Das Jurij-Tymoschenko-Risiko



In einem Worst case-Szenario könnte nach dem ersten Durchgang der anstehenden Präsidentschaftswahlen polittechnologische Trickserei die innenpolitische Stabilität in der Ukraine erschüttern. Zynische Marionettenspieler sind bereit, den Ausbruch eines inneren Konflikts zu riskieren, um die Wiederwahl des amtierenden Präsidenten sicherzustellen.

von Andreas Umland

Der relativ pluralistische Parteienwettbewerb, der nach dem Zusammenbruch der UdSSR möglich wurde, hat einige spezifisch postsowjetische politische Manipulationsstrategien hervorgebracht. Sie sind in Andrew Wilsons wegweisender Monographie Virtual Politics: Faking Democracy in the Post-Soviet World (Yale University Press, 2005) beschrieben. Der besonders zynische Einsatz unterschiedlicher Verwirrspiele und Fälschungstricks zur Sicherstellung von Wahlsiegen ist unter dem Begriff „Polittechnologie“ bekannt geworden und wurde zum Beruf tausender Absolventen postsowjetischer Politologiestudiengänge. Während eine wichtige gesellschaftliche Funktion traditioneller Politikwissenschaft darin besteht, das Funktionieren von Demokratie zu unterstützen, versucht postsowjetische Polittechnologie zu verhindern, dass demokratische Prozesse funktionsgerecht ablaufen.

Namen, Schall und Rauch

Eine besonders bizarre Spielart von Polittechnologie in den vergangenen dreißig Jahren war, dass fairer politischer Wettbewerb unterlaufen wurde und wird, indem Bürger bei Wahlen mit Hilfe von Wortspielereien gezielt in die Irre geführt werden. Die Geschichte postsowjetischer Wahlkampagnen ist reich an Pseudoparteien, deren Namen, Slogans und Programme eigens gewählt wurden, um Wähler hinsichtlich der Identität und Ideologie der eigentlich relevanten politischen Kräfte zu verwirren. Der Prototyp dieser Art von Manipulation ist Wladimir Schirinowskis berüchtigte ultranationalistische „Liberal-Demokratische Partei“, die das ausgehende Sowjetregime im Jahr 1990 aus der Taufe hob. Diese anfänglich künstliche Partei war ursprünglich ein bloßes Instrument, um die damals entstehende wirkliche liberal-demokratische Bewegung in der UdSSR zu diskreditieren und zu verwirren. Seither hat es im postsowjetischen Raum hunderte Wahlen gegeben, die durch sogenannte „technische“ Parteien und Kandidaten unterwandert wurden, deren Namen und/oder Programme so ähnlich wie diejenigen realer politischer Kräfte klangen. Dadurch sollte die Wählerunterstützung für das jeweilige „Original“ gespalten und reduziert werden.

Man hätte hoffen können, dass die Ukraine zumindest auf nationaler Ebene diese politische Pathologie nach dreißig Jahren Unabhängigkeit und nach drei prodemokratischen Aufständen überwunden hat: nach der sogenannten Granit-Revolution von 1990, der Orangen Revolution von 2004 und der Revolution der Würde von 2013/14. Leider erleben die diesjährigen Präsidentschaftswahlen jedoch ein überraschend eklatantes Wiederaufleben schmutziger politischer Täuschungsstrategien, unter anderem den Einsatz von mindestens zwei klar „technischer“ Kandidaten.

Die Präsidentschaftskandidaturen zweier politischer Nobodys bei den Wahlen 2019, nämlich des Soldaten Jurij Tymoschenko und der Fernsehjournalistin Julija Lytwynenko, dienen klar dem Zweck, die Wähler am Wahltag in die Irre zu führen. Natürlich hat jeder Bürger der Ukraine das Recht, bei einer Wahl zu kandidieren. Diese beiden Kandidaten sind allerdings derart marginale politische Figuren, dass sie im Vorfeld der Wahlen in vielen Meinungsumfragen nicht einmal erwähnt werden.

