Der „große Bruder“ und seine tödliche Liebe


Die Prozesse, die heutzutage in der Ukraine ablaufen, lassen sich nicht als reiner Zufall bezeichnen. Sie zeugen von einer durchdachten nachhaltigen Politik. Das System kommt langsam in Gang, die Ideologiemaschine beginnt zu funktionieren. Die Ukraine gerät langsam in eine Falle, es bleibt nur fraglich, ob sie noch die Kraft haben wird, ihr zu entrinnen.

Wie der heutigen Realität der Ukraine zu entnehmen ist, führt der neue politische Kurs von Janukowytsch und seinem Team nicht zur Schaffung eines demokratischen Staates, sondern zur Schaffung eines postsowjetischen Systems, das als Staat bezeichnet wird. Darum ist es nicht zufällig, dass die Kultur-, Religions- und Sprachfrage im Mittelpunkt – dabei jedoch nicht immer explizit – der Politik des neuen Präsidenten stehen. Die Kultur und Sprache sind Identitätsmerkmale jedes Volkes. Wenn das Volk sie verliert oder wenn die Identitätsmerkmale sehr schwach ausgeprägt sind, dann fällt es viel leichter, sie mit den Identitätsmerkmalen seines „großen Bruders“ gleichzustellen und als Ergebnis: das Volk ist nicht mehr Volk, sondern nur ein Schatten vom „großen“.

Die Nivellierungspolitik lässt sich nur dann umsetzen, wenn das Volk kein starkes Identitätsgerüst hat und zudem von wirtschaftlichen Problemen überdeckt wird. Familien, die weniger als 200 Euro pro Monat verdienen, die in einer Ein-Zimmer-Wohnung zu viert oder zu fünft wohnen, werden sich nicht besonders für die Kulturpolitik interessieren, sondern sie sind von einem Gedanken gefesselt: Wie kann man überleben? Unter solchen Umständen spielen Kulturwerte eine nebensächliche Rolle, was auch nachvollziehbar ist.

Die Sprache spielt bei der Umsetzung dieser Politik eine große Rolle, da die Sprache nicht nur als ein Kommunikationsmittel dient, sondern auch als ein effizientes Instrument zur Beeinflussung und Manipulation verwendet wird. Die Manipulationsbegriffe sind auf bestimmte Gruppen zielgerichtet, bei denen konkrete Konzepte aktiviert werden und dadurch wird ein kollektives Denken geschaffen, das auch ein Teil der großen Strategie ist. Davon zeugt sehr oft der von der russischen Regierung verwendete Ausdruck „die Ukraine ist unser Brudervolk“, der schon zu einem alltäglichen Terminus geworden ist. Ob die Politik des „großen Bruders“ diesem Begriff entspricht, bleibt fraglich. Es ist auch eine gewisse Diskrepanz zwischen dem Gesagten und dem Handeln von der russischen Regierung zu spüren, wie z. B. der Gaskonflikt des Jahreswechsels 2008/2009, der sich nicht als eine „brüderliche Umarmung“ bezeichnen lässt. Die Verlängerung des Schwarzmeerflotten-Vertrages wie auch die kürzliche Erklärung des Premierministers der Russischen Föderation Wladimir Putin: „Wir hätten den Weltkrieg auch ohne die Ukraine gewonnen, weil wir das Land der Sieger sind“ entspricht auch nicht gerade „brüderlichen Beziehungen“, sondern ähnelt sehr der Politik eines Eroberers. Vor Kurzem wurde in Russland die ukrainische National-Kulturelle Autonomie aufgelöst. Der „große Bruder“ wie auch die ukrainische Botschaft in der Russischen Föderationen scheinen nicht besorgt darüber zu sein. Sie, die Regierungen, scheinen in brüderlichen Beziehungen zu stehen und nicht die Völker.

