Das Ischinger-Paradox - Vor dem Warschauer NATO-Gipfel: Irrungen, Wirrungen unserer Sicherheitspolitiker
Eine sonderbare Mischung kluger und törichter Anschauungen präsentiert Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchener Sicherheitskonferenz, in seinem Spiegel-Gastbeitrag. Klug, solange es um die Bewertung der westlichen Strategien sowie die Einschätzung von Russlands wirklicher ökonomisch-politischer Stärke und Anziehungskraft angeht. Naiv, nachgerade töricht jedoch, was die Einschätzung der inneren Verhältnisse Russlands und unserer Einwirkungsmöglichkeiten auf diese betrifft. „Visafreiheit für die Russen! Denn die Ukrainer dürfen das ja auch“ – „Finnland-Lösung für die Ukraine“: Wo war Herr Ischinger eigentlich während der letzten zwei Jahre?
Wir müssen es ihm also nochmal erklären. Wie im Falle unserer SPD-Außenpolitiker diverser Schulen und „Willy-Brandt“-Kreise, die ich in meinen letzten Beiträgen polemischer Kritik unterzogen habe, weil ihre Aussagen auf eine Teil-Einstellung des rationalen Denkens hinsichtlich Russlands zurückgehen, ist auch im Fall Ischinger zu konstatieren: Er ist eben leider kein Russlandversteher, so wie ich das definieren würde, kein auf historischen Quellen und Kennerschaft der heutigen internen russischen Verhältnisse aufbauender Analytiker Russlands. Und daraus erwachsen Fehleinschätzungen, die ich nur als naiv bezeichnen kann.
Die Ukrainer halten sich – weitgehend auf sich allein gestellt – im Osten ihres Landes mühselig eine hybride russische Militärintervention vom Leibe, die als Strafaktion für ihren Westbindungs-Wunsch geplant und durchgeführt wurde. Der Krieg im Osten lähmt und destabilisiert die Ukraine, und verhindert die dringende politische Selbstreinigung. Größtenteils sind es die altbekannten postsowjetischen Eliten, die das Land nach wie vor beherrschen und als eine Art familiären Erbhof der jeweils machtausübenden, wenn auch in diesem Falle demokratisch gewählten Führungsgruppe verwalten, recte: ausplündern.
Dagegen hilft nur die Stärkung demokratischen und rechtsstaatlichen Bewusstseins von der Basis her. Die ukrainische Bevölkerung hat, anders als die russische, weder Angst noch von oben eingebläute Minderwertigkeitskomplexe vor dem „Westen“ – sie ist, mit wenigen Ausnahmen, offen, kontaktfreudig und wissbegierig. Jeder Ukrainereisende wird das bestätigen.
Diese Offenheit und Bereitschaft, sich mit den westlichen Nachbarn zu verständigen und zu integrieren, sich durch Reisen, Lernen, Arbeiten im Ausland fit zu machen für die Aufbauarbeit im eigenen Land – soll, weil der Westen sonst nichts an Beitritts-Perspektiven und Sicherheitsgarantien bieten will, wenigstens auf der individuellen Schiene erleichtert werden, indem man den Ukrainern Visafreiheit gewährleistet. In einem weiteren Schritt müssten dann Stipendienprogramme diesen Wissenstransfer und diese Kommunikation unterstützen.
Visafreiheit ist also eine Honorierung von Anstrengungen. Und sie ist das letze kleine Minimum, das vom europäischen Traum übrigblieb. Aus ukrainischer Sicht: eine kleine Anerkennung der Tatsache, dass Ukrainer für Europa den Kopf hingehalten haben. Ja, für ihre angesichts des politischen Zynismus, der allfälligen Abschottungstendenzen und der Nationalisten-Revivals in Real-Europa vielleicht illusionäre, aber historisch wirkmächtige, weil visionäre Überzeugung, zu Europa zu gehören.
Genau dasselbe möchte Herr Ischinger den „normalen“ Russen zubilligen, in der irrigen Annahme, Russen und Ukrainer seien irgendwie dasselbe. Abgesehen davon, dass gegenwärtig die ersteren die letzteren drangsalieren, wofür man sie nicht noch belohnen muss: Wen meint er damit?