Dass diese beiden Namen auf dem langen Stimmzettel auftauchen werden, den die Wähler am 31. März auszufüllen haben, ist der schlichte Versuch, einen Teil derjenigen zu täuschen, die eigentlich für Julija Tymoschenko stimmen wollen. (Die gestandene Politikerin ist in der Ukraine auch schlicht als „Julija“ bekannt – daher die zweite Kandidatin mit demselben Vornamen, aber mit einem anderen Nachnamen.) Wahrscheinlich werden etliche Wähler ihre Häkchen an der falschen Stelle machen, also ihren Stimmzettel nicht wie beabsichtigt bei Julija Tymoschenko markieren, sondern bei den beiden marginalen Politkern Jurij Tymoschenko oder Julija Lytwynenko ankreuzen. Zwar haben beide Newcomer Biographien, die sie nicht als gänzlich ungeeignete Teilnehmer an der ukrainischen Politik erscheinen lassen. Gleichwohl dürfte es den meisten Ukrainer schwerfallen, diese beiden Personen zu identifizieren und zu beschreiben, da sie weder über geschärfte Profile in der Öffentlichkeit verfügen, noch politische Organisationen oder Kampagnen hinter sich haben.

Pseudotymoschenko

Die Rückkehr derart schmutziger Manipulationsstrategien könnte als Kavaliersdelikt betrachtet werden, wäre dieses Phänomen nicht aus dreierlei Gründen beachtenswert. Erstens konnte die Registrierung von Jurij Tymoschenko und Julija Lytwinenko nur mit stillschweigender Unterstützung jene Regierungselite geschehen, die gegenwärtig von umfangreicher westlicher Hilfe profitiert und hochtrabend einen baldigen EU- sowie NATO-Beitritt fordert. Der Umstand, dass diese und andere „polittechnologische“ Täuschungen aktiv in einem Land betrieben werden, das über ein besonders weitreichendes Assoziierungsabkommen mit Brüssel und eine Charta für eine strategische Partnerschaft mit Washington verfügt, sollte westlichen Partnern Kyjiws zu denken geben.

Zweitens haben die manipulativen Kandidaturen Jurij Tymoschenkos und Julija Lytwynenkos in den vergangenen zwei Monaten aufgrund veränderter Umfrageergebnisse eine Bedeutung erlangt, die sie zuvor noch nicht gehabt hatten. Durch den überraschenden Aufstieg des neuen Präsidentschaftskandidaten Wolodymyr Selenskyj ist das Ringen um den zweiten Platz im ersten Wahlgang am 31. März zur Schlüsselfrage dieses Urnengangs geworden. Umfragen zufolge wird aller Wahrscheinlichkeit nach Selenskyj den ersten Durchgang gewinnen. Bislang ist allerdings noch unklar, ob Amtsinhaber Petro Poroschenko oder seine Herausforderin Julija Tymoschenko auf den zweiten Platz gelangen wird – und wer damit ebenfalls in die zweite Runde am 21. April einzieht. Nur die/der Erst- und die/der Zweitplatzierte beim ersten Wahlgang Ende März hat die Chance, im zweiten Durchgang zum Präsidenten gewählt zu werden.

Im Laufe der vergangenen Wochen ergibt sich aus Meinungsumfragen ein unklares Bild darüber, wer in der ersten Runde den zweiten Platz erringen wird. In einigen Umfragen liegt Poroschenko vor Julija Tymoschenko, in anderen liegt sie hinter Selenskyj auf dem zweiten Rang, während Poroschenko an dritter Stelle rangiert. Letzteres würde bedeuten, dass der Amtsinhaber es nicht in die zweite Runde schaffen würde und keine Aussicht auf eine Wiederwahl hätte. Die Umfragewerte für Poroschenko bzw. Tymoschenko in der ersten Runde liegen in vielen Erhebungen eng oder sehr eng beieinander.

In dieser Situation sind die einst bedeutungslosen „technischen“ Kandidaturen von Jurij Tymoschenko und Julija Lytwynenko politisch explosiv geworden. Jetzt ist ein Szenario möglich, bei dem Julija Tymoschenko im ersten Wahlgang auf dem dritten Platz landet, aber mit Blick auf die Auswirkungen der beiden gegen sie gerichteten „technischen“ Kandidaturen nicht bereit sein könnte, ein solches Ergebnis zu akzeptieren. Eine kompromisslose Haltung Tymoschenko würde legitim erscheinen, falls die Differenz zwischen ihrem Stimmenergebnis und dem auf Platz 2 landenden Poroschenkos ungefähr so groß oder sogar geringer ausfällt, wie der Prozentsatz, den die beiden politischen Nobodys Jurij Tymoschenko und/oder Julija Lytwynenko erringen. Die Problematik einer solchen Entwicklung wäre besonders schwerwiegend, wenn Poroschenko anschließend in der zweiten Runde gegen Selenskyj gewinnen würde. In diesem Fall ließe sich plausibel argumentieren, dass Jurij Tymoschenko und/oder Julija Lytwynenko der einstigen Premierministerin Julija Tymoschenko das Präsidentenamt 2019 gestohlen haben.

