Eigentlich hatte ich schon lange vorgehabt, eine Fortsetzung des Artikels über die Rückkehr der Krim zu schreiben, aber dann kam der Gedanke zu verreisen… Natürlich nicht in die okkupierten Gebiete. In den befreiten Teil des Donezker Gebietes, um die dortige Situation zu erleben, um mit den örtlichen Bewohnern zu sprechen. Das ist mir gelungen, meine Eindrücke teile ich, speziell auch in diesem Text.
Also, beim letzten Mal habe ich die Notwendigkeit begründet, die Bewohner der okkupierten Krim zu Anhängern einer Rückkehr der Halbinsel unter ukrainische Kontrolle zu machen. Ich wiederhole: Es wird weder Deportationen noch Massenflucht von Bewohnern von der Krim geben, deswegen müssen wir, wenn wir das Gebiet zurückholen wollen, die Meinung der örtlichen Bevölkerung einbeziehen.
Im Donezker Gebiet habe ich mit vollkommen zufälligen Bürgern gesprochen, die der Ukraine, sagen wir, mit Misstrauen gegenüberstehen, also ihrem Staatsapparat. Sie berichten zum Beispiel, dass man für eine beliebige Kritik an der Regierung in die Fänge des SBU (Sicherheitsdienst der Ukraine, A.d.Ü.) geraten kann unter dem Vorwurf des Separatismus, mehr noch, sie behaupten, der SBU habe einen Plan hinsichtlich der Anzahl festgehaltener Separatisten. Nach ihren Worten werden viele von ihnen nur zur Erfüllung dieses Plans festgehalten. Es gibt wenige, denen das gefällt. Doch unterdessen hat keiner meiner Gesprächspartner Sympathien für die DNR (Volksrepublik Donezk, A.d.Ü.) ausgedrückt: mit Empörung erzählten sie sowohl von Rechtslosigkeit als auch davon, was es bedeutet „in den Keller zu geraten“ (orig. russisch, A.d.Ü.) sowie von der Sperrstunde und dem „Abpressen“ von Eigentum. Nach der Logik dieser Leute besteht die Ursache für das Entstehen der DNR im Majdan und der Hauptschuldige ist Janukowytsch, der von seinem Posten floh anstatt die Stabilität aufrechtzuerhalten. Die Ukraine in Gestalt des Jahres 2012 erscheint ihnen wie das verlorene Paradies.
„Die Leute haben Brei im Kopf“, sagt einer der Leser. Ja, Brei. Doch leider können sich nur wenige Bürger der Ukraine – sowohl im Westen als auch im Osten – kritisch zu diesem „Brei“ positionieren, nicht nur zu dem im fremden, sondern auch im eigenen Kopf. Und noch weniger sind sie fähig, mit Opponenten zu sprechen, die entgegengesetzte Position vertreten.
Das Problem der Ukraine ist im weitesten Sinne das gleiche Problem wie mit dem schwarzen Hund, was ich schon einmal erwähnt habe. Wenn zwei über einen schwarzen Hund reden, meint der eine einen Pudel und der andere eine Bulldogge. In diesem Fall wäre das Beste, was eine qualitative nationale Elite tun könnte (falls sie auf wundersame Art und Weise erschiene und dann auf noch wundersamere Weise an die Macht käme), anzufangen, der Gesellschaft die unbequeme Wahrheit zu sagen und zugleich klare Prioritäten zu setzen. Grob gesagt, im Konflikt zwischen angenommenen „Banderowzy“ (Anhänger des westukrainischen Nationaliste Stepan Bandera, A.d.Ü.) und angenomenen „Stalinisten“ die Verbrechen beider Seiten objektiv zu zeigen und zu erklären, dass das Ziel eines unabhängigen ukrainischen Staates darin besteht, dass niemand töten, betrügen oder auf irgendeine Weise einen Bürger der Ukraine deswegen einschränken kann, weil er einer „falschen“ ethnischen oder religiösen Gruppe angehört, einer „falschen“ Klasse, weil er eine „falsche“ sexuelle Orientierung hat oder irgendwelche Ereignisse der Vergangenheit oder Gegenwart „falsch“ behandelt. Stattdessen bestraft der Staat unausweichlich konkrete Taten, die auf gewaltsames Antasten der Unabhängigkeit, territorialen Integrität und auch auf die Verletzung von Gesetzen und Bürgerrechten ausgerichtet sind.
