Die Krim. Zwischen Loyalität und innerem Protest


Die Verdreifachung der Renten und Bezüge für Beamte, die unbefriedigende Tourismussaison, die von Flüchtlingen aus dem Donbass überschwemmten großen Städte der Krim, die Ummeldung von Betrieben und Immobilien nach dem Recht der Russischen Föderation, die Einstellung der Eisenbahnverbindungen zur Ukraine sowie die Verfolgung von Krim-Tataren und ukrainischen Patrioten – all das war noch vor einem Jahr undenkbar oder Fantastik. Heute ist es Realität für 2,5 Millionen Krimbewohner.

„Auch wenn es Steine vom Himmel regnet, wir sind in der Heimat“, wiederholen immer wieder die einen. „Es ist unmöglich geworden, hier zu leben“, beteuern die anderen.

Man lebt verschieden auf der Krim. Es gibt die, die selbst Meister ihres Lebens sind, und die, die einen Meister für ihr Leben brauchen.

„Ich lebe in einem Zustand, in dem ich ständig ‚zurückbellen‘ muss.“

„Hallo, ist dort die Hotline des Zoll? Ich stehe gerade an der Übergangsstelle Tschongar, und eben hat ein Mitarbeiter, der wohl Ohnedurchblick heißen muss, ein Auto vorgelassen und damit meine Rechte verletzt“, spricht mein zufälliger Begleiter ins Telefon, jedes Wort deutlich betonend.

„Sagen Sie mal, Sie haben wohl für jeden Fall eine besondere Telefonnummer?“, frage ich aus Spaß.

„Ich habe die Telefonnummern von drei Hotlines: Zoll, Ukrainischer Geheimdienst SBU und Regierung“, antwortet der aus Jalta stammende Mann emotionslos.

„Und hilft ihnen das?“, lasse ich nicht locker.

„Es hilft mir, mich als Mensch zu fühlen. Zumindest solange, wie ich hier in der Ukraine bin“, antwortet er, als ob er das schon viele Male hatte sagen müssen. „Wenn Sie jetzt rüberfahren, werden Sie verstehen, was jetzt auf der Krim los ist. Auch Sie werden rechtlos sein.“

Dieser Dialog entspann sich an der Übergangsstelle „Tschongar“, die ich mit anderen Mitreisenden im Taxi passierte.

Ende letzten Jahres waren die Verkehrsverbindungen zur vorübergehend besetzten Krim gekappt worden, um, so die offizielle Version, zu verhindern, dass als friedliche Bürger getarnte Diversantengruppen ins Innere der Ukraine eindringen.

Bereits auf meiner letzten Reise im Oktober hatten mir Einwohner von Sewastopol Krankenhäuser gezeigt, in denen verwundete Separatisten behandelt wurden, die auf den Territorien der „DVR“ und der „LVR“ gekämpft hatten. Sie hatten mir auch von Militärtechnik erzählt, die ständig auf der Halbinsel eintrifft, und ebenso von Trainingsstützpunkten. Die offizielle Version zur Einstellung des Eisenbahnverkehrs ist also durchaus logisch.

Im Moment kann man über drei Passierstellen auf die Krim gelangen: Tschongar (Bahnhof Nowoalexejewka), Tschaplinka und Kalantschak. Eine Taxifahrt vom Bahnhof Nowoalexejewka nach Simferopol kostet 350 Hrywnja pro Person.

Fast zwei Stunden lang standen ich und meine Zufallsmitreisenden in einer langen Autoschlange. Als wir uns der Übergangsstelle bereits genähert hatten, entschloss sich ein flinker Zollbeamter das Auto, das hinter uns fuhr, vorzulassen.

Die Hotline des Zoll rief der 40-jährige Wadim an. Auf dem Weg nach Simferopol erzählte er von sich.

Er hatte zehn Jahre in Deutschland gelebt. Wegen der Liebe kam er nach Jalta zurück und heiratete. Das verdiente Geld steckte er in Geschäfte: ein kleines Hotel und Sightseeing-Busse. Er hat drei Kinder, der älteste Sohn ist zwölf.

