Hybride Repressionen: Wie die Krimtataren auf der Halbinsel Krim verfolgt werden


Anfang Oktober appellierte die Beobachtermission der UN für Menschenrechte in der Ukraine an Russland, den Beschluss des Internationalen Gerichtshofs zur Krim zu erfüllen, darunter den Verzicht auf „die Beibehaltung oder Einführung von Einschränkungen in Bezug auf die Krimtataren“. Wie man heute auf der okkupierten Krim auf Beschränkungen der Rechte der Krimtataren „verzichtet“, berichtet LB.ua in diesem Artikel.

Es geht dabei nicht nur um das Verbot der Vertretungsorgane der Krimtataren und um die Fake-Strukturen, die „analog“ zum Medschlis geschaffen wurden, sondern auch um gröbere Methoden der Unterdrückung – Strafverfolgung, Durchsuchungen, Bedrohung und eine allgemein feindselige Stimmung, die sich nach dem Rückkehr-Prozess der Krimtataren aus den Deportationsorten in den 90er Jahren gerade erst gelegt hatte. Die Repressionswalze im Umgang mit der angestammten Bevölkerung rollt heute in drei Richtungen: der Streit um die Ausübung der religiösen Bräuche der Muslime, die Jagd auf die Mitglieder des Bataillon „Asker“, sowie die inoffiziellen Methoden der Druckausübung auf Aktivisten, in diesem Fall des Medschlis.

Gegen die „Bärtigen“

Ende letzter Woche wurden die Mitglieder einer Moschee bei Simferopol nach dem Freitagsgebet von Leuten in Sturmhauben mit Maschinengewehren empfangen, ermutigt von den Gewehrläufen gepanzerter Fahrzeuge des Typs „Tiger“. Der Grund der Überprüfung: Das Muftiat der Krim hat für diese Moschee keine Gemeinde registriert, keinen Imam ernannt und besitzt keine Aufstellung des Charakters der Predigten, die dort gelesen werden.

Zu behaupten, dass solches Geschehen den Rahmen des Krim-Alltags deutlich übersteigt, wäre übertrieben. Durchsuchungen von Moscheen, und dann auch von Häusern gläubiger Muslime auf der Krim begannen fast direkt nach der Okkupation der Halbinsel und werden mit schöner Regelmäßigkeit in verschiedenen Regionen der Krim durchgeführt. Es ist traurig, aber die Interessen der russischen Streitkräfte fielen hier mit den Interessen des Muftis der Krim Emirali Ablajew zusammen, der allen religiösen Gemeinden, die nicht mit ihm zusammenarbeiten wollen, einen buchstäblichen „Dschihad“ ankündigte.

Und von diesen Gemeinden gab es nicht wenige. Im ukrainischen Rechtsraum gab es keine Verbote für religiöse Sekten wie „Tablighi Jamaat“, religiös-politische Bewegungen wie „Hizb-ut Tahrir“ und andere Bewegungen, die im russischen Rechtsraum als terroristisch oder extremistisch gelten. Deshalb eröffnete sich den russischen Spezialeinheiten nach der Okkupation die Möglichkeit der höchsten Aufdeckungsrate terroristischer Gruppen. Die Mehrheit der heute in Haft sitzenden Krimtataren zählen sich eben zu den Mitgliedern der Organisation „Hizb-ut Tahrir“.

„Die russische Gesetzgebung im Bereich Extremismus und Terrorismus entwickelte sich zu einem Instrument des Kampfes gegen Andersdenkende… Der Vorwurf des Terrorismus wurde zum Instrument der Unterdrückung gesellschaftlicher Freiheit und der Verfolgung zivilgesellschaftlicher Aktivisten“, sagt der Rechtsanwalt Emil Kurbedinow auf der Krim, der sich mit den Angelegenheiten der des Terrorismus beschuldigten Muslime der Krim befasst.

Nach Angaben des Verteidigers wurden insgesamt 66 Personen im Zusammenhang mit ihrer religiösen Überzeugung verhaftet, wovon mehr als die Hälfte von ihnen (39 Personen) allein in diesem Jahr für „terroristische“ Aktivitäten festgesetzt wurden. Die Prognose von Experten, dass die Zahl solcher Ereignisse stetig steigen wird, scheint völlig begründet. Für Krimtataren, die ihre religiösen Bräuche ausüben, und umso mehr, wenn sie dabei einen Bart tragen (als Zeichen der Zugehörigkeit zur Gruppe der „Gläubigen“), ist die Untersuchungshaft nicht das einzige Risiko. Häufig geht dem Arrest eine Durchsuchung mit dem Einschlagen von Türen und der Umstellung des Geländes mit bewaffneten maskierten Spezialeinheiten voran. Oder Ordnungshaft für die Veröffentlichung irgendwelchen Materials in sozialen Netzwerken zu einer Zeit, in der man auf der Krim noch nichts von der bevorstehenden Okkupation ahnte. Oder die Festnahme mit dem Ziel der Anwerbung, bei der man die Zustimmung zur Zusammenarbeit mit dem FSB aktiv durch Folter erzwingt.