Zu der großen Strategie gehört auch die Art und Weise, wie die Vergangenheit aufgearbeitet wird. Die Bücher für Schüler über die Geschichte der Ukraine gelten nicht mehr als richtig und wurden umgeschrieben. Eine ukrainisch-russische Kommission von Historikern wurde ins Leben gerufen. Unter den gemeinsamen Bildungsprojekten ist die Vorbereitung von Lehrbüchern für die Naturwissenschaften ebenfalls die Ausarbeitung eines methodischen Handbuchs für die Geschichtslehrer beider Länder. Ein großes Interesse zeigt die neue Regierung für die Geschichte und der „große Bruder“ unterstützt sie dabei. Ein misstrauisches Gefühl weckt allein diese Tatsache: die Russische Föderation zählt nicht zu den Ländern, die ihre Geschichte objektiv darstellen. Davon zeugt das Lehrbuch „Die Geschichte Russlands 1917–2009“, in dem Stalin als Held geschildert wurde. Auf eine solche Art und Weise die Vergangenheit zu bewältigen, zeugt nicht von Demokratie. Demokratisch ist, öffentlich die Ereignisse zu analysieren und darüber zu diskutieren, wie es z. B. in Deutschland abläuft, und nicht die Informationen über Sowjet- und Stalinära unter Verschluss zu halten. Richard von Weizsäcker hat in seiner Ansprache in der Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages am 8. Mai 1985 folgendes gesagt: „Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie lässt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“ Die Politik des „großen Bruders“ und der Regierung von Janukowytsch steht im Gegensatz zu diesen Worten. Während die NSDAP-Mitglieder für ihre Verbrechen vor Gericht standen, wurden die Kommunisten im postsowjetischen Raum nie für ihr Verbrechen verurteilt. Stattdessen erzeugt man das Bild des „guten Stalins“ und glorifiziert das sowjetische „brüderliche“ Dasein.

Bei dieser nachhaltigen Nivellierungspolitik ist die Zeit das wichtigste strategische Mittel. Die Zeitzeugen der Stalinära, die werden nicht ewig leben. „Abwarten, dann basteln wir unsere gemeinsame ‘brüderliche’ Vergangenheit und unsere ‘brüderliche’ Zukunft“ ist das Motto des scheindemokratischen Kurses. Um sich beim Abwarten nicht so zu langweiligen und ein gutes Fundament für eine gemeinsame Zukunft zu schaffen, bringen Vertreter der Partei der Regionen verschiedenste Gesetzentwürfe, die die russische Sprache sowie auch die russische Kultur fördern. Damit darf bereits nicht mehr nur die Werchowna-Rada über den Anwendungsbereich der russischen Sprache entscheiden, sondern auch die regionalen Regierungen, die beindruckenderweise die Möglichkeit ernst wie nie zuvor wahrgenommen haben. Nacheinander, wie es einem System obliegt, entstehen neue Gesetzentwürfe, darunter der Gesetzentwurf „Über die Sprachen in der Ukraine“, der vom Vertreter der Partei der Regionen, Olexander Jefremow, dem Kommunisten Petro Symonenko und dem Vertreter des „Blocks Lytwyn“ Serhij Hrynewezkyj dem Parlament vorgelegt wurde. Im Dezember dieses Jahres hat auch der Bürgermeister von Odessa Kostussew vorgeschlagen, Russisch als Sitzungssprache zu verwenden, was von den Abgeordneten auch einstimmig angenommen wurde. Die ukrainische Sprache im Fernsehen, Radio und in der Werbung verliert auch ihre Position. Nach dem Wahlsieg von Janukowytsch verabschiedete der Nationalrat für Rundfunk und Fernsehen eine Norm für die Quote von ukrainischsprachigen Sendungen, deren Prozentsatz damit von 100 auf 75 gesunken ist. Die russischsprachigen Texte auf Werbetafeln werden nicht ins Ukrainische übersetzt. Apropos, im „Bruderland“ Russland beträgt der Anteil der ukrainischen Sprache im Rundfunk weniger als 0,1%.