Noch vor einem Jahr war Wadim unpolitisch. Er lebte für seine Familie und für das Geschäft. Er beteiligte sich nicht am Maidan in Jalta und auch nicht am Referendum.

In seinem Umfeld ist er einer der wenigen, die ihre Staatsbürgerschaft nicht gewechselt haben, sondern eine Aufenthaltsgenehmigung bekamen. Warum?

Wadim erzählte von seinen Freunden, die wegen proukrainischer Aussagen auf Facebook zur örtlichen Abteilung des russischen Geheimdienstes FSB vorgeladen wurden. Eine Woche später packten sie ihre Sachen und siedelten um in die Ukraine.

„Die Ukraine ist kein idealer und ein schwacher Staat. Aber in einem Polizeistaat will ich auch nicht leben. Ich muss hier ständig ‚zurückbellen‘. Dagegen sind die steigenden Preise, die unbefriedigende Saison sowie die Notwendigkeit der Ummeldung des Business Kleinigkeiten“, ereifert sich Wadim.

„Und wie wollen Sie denn dort überhaupt leben?“, unterbricht ihn ein weiterer Mitreisender, der bis dahin aufmerksam aus dem Fenster geschaut hatte und scheinbar nicht bereit gewesen war, an dem Gespräch teilzunehmen.

Der Mann aus Kiew, der mit Kühltechnik handelt, hörte zum ersten Mal davon, dass jemand von der Krim unzufrieden ist.

„Man darf bei uns heute nicht mit dem Staat unzufrieden sein“, sagt Wadim. „Was ich machen werde? Nun, ich war in Kiew und wollte rauskriegen, wie viel die Emigration nach Kanada kostet.“

„Es herrscht mehr Ordnung. Man fürchtet uns.“

Im Mai 2014 hatte mich die enorme Menge russischer Flaggen an den Autos auf der Krim erstaunt. 2015 waren es deutlich weniger geworden.

„Anzeichen einer aufkommenden Unzufriedenheit?“, versuche ich von Weitem von dem örtlichen Polizisten Artjom zu erfahren.

Es ist dreißig Jahre alt, war in meiner Parallelklasse, und wir hatten uns zufällig, dank gemeinsamer Freunde, bei einer gemeinsamen Freundin in Simferopol wiedergetroffen.

„Welche Unzufriedenheit? Wovon redest Du? Wir fangen gerade an, normal zu leben“, antwortet er. „Es herrscht mehr Ordnung. Als ich bei der ukrainischen Polizei war, gab es keinen Respekt. Jetzt spüre ich wirklich, dass wir eine Macht sind. Auf unseren Straßen gibt es keine Alkoholiker und niemand raucht auf öffentlichen Plätzen. Der Respekt ist größer geworden.“

„Gut, aber die Durchsuchungen bei den Krimtataren und der Druck auf die Aktivisten. Scheint dir nicht, dass das eher nach einem Regime als nach Ordnung aussieht?“

„Klar, wir sollten hier nicht …“ Er spricht nicht zu Ende, seine Frau unterbricht uns. Sie erzählt von den Krimpolizisten, die auf dem Maidan standen, und von den verletzten Kollegen Artjoms.

„Ist es denn normal, Menschen anzuzünden?“, empört sich Tatjana.

Ich versuche ihr zu erklären, warum die Menschen auf den Maidan gegangen sind und was wäre, wenn sie aufgegeben hätten. Zur Antwort werde ich nach Art des russischen Fernsehmoderators Dmitrij Kisseljow abgestempelt.

„Hör zu, ich komme im Ganzen zu dem Schluss, dass die slawischen Völker einen autoritären Führer brauchen“, sagt Artjom. Ich schweige.

Das Gespräch findet wieder einen friedlichen Verlauf nach der Frage, inwieweit sich das Leben auf der Krim zum Besseren verändert hat.

Vor der Annexion war Artjom Sergeant der Miliz mit einem Gehalt von ungefähr dreitausend Hrywnja.

