Leben nach der Epidemie: Kirche


In der postsowjetischen Ukraine sind Kirchen zu einer heiligen Kuh geworden.

Ich denke, wir haben alle oft und bis zur Banalität die einfachen Worte gehört, dass wir nach der Quarantäne nicht mehr so sein werden wie zuvor. Zweifellos können wir die Vergangenheit nicht zurückbringen, aber die Frage ist, müssen wir sie zurückbringen? Um zu verstehen, wie sich die globale Epidemie der Coronavirus-Infektion auf unser tägliches Leben auswirkt, müssen wir darüber nachdenken, wie wir vor dieser epochalen Veränderung eigentlich waren. Und was ist, wenn sich die Pandemie als Lackmustest erweist? Nämlich zu versuchen, die Rolle und Bedeutung von Dingen zu überdenken, Zeichen, die längst ihre Funktion verloren haben und nur als gegebene Tradition „standardmäßig“ aufrechterhalten wird.

Die Coronavirus-Epidemie und die Einführung einer umfassenden Quarantäne haben gezeigt, dass wir in den meisten gesellschaftlichen und staatlichen Bereichen ein großes Problem haben. Und dass diesbezüglich die ganze Zeit früher einfach die Augen geschlossen wurden. War es denn für irgendjemanden ein Geheimnis, dass im Gesundheitswesen, in der Schule, an Universitäten, im akademischen und im Forschungsbereich katastrophale Zustände herrschten? Gab es jemanden, der nicht wusste, wie viele untalentierte Leute leitende Positionen auf verschiedenen Regierungsebenen innehaben, und sie unfähig sind, selbst die Arbeit einer kleinen Gemeinde zu organisieren? So haben das Coronavirus, genauer gesagt die Quarantänemaßnahmen, sie gleichsam nackt auf das Podium gestellt. Zur allgemeinen Darstellung ihren Status und ihres Potenzials.

Die Quarantäne wurde eine gute Gelegenheit, um zu reflektieren und zusammenzufassen, was wir in den letzten dreißig Jahren erlangt haben. Zu überlegen, wo es dünn ist, wo es zu grob ist und ohne was man ruhig auskommen kann. Das heißt, eine Neubewertung der eigenen Bedürfnisse und Wünsche vorzunehmen. Der heutige Artikel handelt von Weltanschauungen und spirituellen Dingen. Nämlich von der Rolle der Kirchen in unserem Leben.

Nach dem Fall des sowjetischen Systems befanden sich viele Menschen in einem Zustand völliger Orientierungslosigkeit. Menschen, die es gewohnt waren, dass man an sie denkt und sich um sie kümmert, und der Staat sollte ihnen ein Existenzminimum bieten. Kommunistische Ideale erwiesen sich als unerreichbar und naiv. Und das Wissen darüber, wie viele Menschenleben man in den Kampf zu ihrer Verwirklichung geopfert wurden, weckte nur regelrechten Hass. Die wiederholte Etappe der ursprünglichen Akkumulation von Kapital mit seinen Gaunereien, Morden und Ausplünderungen der ohnehin bereits armen Menschen zeigte, dass etwas mit der öffentlichen Moral und den universellen Werten nicht ganz stimmt. Und etwas musste damit getan werden.

Und dann traten die Kirchen wieder in den Vordergrund. Im ehemaligen Galizien wurde die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche wiederbelebt, die zu Sowjetzeiten wirklich in den Heiligenschein des Martyriums und der Verfolgung gehüllt war. Und der Kampf der Orthodoxen um die Unabhängigkeit vom Moskauer Patriarchat wurde als recht positiv bewertet, insbesondere im Hinblick auf die Bewegung für die staatliche Unabhängigkeit. Obwohl schon damals zu verstehen war, dass andere Kriterien für die Bewertung von Kirchen angewendet werden sollten. Seitdem erfreute sich die Kirche bei den Ergebnissen fast aller soziologischen Umfragen der höchsten Vertrauenswerte in der Gesellschaft. Dementsprechend begannen die Kirchen, allmählich für sich zu erobern, was nicht ihr Territorium ist. Sie begannen mit Politikern und der Regierung zu flirten. Sie begannen in Schulen einzudringen. Das heißt, sie sind immer mehr nationale oder politische Institutionen geworden. Kirchen haben ebenfalls eine Art Autorität über Menschen erlangt.

