu bemühen, diese zu lösen, bevor sie bedrohliche Ausmaße annähmen.
Anna Jaschenko
Quelle: UNIAN