Als die Krim russisch geworden war, wurde das Gehalt um das 3,8-fache erhöht und in Rubel transferiert, betrug also umgerechnet etwas mehr als tausend Dollar. Nach Neujahr jedoch bekam ein Polizist auf der Krim dreißig Prozent weniger. „Es ist bereits die Rede davon, dass wir auf russische Gehälter umgestellt werden. Anfangs waren sie ein wenig überhöht. Aber ich glaube das liegt daran, dass es im Januar so viele Feiertage gab“, lautet Artjoms Versuch einer Erklärung.

Aufgrund der Tatsache, dass das Gehalt auf mehr als das Dreifache stieg, während die Preise sich nur verdoppelten, ging es Artjoms Familie sehr viel besser. Seine Ehefrau Tatjana ist Managerin für Immobilien bei der Verwaltung eines elitären Wohnkomplexes.

„Im November 2013 schickte man uns in den unbezahlten Urlaub, es gab keine Käufer. Aber seit März 2014 kommen wir vor Arbeit kaum zum Durchatmen“, erzählt sie.

Ein paar Penthouses sind noch nicht verkauft, und der Bauträger hat mit der Errichtung eines neuen Bauabschnitts begonnen. Tatjana erzählt, dass sich die „Geografie“ der Käufer merklich verändert habe. Während früher die Kunden meist aus Moskau, Sankt-Petersburg oder Kiew stammten, werden heute die Wohnungen von Käufern aus Nowyj Urengoi, Jekaterinburg, Saratow, Krasnodar und sogar Sotschi erworben.

Wenn Tatjana von ihrer Arbeit spricht, bekommen ihre Augen einen feurigen Glanz.

„Zuerst kam die Okkupation Janukowitschs. Deshalb sah Russland vor diesem Hintergrund attraktiv aus.“

Die Telefonnummer des Unternehmers Walerij Kopenkin hatten mir Freunde gegeben, mit der Bitte, sie nicht publik zu machen. Meine erste Frage bei unserem Zusammentreffen war, ob ich seinen Familiennamen nennen darf.

„Hören Sie, ich kenne Leute, die sogar bei abgeschaltetem Telefon in den Korridor gehen, um zu reden. Die gehören in die Klapsmühle. Meine Position ist öffentlich. Ich war, ebenso wie Achtem Tschijgos, am 26. Februar Teilnehmer des Meetings vor dem Obersten Sowjet der Krim“, sagt er.

Ich begreife, dass ich seinen wirklichen Familiennamen nicht nennen darf. Kopenkin ist der Familienname einer Figur aus dem Roman „Tschewengur“ von Andrei Platonow.

Im Café nimmt unweit von uns ein junges Pärchen Platz. Der junge Mann ist in den Farben der ukrainischen Flagge gekleidet, er trägt einen gelben Pullover und eine blaue Jacke. „Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass das kein Zufall ist“, meint mein Gesprächspartner, der meinem Blick gefolgt war.

Er erzählt, wie in den letzten drei Jahren unter Janukowitsch alle Schlüsselposten auf der Krim durch Leute der „Familie“ besetzt wurden. Selbst der Posten des Friedhofdirektors in Simferopol – den bekam der Friedhofsdirektor aus Makejewka. „Okkupation der Krim durch Janukowitsch“ nennt mein Gesprächspartner diese Zeit.

„Für jedes Dokument, für eine Bescheinigung der Arbeitsschutzkommission zum Beispiel, verlangten sie dreitausend Dollar von mir. Deshalb sind für die Krimbewohner dieses Ausmaß an Korruption und die Ukraine eins. Aber das war nicht die Ukraine. Das war Janukowitsch, den sie ja mal gewählt hatten. Russland schien für viele der Ausweg aus dieser Situation“, erklärt er.

Bereits Anfang Februar verstanden viele Krimbewohner den Maidan. Es hatte auch sie erreicht.

Am 23. Februar fand auf dem Leninplatz ein großes proukrainisches Meeting statt.