Die Ukraine hat freilich Wege, mit einer solchen Situation umzugehen. Im Herbst 2004 haben die ukrainische Elite und Bevölkerung die Ergebnisse des zweiten Durchgangs der Präsidentschaftswahlen, in dem Wiktor Janukowytsch mit betrügerischen Mitteln gesiegt hatte, nicht akzeptiert. Was folgte, war ein zweimonatiger Wähleraufstand, der als Orange Revolution in die Geschichte einging (und an dessen Spitze unter anderem Julija Tymoschenko stand). Der zweite Durchgang der Präsidentschaftswahlen wurde dann am 26. Dezember 2004 wiederholt. Daraufhin wurde (Poroschenkos damaliger Patron) Wiktor Juschtschenko am 23. Januar 2005 als Präsident vereidigt.

Vor dem Hintergrund dieser und anderer ukrainischer Revolten erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass die Ukraine im Falle eines auf zweifelhafte Weise erlangten Vorteils für Poroschenko Massenproteste enttäuschter Tymoschenko-Wähler erlebt. Falls der Abstand zwischen Poroschenko und Julija Tymoschenko geringer ausfällt als der Stimmenanteil für Jurij Tymoschenko und/oder Julija Lytwynenko, könnten hunderttausende Demonstranten in der ganzen Ukraine eine Wiederholung des ersten Wahlgangs fordern. Ein entscheidender Unterschied eines neuen Aufbegehrens zu dem von 2004 bestünde aber nicht nur darin, dass solche Proteste in diesem Jahr angesichts der enormen Menge Schusswaffen, die inzwischen in der Ukraine im Umlauf sind, leicht in blutige Gewalt umschlagen können.

Nach mir die Sintflut

Ein dritter und der beunruhigendste Aspekt der Kandidaturen von Jurij Tymoschenko und Julija Lytwynenko besteht darin, dass eine solche potenziell explosive politische Manipulation zu einer Zeit erfolgt, während der die Ukraine sich in einem Überlebenskampf befindet. Zwar ist die Wahrscheinlichkeit des oben beschriebenen Szenarios gering. Poroschenko wird wohl entweder auf dem dritten Platz landen, oder er wird Zweiter, und sein Vorsprung gegenüber Julija Tymoschenko wird groß genug sein, um keine grundsätzlichen Zweifel an seiner Platzierung aufzuwerfen. In diesem Falle würde Julija Tymoschenko nicht – beziehungsweise zumindest nicht in dieser Hinsicht – glaubwürdig behaupten können, dass die Wähler getäuscht und die Wahlen durch diese Polittechnologie „gestohlen“ wurden. Eine ambivalente Situation würde nur dann entstehen, wenn Poroschenko lediglich mit sehr geringem Abstand vor Tymoschenko landet – eine Konstellation, die so hoffentlich nicht entsteht.

Die Chance für ein solches Szenario ist gering. Doch ist sie auch nicht gleich Null, und es steht sehr viel auf dem Spiel. Ein großer politischer Konflikt innerhalb der Ukraine zwischen prowestlichen Kräften, die dann vielleicht gar zu Schusswaffen greifen, würde in Moskau frenetisch gefeiert werden und im Westen zu tiefer Frustration führen. Schlimmer noch, Unruhen in Kyjiw könnten dem Kreml die Möglichkeit bieten, der Ukraine ein weiteres Stück ihres Territoriums zu entreißen – oder gar den ukrainischen Staat als Ganzes zu zerschlagen. Dass dies so passiert, ist zwar unwahrscheinlich, kann aber nicht völlig ausgeschlossen werden, falls es zu einer illegitimen Niederlage Tymoschenkos aufgrund schmutziger „Polittechnologie“ kommt.

Der Umstand, dass die derzeitigen Machthaber in Kyjiw bereit sind, ein solch enormes – wenn auch bislang wenig wahrscheinliches – Risiko einzugehen, um ihre Macht zu erhalten, ist ernüchternd. Die meisten westlichen Beobachter hoffen darauf, dass der Präsident auch nach dem April 2019 Poroschenko heißen wird. Sie sollten angesichts der gefährlichen Instrumente, die Poroschenkos „Polittechnologen“ zu diesem Zwecke einzusetzen bereit sind, keine allzu hohen Erwartungen von seiner möglichen zweiten Amtszeit haben.

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