Haft für die Blockade

Im Gegensatz zur religiösen Verfolgung, die faktisch direkt im Anschluss an die Okkupation begann, wird die Jagd auf „Asker“—Mitglieder – das ist ein neuer Trend beim FSB auf der Krim, könnte man sagen – erst seit Beginn dieses Jahres offensichtlich. Die „Askerer“ sind Mitglieder einer paramilitärischen Formation, die besser bekannt ist als Bataillon Noman Tschelebitschichan [Noman Çelebicihan]. Das Bataillon wird mit dem Namen Lenur Isljamow in Verbindung gebracht, dem Eigentümer des krimtatarischen Fernsehsenders ATR (umgezogen nach Kiew) und ebenso Organisator der Lebensmittel- und Energieblockade der Halbinsel.

Abgesehen davon, dass beide Blockaden sich für die Okkupationsmacht als wie gerufen erwiesen, werden die Teilnehmer dieser Aktionen aktiv gesucht und exemplarisch bestraft. Bisher sind insgesamt drei Krimtataren, die Mitglieder des Bataillons Tschelebidschichan waren und dann auf die Halbinsel zurückkehrten, in die Mühle dieser Abschreckungsaktion geraten.

Edem Kadyrow bekannte sich schuldig und wurde in einer einzigen Gerichtsverhandlung zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Als der festgenommene Fewsi Sagandschi an der Reihe war, erklärte er im Gericht, dass er niemals zum Bataillon gehörte. Er beteuerte auch, dass er gefoltert wurde. Fewsi Sagandschi wurde schon von der Krim weg verlegt zum Absitzen einer Strafe von zehneinhalb Jahren.

Zu einer weiteren realen Figur in dieser Sache wurde Diljawer Gafarow, der sich auch nicht schuldig bekannte und die Mitgliedschaft im Bataillon bestreitet. Wie der Gefangene vor Gericht selbst erklärte, arbeitete er eine Weile als Friseur beim Fernsehsender ATR und musste kündigen, weil Isljamow auf ihn Druck ausübte, sich in das Bataillon einzureihen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist Gafarow zu zehn Jahren strenger Lagerhaft verurteilt und wartet auf die Überprüfung seiner Berufungsklage.

Lenur Isljamow, der die Verhaftungen kommentierte, bemerkte in einem Interview auf seinem Fernsehsender, dass „bei uns auf der Krim keine Mitglieder des Bataillons sind, sie befinden sich alle an der Verwaltungsgrenze, und alle sind hier im Bereich ihrer Einheit.“

Derweil arbeiten die Mitarbeiter des FSB weiter in diese Richtung. Anfang des Jahres gab es Durchsuchungen in den Häusern der Eltern von Bekir Abultarow und Ewelina Arifowa, die stellvertretende Kommandeurin der Zivilvereinigung „Asker“ ist. Außerdem verurteilte im August ein Gericht der Krim die Journalistin des Fernsehsenders ATR Gulsum Chalilowa, die lange Zeit Live-Übertragungen von der Blockade machte, in Abwesenheit zu Arrest. Man beschuldigt sie auch der Mitgliedschaft im Bataillon Noman Tschelebidschichan. Sehr wahrscheinlich ist die Sache mit dem durch Austausch befreiten Edem Bekirow, auch aus dieser Reihe.

Es ist offensichtlich, dass die russischen Einheiten die Krimtataren abschrecken wollen, indem sie das Repressionsrad in diese Richtung drehen, um die Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts in die Reihen verschiedener Formationen, insbesondere derer mit militärischer Neigung, auf ein Minimum zu senken.

Der Fake-„Medschlis“

Ganz zu Beginn erinnerten wir an die Entscheidung des internationalen UN-Gerichts, das die Forderung an Russland richtete, das Verbot in Bezug auf das Vertretungsorgan der Krimtataren, den Medschlis, aufzuheben. Die Okkupationsmacht hat in den vergangenen zweieinhalb Jahren keinerlei Schritte in dieser Richtung unternommen. Jedoch hat sie an der Formierung einer „virtuellen Realität“ für die internationale Ebene gearbeitet.

Die Rede ist von der Durchführung des sogenannten „Kurultai der Muslime der Krim“ im letzten Jahr, der vom Mufti vorausgewählt war und eine Reihe von Entscheidungen zur Übergabe des Vermögens des verbotenen Medschlis an das Muftiat getroffen hat. Formal wurde auf dem okkupierten Territorium ein gewisses Vertretungsorgan analog zum „Kurultai des krimtatarischen Volkes“ gebildet, der bis zur Okkupation die Zusammensetzung des Medschlis regelte, das ausführende Organ für die Interessen der ursprünglichen Bevölkerung. Objektiv gesprochen kann man heute auf der Krim keine gezielte Verfolgung des „vorokkupatorischen“ Medschlis beobachten. Besonders, wenn man den Vergleich mit der Zeit von 2014-2016 zieht, als nicht nur einfache Teilnehmer von Veranstaltungen, die der Medschlis verantwortete, in Arrest kamen, sondern auch zwei „Vize-Premiers“ dieses Organs – Ilmi Umerow [İlmi Ümerov] und Achtem Tschijgos [Ahtem Çiygoz]. Später wurde dank starker internationaler Resonanz ihr Austausch möglich.