„Am Vorabend des Meetings traf ich mich mit den Parteiführern der ‚Russischen Einheit‘ und schlug vor, eine breite soziale Plattform aufzubauen“, erzählt Kopenkin. „Aber drei Tage später sah ich in den Straßen der Stadt erste Gruppen nicht ortsansässiger junger Männer in Leinensportschuhen unter russischen Flaggen. Ich fragte einen von der ‚Russischen Einheit‘, warum denn seine Leute Leinensportschuhe tragen. Sie sind halt arm, antwortete der mir.“

Auf dem Meeting vor dem Obersten Sowjet der Krim am 26. Februar tauchten die ersten Georgsbänder auf, aber Ukrainer und Krimtataren hatten den gesamten Platz besetzt.

„Wer hätte denn gedacht, dass in der Nacht die ‚grünen Männchen‘ den Obersten Sowjet einnehmen. Seit einem Jahr versuche ich, zu mir zu kommen“, sagt er.

Wie hat sich das Leben in dem einen Jahr verändert?

Kopenkin erzählt, dass im Kindergarten seiner Tochter die Eltern Beschwerden über die Erzieherinnen und die Leiterin an die Staatsanwaltschaft schreiben, weil sie, so sagt er, Wirtschaftsgeld einsammeln. „Die Eltern sagen wörtlich: ‚Putin hat doch für alles Geld gegeben. Warum sollen wir bezahlen?‘ Die Leiterin musste einen Kindergarten in Kursk anrufen, um zu klären, ob man dort von den Eltern Geld verlangt … Bekannte in der Staatsanwaltschaft sagen, dass man sie mit Beschwerden zuschüttet.“

Hier noch eine andere Geschichte: „Ich wollte mein Geschäft ummelden. Es stellte sich heraus, dass man die Originalpapiere mit der ukrainischen Liste der Unternehmen vergleicht. Wenn dabei Unterschiede gefunden werden, gibt es keine Ummeldung. Und auch dabei muss man für jedes Papierchen zahlen.“

Kopenkin sagt, dass sich übers Jahr auch die sozialen Normen geändert haben. „Ich fahre auf der Hauptstraße, da kommt ein Polizeiauto um die Ecke. Ich habe keine Regeln gebrochen, werde aber angehalten. Und augenblicklich sammeln sich Passanten und beginnen mir zu erklären, weshalb ich im Unrecht bin. Früher waren die Menschen immer auf der Seite des Bürgers. Jetzt hat der Polizist immer recht. Er dient dem Herrscher und fühlt sich wie einer. Man darf den Bürger am Schlafittchen packen und bestrafen. Schlimmstenfalls bekommt der Polizist dafür eine Rüge.“

Mein Gesprächspartner ist Besitzer eines Betriebes zur Verarbeitung von Landwirtschaftsprodukten. Ich versuche herauszubekommen, ob sein Geschäft gelitten hat. Er winkt ab: „Gehen Sie davon aus, dass ich jetzt in Rente bin.“ Er hat im Laufe dieses Jahres schon mehrere Male versucht, seine Silos zu verkaufen, hatte es aber jedes Mal mit Geschäftsleuten aus Russland zu tun, die kaum eine Ahnung von der Wirklichkeit auf der Krim hatten.

„Einer kam an und meinte, er werde Sonnenblumen anbauen. Ich sage zu ihm: ‚Die gedeihen bei uns schlecht. Und zweitens, wo willst du sie loswerden?‘ Unser Markt ist klein. Oder ein anderer Russe, der sagte, er werde eine Bäckerei aufmachen und alles außer Mehl und Zucker aus Swerdlowsk heranschaffen. Über fast dreitausend Kilometer? Wie hoch werden wohl die Produktionskosten sein? Ich habe den Eindruck, niemand will rechnen, aber jeder will glauben. An ein Wunder. Kapitalismus verlangt aber gesunden Menschenverstand.“

Bei der Verabschiedung sagt mein Gesprächspartner: „Sie werden sehen, die Krim bekommen wir bald zurück. Man wird sie so still zurückgeben, wie man sie genommen hat. Lesen Sie ‚Der Untergang des Imperiums‘ von Jegor Gaidar.“

Wir stehen schweigend da.

