Held ohne Schengenvisum


Der Schatten einer tragischen Vergangenheit lastet wie bisher auf der Ukraine. In jedem Falle hat das Versprechen Präsident Janukowitschs, die Aufsehen erregenden Verordnungen zu Bandera und Schuchewitsch zu überprüfen, die ukrainische Gesellschaft nicht weniger erregt, als die zweifelhaften Machenschaften in der Koalition oder die lauten Kaderentscheidungen.

Sich den ehrenvollen Titel des Anführers der Organisation der ukrainischen Nationalisten (OUN) aneignend, schlug Viktor Juschtschenko einen weiteren Keil zwischen Westen und Osten. Aber wahrscheinlich wollte Viktor Janukowitsch die skandalöse Entscheidung auf diese Art annullieren, damit jene Kluft noch tiefer wird. Die Moskauer Erklärungen des neuen Präsidenten kann man nicht anders als gedankenlos und provokativ bezeichnen.

Öffentlich mit Medwedjew liebäugelnd gab Janukowitsch zu verstehen: Man wird die Heldenbezeichnung Banderas zurücknehmen, um Moskau zufrieden zu stellen. Aber warum war es nötig, als Frist den 9. Mai zu nennen?

Heraus kam eine unzweifelhafte Botschaft: Man bringt die Stützen der nationalistischen Mythologie dem sowjetischen Geschichtsmythos zum Opfer. Viktor Fjodorowitsch tut alles Mögliche, um die westliche Ukraine maximal zu verärgern und zu verletzen. Und das ist neues Wasser auf die Mühlen der zwischenregionalen Feindschaft.

Es ist klar, dass man verhängnisvolle Entscheidungen nicht auf diese Art zurücknehmen darf. Ob ein Zurückrudern überhaupt erforderlich ist, ist schon eine andere Frage. Die Heroisierung der OUN-Führung wirft eine Reihe von vollkommen gerechtfertigten Fragen auf. Die Initiative Juschtschenkos passt sicherlich nicht in das demokratische Image einer Ukraine, welche die europäischen Werte zu teilen vorgibt.

Vor kurzem noch begeisterten sich die ukrainischen Nationaldemokraten über eine Resolution der OSZE, welche den Nazismus mit dem Stalinismus gleichsetzt. Aber hätte das Europäische Parlament sich wirklich missbilligend über Bandera äußern sollen, es als progressive Gesellschaft den russischen Hurra-Patrioten gleichtun und damit beginnen, die bösartigen Ränkespiele in der EU aufzudecken?

Wir konnten uns wieder einmal überzeugen, dass „europäische Werte“ für den politisch aktiven Ukrainer das sind, was ihm selbst in einem bestimmten Moment von Nutzen ist. Sobald seine Interessen und Geschmäcker von den Gebräuchen des alten Europas abweichen, beginnt eine wundersame Metamorphose: Aus dem autoritären Guru „Europa“ wird eine Ansammlung feindlicher Elemente und dunkler Ignoranten, die sich in fremde Angelegenheiten mischt.

Davon abgesehen, ist die negative Reaktion Europas völlig natürlich und dabei geht es nicht nur um die beleidigten Polen. Die Ideen und Methoden Stepan Banderas lassen sich schlecht mit den demokratischen und humanitären Prinzipien vereinbaren, auf denen sich die europäische Gemeinschaft gründet.

Zweifelsohne steht die OUN für den hingebungsvollen Kampf für eine unabhängige Ukraine. Aber leider auch für blutigen Terror, Totalitarismus, die Bereitschaft, am Aufbau eines nazistischen „Neuen Europas“ teilzunehmen und die moralische und politische Verantwortung für ethnische Säuberungen in Wolhynien.

Niemand verbietet den Einwohnern von Iwano-Frankiwsk oder Lwiw, Bandera und Schuchewitsch für Helden zu halten, so wie auch niemand die Pensionäre aus Donezk und Lugansk daran hindert, ihre Bewunderung für Stalin zu äußern. Aber durch offizielle Ehrerbietungen für zweideutige Führer solidarisiert sich ein Staat mit deren Ideologie und Praxis.

Das versteht man in Kroatien, wo man von einer Heroisierung des Führers Ante Pavelic Abstand nimmt. Denn Pavelic wird nicht nur mit dem Kampf für die kroatische Unabhängigkeit, sondern auch mit dem Genozid an der serbischen Bevölkerung, den Gräueltaten der Ustascha und dem Konzentrationslager Jasenovac assoziiert.

Das versteht man in Slowakei, wo man eine offizielle Würdigung Jozef Tisos ablehnt. Denn Tiso war nicht nur der erste Präsident der unabhängigen Slowakei und ein leidenschaftlicher Kämpfer gegen den Kommunismus, sondern auch ein Mensch, der für die Annahme rassistischer Gesetze und die Deportation von 50.000 slowakischen Juden verantwortlich war.

Das versteht man auch in Rumänien, wo Versuche einer Rehabilitierung Antonescus unterbunden werden, obwohl ihn viele Rumänen für einen Nationalhelden halten. Staatliche Ehren spricht man auch dem Führer der faschistischen „Eisernen Garde“, Horia Sima, nicht zu, der im deutschen Konzentrationslager gesessen hatte und von den Nationalsozialisten 1944 wohlbehalten befreit wurde, weil es die politische Zweckmäßigkeit erforderte.
Klingt irgendwie bekannt oder?

Wenn die Ukraine nach Europa will, so sollte sie die europäischen Spielregeln einhalten, darunter das Primat über Ziele und allgemeine Wertigkeiten, besonders die nationalen.