Die normalen Russen, die, vom Staat nicht gehindert, im Internet politische Gegner der Regierung aufspüren, denunzieren, terrorisieren und dann den Worten Taten folgen lassen? Die normalen Russen, die im Donbass eine Runde kämpfen fahren, weil das gutes Geld bringt, und patriotisch gerechtfertigt sei? Die normalen Russen, die überzeugt sind, dass Politiker lügen – dass sie aber lügen müssten und dürften, wenn dies Russland nütze? Die normalen Russen, die wir auf der Fußball-EM kennengelernt haben? Die normalen Russen, die es normal finden, wenn Regimegegner Schaden nehmen – hätten sie eben die Klappe halten sollen – und die „Gayropa“ und den verkommenen Westen verachten?
Alles ganz normale Leute, gastfreundlich, im privaten Gespräch umgänglich und höflich – bis die Sprache auf die Ukraine kommt, oder auf Schwule oder Migranten, und bei den einen die imperiale Herablassung allen Nichtrussen gegenüber, bei den nächsten die stumpfe Gleichgültigkeit angesichts der Vorgänge vor der eigenen Haustür, bei den übernächsten der blanke Hass der national und heteronormativ Korrekten zu Tage tritt.
Natürlich ist ein gut Teil dieser Leute Opfer der seit Jahren unablässig in die Hirne tropfenden staatlichen Propaganda. Aber das bedeutet nicht, dass eine visafreie Reise in den Westen sie verändern würde. Dies anzunehmen wäre töricht, denn nach Rückkehr müssen alle in ihrem System weiter leben, arbeiten und Loyalität bekunden, ihre Kinder zum Schulerfolg führen, im Studium Punkte machen. Sie werden sich nicht ändern, solange die Rahmenbedingungen sich nicht ändern, und solange der nationale Grundkonsens besteht, dass nicht Russland im Unrecht sei, sondern der Rest der Welt; dass der in den letzten Jahren beobachtbare Rechtsruck und die allfällige Restalinisierung nur eine Rückkehr zum eigentlichen, zum besseren Russland seien.
Diese Rückkehrer werden mit uns gepflegt Englisch sprechen und vielleicht sogar Derrida zitieren, und selbstverständlich haben sie einem Geschmack für gute Autos, wie die Benz-fahrenden Stützen der Gesellschaft von FSB bis Orthodoxie täglich beweisen. Aber sie werden innerlich keinen Schritt auf uns zu gehen.
Ähnlich naiv ist Ischingers Ruf nach einer Finnlandisierung der Ukraine. Er hat nur zwei Kleinigkeiten übersehen: erstens befinden sich die Ukrainer bereits, wenn auch unfreiwillig, in diesem Zustand. Sie haben ihre Kernwaffen abgegeben, und sie gehören keinem Bündnis an. Und, zweitens, der Finnlandstatus ist kein Schutz. Denn die Ukrainer wurden bereits Opfer russischer Landnahme und russischer Verletzungen sämtlicher Prinzipien und Verträge, welche die Friedensordnung nach dem Ende des Kalten Krieges für „Finnlands“ wie die Ukraine bereithielt.
Der Finnlandstatus, der auch in Finnland nur mit einigem Unbehagen funktionierte, hat der Ukraine nichts genützt, denn sie ist ein Sonderfall: anders als Finnland oder auch die baltischen Staaten spielt die Ukraine eine Schlüsselrolle für ein überdehntes und nationalistisch überspanntes postimperiales Selbstkonzept der russischen Eliten und eines überwältigenden Teils der russischen Bevölkerung. Solange dies so ist, wird es keine Ruhe geben, allen Visaerleichterungen und NATO-Russland-Gremien zum Trotz.
Die russische Administration kleidet ihren Versailles-Komplex, ergänzt um ihre konkreten Dolchstoßlegenden, in die Sprache der Interessen- und Geopolitik, und die Ischingers und Steinmeiers auf der deutschen Seite nehmen ihnen diese Maskerade ab – weil sie keinen Schimmer von der russisch-ukrainischen Verflechtungsgeschichte haben, und weil sie innenpolitische Bedingtheiten von Außenpolitik ignorieren.
Solange das so bleibt, werden Russen und Deutsche aneinander vorbei reden – zum Schaden westlicher Interessen, ganz zu schweigen von den Interessen der Ukraine, die man insgeheim ohnehin als Saisonstaat wahrnimmt, in dem Russland, der Garant der Stabilität, legitime Interessen habe – in gefährlicher Konvergenz mit den russischen Positionen. Die Deutschen empfinden die Ukraine als Störfaktor, den man gerne wegfinnlandisieren würde, um sich danach um so freier der Illusion hinzugeben, man könne sich mit den russischen Eliten arrangieren.
3. Juli 2016 // Anna Veronika Wendland
Quelle: Facebook