„Erinnern Sie sich an die Festnahme von Julij Mamtschur in Sewastopol? Damals schaltete die Ukraine für einige Stunden den Strom ab, und Mamtschur kam umgehend frei. Diese Waffe wird noch einige Jahre wirksam sein. Am schwierigsten ist es, die Menschen zurückzubringen. Die Massen zu mobilisieren, wird sehr schwer, wenn sie begreifen, dass sie wieder einmal getäuscht wurden.“

„Es stellte sich heraus, dass unser neuer Mitarbeiter uns auf dem Diktiergerät aufnahm. Er schaltete es ein, wenn er das Büro verließ.“

Mit Sergej Dub, Anästhesist im Perinatalzentrum der Medizinischen Universität in Simferopol, machte ich über Facebook Bekanntschaft. Über ihn ist gegen Ende des Sommers viel geschrieben worden, nämlich darüber, wie er sich entschloss, mit einer ukrainischen Flagge Fahrrad zu fahren.

„Bis heute erinnere ich mich gerne daran, wie viele Autos gehupt haben, als ich zum Schewtschenko-Park unterwegs war“, strahlt er übers ganze Gesicht. Jedoch gelang es ihm nicht, den Tag der Ukrainischen Flagge am Taras-Schewtschenko-Denkmal zu begehen.

Der Feiertag wurde vielmehr zu einem „Vorzeigebeispiel“.

Neben dem Schewtschenko-Denkmal tat ein Milizionär Dienst. Er fragte den Radfahrer: „Veranstalten Sie hier eine Protestaktion, ein Meeting?“ Nachdem er ein überzeugtes „Nein“ zur Antwort bekommen hatte, rief er die Krimwehr.

„Wissen Sie, als der Bus mit den uniformierten und maskierten Personen ankam, war mir gar nicht zum Lachen zumute. Ich war zum ersten Mal froh darüber, in ein Polizeirevier gebracht zu werden, und nicht etwa zum Vergraben in den Wald“, erzählt er.

Sergej Dub hat drei Kinder und sogar schon einen Enkel. Man sieht ihm den Großvater aber gar nicht an, auch nicht den Arzt. Er ist ein Vertreter der Mittelschicht, mit vielen Interessen, Auslandsreisen und einer eigenen Position. Er lobt die Klinik, in der er arbeitet, und ist stolz darauf, dass er eine therapeutische Abteilung für Erwachsene ins Leben gerufen und diese viele Jahre geleitet hat.

Als man ihn ins Polizeirevier brachte, fragte er ganz ruhig: „Als die Krim ukrainisch war, nahm niemand Demonstranten mit russischen Flaggen fest, verbot niemand den Russischen Marsch. Warum darf ich nicht mit der ukrainischen Flagge auf die Straße gehen?“

Sergej Dub bekam damals eine Geldstrafe in Höhe von eintausend Rubel.

Eine Woche später erzählten ihm seine Anästhesisten-Kollegen, dass ihnen seine Stellung angeboten wurde. Aber nicht das empört ihm am meisten, sondern dass es den Schulkindern, die in ukrainischen Klassen lernten, schlecht erging. Ihre Klassen, in denen auf Ukrainisch gelehrt wurde, sind aufgelöst worden. Sein Sohn, der in die zehnte Klasse geht, wurde zu Verwandten nach Lwiw geschickt, um die Schule zu beenden.

„Die letzten acht Jahre baue ich an einem Haus für meine Familie. Und ich glaube, wenn das nicht wäre, würde ich mich auch von allem hier trennen“, erzählt er.

Noch vor der Annexion betrug das offizielle Gehalt von Sergej Dub etwa achttausend Hrywnja. Gleich danach sechzigtausend Rubel (zum damaligen Wechselkurs von eins zu fünfunddreißig mehr als eintausendsiebenhundert Dollar). Heute ist er einfacher Arzt und bekommt zirka vierzigtausend Rubel bzw. fünfhundertsiebzig Dollar.

„Sie können mir meinetwegen das Gehalt verfünffachen, aber wenn ich nicht in Ruhe sagen darf, was ich denke – kann man das denn mit irgendetwas kompensieren? Mein Leben hat sich im Laufe dieses Jahres verschlechtert. Eindeutig. Ich bin bereit, dreimal weniger zu bekommen, wenn hier doch nur wieder die Ukraine wäre“, denkt Dub laut.