Eigentlich erklärt der stellvertretende Vorsitzende des Medschlis Ilmi Umerow die Pause in der Arbeit der Gewaltorgane in dieser Richtung auch genau mit dieser Aufmerksamkeit vonseiten der Weltgemeinschaft in Hinsicht auf diese Repressionen. „Wenn es in dieser Frage keinen starken und anhaltenden Druck auf Russland gäbe, würde es mit dem Medschlis direkt nach der Entscheidung des obersten russischen Gerichtshofs endgültig aufräumen. Im Weiteren hängt die Situation von der Gesamtentwicklung ab. Wenn die Annexion und Okkupation der Krim nicht beendet wird und der gesamtgesellschaftliche Druck auf Russland nur ein bisschen nachlässt, kann man erwarten, dass sich die Repressionen gegen die Krimtataren und insbesondere gegen die Mitglieder des Medschlis auf verschiedenen Ebenen, wieder deutlich verstärken werden“, zitiert Ilmi Umerow die Seite Krim.Realii.

Einzelne Strafverfolgungen, in denen Menschen Gegenstand sind, die dem Medschlis nahestehen oder die Idee einer Befreiungsbewegung der Krimtataren teilen, beweisen noch einmal die Wahrheit dieser These. Bisher fabrizieren die Mitarbeiter des FSB keine Massenanklage gegen diese Leute, verfolgen jedoch sorgfältig ihre Handlungen und eröffnen wegen geringster Gründe Strafverfahren. Zum Beleg dafür wurde die sogenannte Sache mit den „Alten“, als vier krimtatarische Aktivisten in ehrwürdigem Alter wegen Erpressung verhaftet wurden, nur weil sie versuchten, einen Betrüger zu überzeugen (ohne Gewaltanwendung), eine geborgte Geldsumme an die Veteranin der nationalen Bewegung der Krimtataren, Wedschije Kaschka [Veciye Qaşqa], zurückzuzahlen. Schließlich starb [die 82-jährige, A.d.R.] Wedschije Kaschka selbst während der Festnahme dieser Alten, doch die Alten wurden mehr als ein Jahr im Untersuchungsgefängnis festgehalten und erst danach hat man sie in den Hausarrest entlassen, ohne jegliche Kraft und Möglichkeit, sich weiterhin gesellschaftlich zu betätigen.

Mit Bulldozern über Gräber

Neben der offensichtlichen und überaus starken Verfolgung der Krimtataren, wie Arrest, Folter, Durchsuchungen und Bedrohungen, wird heute eine weitere Tendenz immer deutlicher, die man als „hybrid“ einordnen könnte. Es geht um die Vernichtung von Kulturobjekten der Krimtataren sowie um Handlungen, die auf die Vernichtung der nationalen Identität und Eigenständigkeit zielen.

„Dafür, dass die Krimtataren auf ihre Selbstbestimmung verzichten, auf ihre nationale Identität, den Glauben, die Sprache, Kultur, Geschichte und ihr Territorium, wendet man gegen sie Methoden der Abschreckung und Vernichtung an“, erzählt das Oberhaupt der Zentralen Wahlkommission des Kurultai und gesellschaftlicher Aktivist Sair Smedljajew LB.ua.

Als Beispiel führt er den Khan-Palast in Bachtschissaraj an, wo bei der „Renovierung“ fast die Hälfte des einzigartigen architektonischen Komplexes zerstört wurde. „Genauso die häufigen Ereignisse von Vandalismus auf alten krimtatarischen Friedhöfen wie Ausgrabungen oder die Durchführung verschiedener Bauarbeiten wie Gasleitungen, Wasserleitungen oder Straßen“, sagt Smedljajew.

Als wäre es nicht schon unerträglich genug, wie Bulldozer über die Gräber alter krimtatarischer Friedhöfe rollen, es werden mithilfe von Propaganda auch Haltungen in das Bewusstsein der Bewohner der Halbinsel geschleust. Einstellungen wie die, dass die Krimtataren fremd in diesem Land sind, dass sie alle gefährlich sind und zu Extremismus neigen, dass die Loyalität ihnen gegenüber zu einigen „nicht witzigen“ Problemen vonseiten der allgegenwärtigen Organe führen könne und so weiter. Und leider werden die Ergebnisse dieser Propaganda bereits im Alltag sichtbar, spalten die Gesellschaft und liefern eine bequeme Grundlage für das Verdrängen eines ganzen Volkes aus seiner ursprünglichen Heimat.

16. Oktober 2019 // Andrej Strelzow, Journalist von der Krim

Quelle: LB.ua

Übersetzerin:   Anja Blume  — Wörter: 1729

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