Sie sind dagegen? Dann gibt es noch den russischen Weg: In der RF triumphiert der Chauvinismus sicher über Humanität, die Meinung der internationalen Gemeinschaft interessiert niemanden und am 9. Mai wird man sich in Moskau mit Portraits des Führers schmücken, der den Krieg gewonnen und Millionen von Menschen umgebracht hat.

Aber wenn wir in die Fußstapfen unseres östlichen Nachbars treten, sollten wir nicht von der „europäischen Wahl der Ukraine“ schwadronieren.

Ist außerdem die Dissonanz zu liberalen Werten das einzige Problem, das die skandalträchtige Entscheidung Juschtschenkos hervorgerufen hat? Mitnichten!
Die Heroisierung des Anführers der OUN hat ohnehin die krankhafte Spaltung der Ukraine verstärkt. Das erkennt man zähneknirschend auch im nationaldemokratischen Lager an.

Nicht zufällig haben viele Weggefährten Timoschenkos die Auszeichnung Banderas als vorsätzliche Provokation aufgefasst. Es heißt, der pathologische Julia-phob Juschtschenko hätte den Südosten absichtlich zur Weißglut getrieben, um die Wähler Janukowitschs zu mobilisieren und die verhasste Dame mit dem Haarkranz zu stören.

Es ist, ehrlich gesagt, schwer zu glauben, dass Viktor Andrejewitsch zu solch hinterlistigen Methoden fähig wäre. Aber dessen ungeachtet, erwies sich das Resultat als vollkommen gesetzmäßig: Die Feindschaft zwischen Ost und West hat sich nur noch verschärft. Und die Kanonisierung Schuchewitschs wurde 2007 zu nicht weniger als einem Rundumschlag gegen das nationale Selbstverständnis.

Es gibt noch einen zweiten, nicht weniger wichtigen, Aspekt: den juristischen. Es gibt bei uns ein unzweifelhaftes Gesetz über die „Staatlichen Auszeichnungen der Ukraine“. Auch wenn wir keine Meinung zu Stepan Andrejewitsch oder Roman Jussifowitsch hätten, sie waren keine ukrainischen Staatsbürger und können so auch nicht den Titel des Helden der Ukraine tragen. Aus Sicht des formellen Rechts, unterscheidet sich die Auszeichnung der verstorbenen OUN-Führer nur unwesentlich vom ungesetzlichen Zusammenzimmern einer Koalition in der Werchowna Rada.

Und so sind die Erlässe Juschtschenkos nicht vollkommen ethisch, widersprechen der ukrainischen Gesetzgebung und spalten das Land. Aber dies sind nicht die Gründe für Janukowitschs Initiative. Viktor Fjodorowitsch ist in Aufregung geraten, weil Moskau, Warschau und Brüssel ihren Protest geäußert haben.

Wir leben in einem Land, wo man die Meinung von Millionen von Bürgern seelenruhig ignorieren kann, wo Gesetze leere Worthülsen sind und wo Macht nur durch Druck von außen gilt. Und das deprimiert am meisten.

In unserem Falle bedeutet der Unwillen des nachbarlichen Präsidenten Medwedew weit mehr als nationales Einverständnis, humanitäre Werte oder die Erfüllung rechtlicher Normen…

Möglicherweise lösen die Vorwürfe des Europäischen Parlaments nicht solche Trennungen aus wie die Ultimaten aus Moskau. In der EU geht die ablehnende Haltung gegenüber Bandera nicht mit einer Heiligsprechung Stalins einher. Aber ein bitterer Beigeschmack bleibt trotzdem.

Wie lange werden wir noch in der Rolle der zurückgebliebenen Eingeborenen auftreten, die der gutmütige Missionar fortwährend auf den wahrhaften Weg bringen muss? Das ist keine wirkliche Europäisierung, sondern nur ihre Simulierung.
Man kann den Wilden dazu bringen, mit Messer und Gabel zu essen, kann ihm die Encyclopedia Britannica und eine Zahnbürste schenken, aber dadurch wird er nicht zum zivilisierten Menschen. Von der missionarischen Aufsicht befreit, beginnt der Eingeborene wieder, mit den Händen zu essen, die gewichtigen Bände wandern ins Feuer und die Zahnbürste wird schließlich vergessen. Denn der einfältige Wilde versteht nicht, wozu er persönliche Hygiene braucht und welchen Wert eine Enzyklopädie hat.

Den ukrainischen, politischen Aborigines sind europäische Normen und Prinzipien unverständlich. Sie scheinen als wertlose Launen des ausländischen Onkels, den man zwingend umschmeicheln muss, weil er reich und einflussreich ist und uns Visafreiheit verspricht.

Warum sind die Ukrainer nicht fähig, mit den Aufsehen erregenden Erlässen Juschtschenkos fertig zu werden?

Es ist doch nicht so schwer, zu erkennen, dass die berüchtigte Toleranz keine leere Phrase der EU ist, sondern die unumgängliche Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben in so einem gegensätzlichen Land wie der Ukraine:
Es kann nicht so schwierig sein, den engstirnigen Fanatismus zugunsten vernünftiger Kompromisse zu vergessen.

Für das ukrainische Volk ist das die einzige Chance, zu Europäern ohne ironische Gänsefüßchen zu werden. Und dann würde die Frage einer Heroisierung Banderas sich von selbst entscheiden.

10.03.2010 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Stefan Mahnke  — Wörter: 1310

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