Nachdem sie diese Worte gehört hatte, schaltete die dienstbeflissene Kellnerin auf den ukrainischen Kanal „STB“ um, der hier über Satellitenschüsseln zu empfangen ist.

„Meine Mutter ist Russin, mein Vater Ukrainer. Ich selbst beherrsche die ukrainische Sprache nur schlecht“, sagt der Anästhesist, wobei er irgendwohin in die Ferne blickt. Würde ich seinen Beruf nicht kennen, hätte ich jetzt auf Psychologe getippt.

Ich bitte ihn zu erzählen, wie sich die medizinischen Standards geändert haben. Sein Gesicht hellt sich auf, als er erzählt, wie russische Ärzte in das Perinatalzentrum kamen und sahen, dass die Technologien und Apparate, welche auf der Krim zum Einsatz kommen, bei ihnen erst für das Jahr 2018 geplant sind.

„Wir retten Frühgeborene seit 2014 ab der zweiundzwanzigsten Woche, in Russland tun sie das ab der achtundzwanzigsten, und das auch erst seit zwei Jahren“, erzählt er.

Eine obligatorische Krankenversicherung, zu der man in der Russischen Föderation übergegangen ist, baut nach Meinung von Sergej Dub auf dieselben Prinzipien wie die sowjetische Medizin.

„Es hat sein Für und Wider. Besser ist, dass der Patient anscheinend nichts zahlen muss, aber schlechter ist, dass wir ihn nur im Rahmen der bereitgestellten Mittel behandeln können, und wenn zusätzliche Medikamente oder Untersuchungen notwendig sind, können wir sie nicht verordnen, das wird von der Versicherung nicht abgedeckt. Und wenn man sie verordnet, bezahlt man sie aus eigener Tasche. Heute kann man den Patienten nicht mehr wie früher in die Apotheke schicken, damit er sich die notwendigen Medikamente dazukauft“, erzählt der Anästhesist.

Er und seine Kollegen vermuten, dass sich deshalb die Sterberate erhöhen wird. In seinem Perinatalzentrum sind die Zahlen gestiegen.

„Es gibt da so ein Präparat, das man den Frühgeborenen als Tropfen verabreicht, damit sich die Lungen öffnen. In der Ukraine wurden die Kosten für dieses Präparat von einem staatlichen Programm abgedeckt, und heute importiert die Russische Föderation dieses Präparat nicht“, beschwert sich der Doktor.

Beim Abschied erzählt er eine Geschichte aus dem wahren Leben auf der Krim. In der gynäkologischen Abteilung fing vor einem halben Jahr der Sohn eines stellvertretenden Ministers der Krim zu arbeiten an, erschien aber nur selten an seinem Arbeitsplatz. „Dann bekam der Direktor irgendwie einen Anruf aus dem Ministerium mit der Frage, was für eine antirussische Brutstätte er dort bei sich hätte. Es stellte sich heraus, dass unser neuer Mitarbeiter uns auf dem Diktiergerät aufnahm. Er schaltete es ein, wenn er das Büro verließ“, erzählt Sergej Dub.

Abends gingen der Anästhesist und ich eine leere Straße in Simferopol entlang und sangen die ukrainische Hymne. Ringsum war alles so von „Loyalität“ durchdrungen, dass selbst uns in einem gewissen Moment unser seelischer Ausbruch wie eine unzulässige Ausschreitung vorkam.

„Wenigstens nach Cherson sollte man fahren und Freiheit atmen. Ich habe nämlich das Gefühl, dass man mit mir irgendein soziales Experiment veranstaltet“, konstatiert Dub betrübt.

„Es scheint, man erwacht allmählich aus der Massenhypnose, und was bleibt, ist die Realität.“

„Sieh aus dem Fenster was für eine schöne Aussicht ich habe“, sagt die 52-jährige Unternehmerin Irina (Name geändert) zu mir. Die Aussicht ist aber auch wirklich umwerfend: auf der einen Seite in nur knapp einem Kilometer Entfernung das Meer, auf der anderen Seite die Berge der Krim.