Mehr noch, sie haben es geschafft, den erstaunlichen Status der Extraterritorialität zu verteidigen. Den Glauben zu bekräftigen, dass Geistlichkeit und Mönchtum möglicherweise nicht den staatlichen Gesetzen unterliegen. Die Kirche muss keine Steuern zahlen, die Polizei darf betrunkene Priester am Steuer nicht bestrafen, Pädophile nicht verurteilen und der Staat muss die Augen vor dem völlig nichtkirchlichen Business verschließen, das religiöse Organisationen geschickt betreiben. Einige der gegenwärtigen Regierung nahestehenden Kirchen verwandelten sich in von staatlicher Kontrolle abgeschirmte Korporationen unter dem Patronat der höchsten Personen des Staates.

Das Problem lag auch darin, dass der säkulare Staat Ukraine seinen Bürgern keine freie Wahl ließ. Durch das Schauen von Live-Sendungen der Gottesdienste aus den Kirchen war es leicht herauszufinden, welche dieser Kirchen Favorit des Präsidenten ist. Die Anwesenheit der Präsidenten Juschtschenko, Janukowytsch und Poroschenko [Poroschenko ließ sich zumindest bis 2018 bei Gottesdiensten aller großen Kirchen blicken. A.d.R.] in einer bestimmten Kirche gab ein klares Signal dafür, welche Konfession ein Staatsmann für sich liebgewonnen hatte.

Dementsprechend waren die Kirchen selbst freiwillig und sogar mit verborgenen eigennützigen Absichten in schreckliche politische Kämpfe verwickelt. Wo es wenig Heiliges gab, blieben Politik und Wirtschaft. Eine wirklich einzigartige Situation hat sich ergeben, als der Staat nun in das Leben der Kirche eingegriffen hat, aber die Kirchen damit nur ihren Einfluss auf die staatlichen Behörden nur verstärkt haben. Dies ist die Trennung der Kirche vom Staat auf Ukrainisch.

Die größten Verluste hat die ukrainische Gesellschaft jedoch hinsichtlich des den Bürgern auferlegten mythischen Bewusstseins erlitten. Und dies hat sich weitestgehend jetzt während der Coronavirus-Pandemie manifestiert. Stadien der Säkularisierung der Gesellschaft sind Historikern bekannt. Genauer gesagt die Säkularisierung ihres Wissens über Natur und Welt. Sie wissen, dass es in der Vergangenheit sowohl Reformation als auch Gegenreformation gab. Sie wissen, welche große Rolle die Reformation gespielt hat, aber sie verstehen auch die Bedeutung der Veränderungen in der katholischen Kirche selbst nach den protestantischen [Konfessions-]Kriegen. Bekannt ist auch die historische Kehrtwende der katholischen Kirche zu Bildung und Schaffung von Universitäten. Dies galt jedoch nicht für unsere östlichen Kirchen.

Dementsprechend ernten wir jetzt die Früchte der „konservierten“ orthodoxen Tradition. Genauer gesagt, der Reduktion auf die Absolutheit des Rituals und der Verehrung materieller Gegenstände. Was es nicht in der orthodoxen Tradition gab, war, das Wesen des Christentums zu klären, sondern man bestand darauf, Traditionen und Rituale blind einzuhalten, für uns darauf zu bestehen, dass sich viele nicht als Christen vorstellen ohne Eucharistie mit einem Löffel von Mund zu Mund. Ohne das Kreuz und die Ikonen zu küssen. Ohne sich dem Epitaphios, dem Grabtuch [Christi in der Karfreitagsliturgie] zu nähern und es zu küssen. Nicht an die Heiligkeit des Gebets bei Abstand zur Kirche zu glauben.