Zu der großen Strategie gehört auch die Religion, da sie mit sich einen wichtigen Bestandteil der ukrainischen Kultur und damit einen enormen Bereich darstellt, wo eine Manipulation möglich ist. Die neue Regierung hat bereits bei der Amtseinführung von Präsident Janukowytsch gezeigt, dass der Moskauer Patriarchat in der Ukraine ab heute besonders herzlich willkommen ist. Zu der Amtseinführung wurde nur der russische Patriarch Kyrill eingeladen, der den neuen Präsidenten vor dem Amtsantritt segnete. Vor Kurzem wurde auch ein Projekt für den Bau der höchsten orthodoxen Kathedrale in Europa beschlossen, die dem Moskau Patriarchat gehören wird. 11 Millionen Hrywnia (mehr als 1 Mio. Euro) stehen bereits zur Verfügung. Präsident Janukowytsch hat einen Erlass über den Bau noch einer Kathedrale, die auch dem Moskauer Patriarchat angehören wird, unterzeichnet. Die Kirche wird auf dem Fundament der ersten Steinkirche der Kiewer Rus, der Mariä-Entschlafens-Kirche, wo bereits Ausgrabungen stattfinden, gebaut. Die Kirchen in Potschajiw, im größten Wallfahrts- und Klosterort der Ukraine, gehören auch dem Moskauer Patriarchat an. Wer schon in Potschajiw war, der kann sich bestimmt an die Beichte erinnern. Die üblichen Fragen der Priester beschränken sich nicht nur auf die Fragen über Moral, Lebensweise, sondern auch auf die Fragen über die Konfession. Auf der offiziellen Seite der Potschajiwer-Lawra sind Regeln aufgelistet, die man befolgen soll, um das Abendmahl empfangen zu dürfen. „Wer das Abendmahl nicht empfangen darf: Das Heilige Abendmahl dürfen diejenigen nicht empfangen, die ihrem Nächsten gegenüber feindlich gesinnt sind; nicht getauft sind; die nicht ständig das Kruzifix tragen; die vorher nicht am abendlichen Heiligen Gottesdienst teilgenommen und keine Beichte abgelegt haben (…) Auch Nichtorthodoxe, welche die Diözesen der nichtkanonischen kirchlichen Abspaltungen (der Griechisch-Katholischen Kirche, der Ukrainischen Autokephalen Kirche, der Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchats) besuchen. Solche Menschen müssen Buße tun, weil sie sich bewusst oder unbewusst in der Abspaltung befanden und dadurch die Gotteslehre über die Heilige Allgemeine Apostolische Kirche und die Bestimmungen der Ökumenischen Konzile herabwürdigt haben.“ Und zu der Liste der verbreiteten Sünden gehört auch, wenn „der Beichtende an einem gemeinsamen Gebet (mit Abspaltern) teilgenommen oder sich der Abspaltung angeschlossen hat (dem Kiewer Patriarchat, der Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche, einer abergläubischen Religion (…)“. Alle, die dem Moskau Patriarchat nicht angehören, sind des Bösen und wenn sie ihre Seele retten möchten, dann sollen sie sich sofort der Diözese des Patriarchats des „großen Bruders“ anschließen. Wird der Alltag der neuen Kathedralen dem Alltag in Potschajiw ähnlich? Für diejenigen Ukrainer, die dem Kiewer Patriarchat oder der Unabhängigen Kirche angehören, sind diese verabschiedeten Projekte nichts anderes als eine Missachtung.

Die einzelnen Bestandteile des Systems stehen bereits fest. Die große Strategie zeichnet sich durch das durchdachte Herangehen ab. Eine Frage bleibt nur offen: kann die Ukraine der Falle noch entrinnen?

Autorin:   Ljudmyla Melnyk  — Wörter: 1435

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