„Weißt du, in letzter Zeit gehe ich überhaupt nicht mehr aus dem Haus“, sagt sie. „Solange ich im Internet ukrainische Nachrichten lese, ist alles in Ordnung. Aber wenn ich in die Tasche greife, habe ich Rubel in der Hand.“

Irina hat einen kleinen Buchladen und seit ein paar Jahren eine Verkaufsstelle an der Uferpromenade in Gursuf. Das Einkommen der letzten Jahre gestatte es, ein Haus zu bauen und durch die Welt zu reisen. Ihren Worten nach war auch die Tourismussaison 2014 nicht schlecht. „Aber es fühlt sich an, als wäre die Zukunft gestohlen und ausgewechselt worden“, sagt sie, den Blick in die Ferne gerichtet. Die Aussicht aus ihrem Fenster macht sie scheinbar schon lange nicht mehr froh.

Den ganzen Sommer über hing über ihrem kleinen Laden eine ukrainische Flagge. Ein seltenes Bild, das auf der Krim einem Aufruf gleichkommt.

„Weißt Du, was sich in dem einen Jahr verändert hat? Neulich habe ich eine Bekannte getroffen. Sie stammt aus Archangelsk, verbrachte ihr gesamtes bisheriges Leben auf der Krim und ist Russlandfan. Wir haben uns unterhalten und ich sage zu ihr: ‚Verstehe meine Position: Russland heute – das ist ein faschistisches Land, welches Krieg gegen die Ukraine führt.‘ Vor einem halben Jahr hätte es einen Aufschrei und von Passanten Proteste gegeben. Jetzt wog der Verkäufer, der unser Gespräch gehört hatte, mir umsonst Dattelpflaumen ab. Es scheint, man erwacht allmählich aus der Massenhypnose, und was bleibt, ist die Realität“, erzählt Irina.

Übers Jahr hat sich in Irinas Familie sehr viel verändert. Ihr Sohn, ein Programmierer, ist mit seiner Familie nach Kiew gezogen. Ihre Nichte aus Kiew hat „aus weltanschaulichen Gründen“ ihre Wohnung dort verkauft und ist mit ihrem Biker-Ehemann nach Magnitogorsk gegangen.

Mit ihrem Bruder und dessen Frau, diese seien sogenannte Krimnaschisten, spricht Irina schon seit einem halben Jahr nicht mehr. Ihr Mann möchte die russische Staatsbürgerschaft und hat vor, beim Sohn in der Ukraine zu leben, und Irina selbst meldet ihr Geschäft nach den Vorschriften der Russischen Föderation neu an.

Ihren Worten nach ist die Gesetzgebung der Russischen Föderation zur Regulierung kleiner und mittlerer Unternehmen im Vergleich zur Ukraine weitaus komplizierter.

„Während wir in der Ukraine verstanden hatten, dass Unternehmer eine treibende Kraft der Gesellschaft sind, sind wir jetzt in ein Land geraten, das von Steuern Bodenschätze fördernder Firmen lebt. Kleinunternehmen ernähren in der Russischen Föderation das Land nicht, deshalb kann man ihnen zusetzen. Ansehen genießen Beamte und Staatsangestellte“, erzählt sie.

Ein weiteres Merkmal der neuen Zeit sind ihren Worten nach die Warteschlangen, die nicht nur bei den Meldeämtern entstehen, sondern auch dort, wo es sie längst nicht mehr gab, in der örtlichen Poliklinik zum Beispiel. Früher reichte es, ein Kärtchen bei der Anmeldung in Empfang zu nehmen, heute muss man nach einem Talon Schlange stehen.

„Früher trafen sich die Großmütterchen in ihren Häusern, heute in den Warteschlangen. Sie sind in eine für sie komfortable Realität zurückgekehrt“, sagt Irina.

Mit einem breiten Lächeln erzählt sie, wie für sie völlig unerwartet das Neue Jahr nach Kiewer Zeit mit nicht weniger Feuerwerk begrüßt wurde als um Mitternacht Moskauer Zeit.

Was bedeutet das?

Dass es auf der „loyalen“ Krim dennoch Menschen gibt, die mit der Ukraine verbunden sind.

27. Februar 2015 // Anastassija Ringis

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:    — Wörter: 3581

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