Mit dem Donbass (Donezbecken, A.d.Ü.) hatten wir noch Glück: Die Marionetten DNR und LNR (Volksrepublik Lugansk, A.d.Ü.) sind so karikativ-ineffektiv, dass die Ukraine vor diesem Hintergrund freilich sogar attraktiv aussieht. Mit der Krim ist es schlimmer. Das Problem ist, dass sich die Ukraine nach allen Kräften müht, etwas schlechter als Russland dazustehen. Bei uns gibt es bis heute wilde Korruption, von unseren Unternehmern kann man bis heute das Geschäft „abpressen“, unsere Politiker füttern uns bis heute mit pseudo-patriotischem Populismus und die Polizei kann auf einen Notruf nicht kommen oder eine unangenehme Angelegenheit „vertuschen“. Alles genauso wie auch in Russland, aber Russland hat jetzt mehr Geld – dank seiner natürlichen Ressourcen.
Deshalb sollten wir für die Rückholung der Krim vor allem aufhören „Postsowjets“, „Kleinrussland“ zu sein. Ja, das ist schwer, das ist ein Thema für viele Artikel und Diskussionen, doch die ukrainischen Bürger, die auf der besetzten Krim leben, müssen die Unterschiedlichkeit zwischen der Ukraine und Russland deutlich spüren. Es wäre nicht schlecht, wenn das so ein Unterschied wäre wie zwischen Russland und Lettland. Der Bürger muss deutlich verstehen: Die Ukraine unterscheidet sich von Russland nicht nur in der Sprache, der Flagge und ethnographischen Denkmälern. Die Ukraine ist grundverschieden und dies im besseren Sinne.
Ein anderer Aspekt ist die Klarheit hinsichtlich der Perspektiven der Krim und ihren Bewohnern im Bestand der Ukraine. Leider bringen die populistischen Ausfälle unserer unverantwortlichen Politiker keine Klarheit: Wie behandelt die Ukraine die Teilnehmer und Organisatoren des Pseudoreferendums? Wie behandelt sie die, die während der Okkupation auf die Krim gezogen sind? Was wird mit Kauf- und Verkaufsverträgen und mit Enteignungen, die in den Jahren der Besatzung stattgefunden haben? Und was ist mit den Mitarbeitern der Besatzungspolizei und des FSB (russischer Inlandsgeheimdienst, A.d.Ü.)?
Eine weitere Frage betrifft die Krimtataren. Zurzeit wird, mit populistischem Ziel, die Umwandlung der Autonomen Republik Krim in eine Autonome Krimtatarische Republik besprochen. Obwohl am wahrscheinlichsten eine Gewährleistung kultureller Rechte ethnischer Russen auf der Krim gerade dann Gegenstand internationaler Gespräche und Kompromisse wird, wenn einer der zukünftigen Anführer Russlands der Statusänderung der Halbinsel zustimmt. Und was dann? „Entschuldigen Sie, verehrte Krimtataren, Sie bekommen keine Autonomie?“ Anstelle dessen kann man schon jetzt funktionierende Strukturen einer krimtatarischen kulturpolitischen Repräsentation erschaffen, die auf dem ganzen Gebiet einer zentralstaatlichen Ukraine tätig wären. Das ist viel besser als der Beginn einer Föderalisierung nach ethnischen Gesichtspunkten.
Ich verstehe, dass das oben Gesagte vielen unannehmbar vorkommen wird. Viele Leute meinen, dass man einen Staat einfach aufbauen muss: Es gibt unsere patriotische Position, alle, die dagegen sind, sind Feinde, Feinde muss man vernichten, einsperren oder fortjagen, alles nach unserem Duktus herrichten und schwupp, ist die Ukraine stark, geeint, frei und mächtig. Aber genau so haben all jene gedacht, die sich in die Reihen der „Volkswehr des Donbass“ und der „Selbstverteidigung der Krim“ begeben haben.
Der Weg zur Einheit der Ukraine kann nur über Reformen unseres veralteten Staatsmechanismus‘ und landesweiten Dialog führen. Machen Sie sich keine Illusionen, dass man das durch hurrapatriotische Parolen und Propaganda ersetzen kann: Das hat in der totalitären UdSSR nicht funktioniert und es wird auch in der Ukraine nicht funktionieren, die trotzdem bedeutend offener für die Welt ist. Die zu trauriger Berühmtheit gelangten Rufe „Erhört den Donbass“ und „Erhört den Südosten“ funktionierten als propagandistische Parolen allein deswegen, weil sie das Hauptproblem der Ukraine offenbarten: Ein Teil der Ukrainer spürt beständig, dass die Regierung sie nicht hört. Aber früher hat sich das einfach in der Unzufriedenheit der Bewohner anderer Regionen kanalisiert, welchen die Regierung (im Unterschied zu „uns“) schließlich zuhört.
Inzwischen verstehen alle ein bisschen, unabhängig von der Oblast des Wohnortes, dass die Regierung niemanden hört außer sich selbst. Bleibt nur, zu lernen, einander zu hören und zu verstehen. Ja, das ist nicht einfach, aber einen leichten Weg gibt es nicht.
29. August 2018 // Pawlo Subjuk
Quelle: Zaxid.net
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