Das heißt, der derzeitige Ungehorsam gegenüber den Quarantäneanordnungen der Regierung ist ein Zeugnis dafür, dass die Gläubigen das Wesen des Christentums nicht verstehen und es nur mit der rituellen Wiederholung bestimmter Bewegungen und der Verehrung bestimmter materieller Gegenstände identifizieren. Die orthodoxen Gläubigen und die Kirchengemeinschaft betrachten Quarantänebeschränkungen als eine Verletzung ihres Glaubens, da sie nicht in der Lage sind, Gott als allgegenwärtige Abstraktion wahrzunehmen. Ich wiederhole, in diesem Fall geht es nicht um kirchliches Geschäft, das mit der physischen Präsenz von Gläubigen in der Kirche zusammenhängt. Spenden an die Kirche für die Amtshandlungen, für die Weihe von Weidenzweigen und Osterkörben, für den Kauf von Kerzen. Oft werden Spenden an orthodoxe Kirchen für die Beichte und das Küssen von Ikonen geleistet. Hier geht es um die ausgebildete Vorstellung davon, was ein Christ ist. In seiner merkantil gestutzten Version, wenn ein Christ derjenige ist, der zur Kirche ging und mit der Kirche „quitt geworden ist“. Die Quarantäne hindert in der Vorstellung dieses Typs von Christen sie daher daran, ihren Glauben zu stärken, und wird allgemein als Einschränkung ihrer Freiheit angesehen.

Wegen der Weigerung, den Gesetzen und Vorschriften des Staates Folge zu leisten, beispielsweise die Vorschriften des Gesundheitsministeriums umzusetzen, Massenbesuche in Kirchen zu verbieten, Räumlichkeiten ohne Grund zu verlassen und aufzurufen, ihm Widerstand zu leisten, muss der Staat die seltsame „Extraterritorialität“ der Kirche endgültig beseitigen. Was ist gemeint? Es sollte für das Gesundheitsministerium während der Epidemiesituation keine geschlossenen Objekte geben: Klöster, Religionsgemeinschaften, Kirchen. Diejenigen, die fordern, nicht zu Hause zu sitzen, sondern am Feiertag in die Kirche zu gehen, sind gesetzlich zur Verantwortung zu ziehen. Weil solche Maßnahmen seitens des Staates die Gewissens- und Religionsfreiheit in keiner Weise einschränken. [Die Kirchenvorsteher der Griechisch-Katholischen Kirche und der Orthodoxen Kirche der Ukraine — Swjatoslaw und Epifanij — forderten ihre Anhänger auf zu Hause zu bleiben. Im Gegensatz dazu hielten Moskauer und das wesentlich kleinere Kiewer Patriarchat ihre Gottesdienste teils unter Missachtung jeglicher Hygienegebote ab. A.d.R.]

So, wie die Aktivitäten von Polizei und Sanitätern in der israelischen Stadt Bnei Brak, die von Charedim (ultraorthodoxen Juden) bewohnt wird, nicht beeinträchtigt wurden. Ebenso vernünftig verhielt sich die Regierung von Griechenland, als sie einen örtlichen Bischof wegen boshaftem Ungehorsams gegenüber staatlichen Anordnungen verhafteten.

Leider sind die Kirchen in der postsowjetischen Ukraine zu einer heiligen Kuh geworden, die ermahnt und ermutigt werden muss. Zudem gibt es eine Art Urangst vor den Flüchen der verschiedenen Kultusdiener. Die Polizei hat Angst, Geistliche zu Ordnung zu rufen, für ein Verbrechen oder Vergehen klar zu „verknacken“. Stadtbeamte haben Angst, das Labor für paranormale Phänomene [in Lwiw, A.d.Ü.] zu schließen, weil es ihnen Schaden zufügt. Lehrer und Schulleiter haben wegen möglicher massiver Verfolgung Angst, einen Priester in der Schule nicht zuzulassen, was er auch immer vor den Kindern rausbringt, welchen Unsinn er im Hinblick auf Biologie, Physik und Chemie nicht ausspricht.

Jetzt steht den ukrainischen Behörden eine schwierige Aufgabe bevor: der Polizei das Betreten des Gebiets der Lawra von Potschajiw zu ermöglichen und den Ärzten den Zugang zu kranken Mönchen zu sichern. Am Vorabend des Osterfestes alle Klöster für den Besuch von Außenstehenden zu schließen. Priester und Hierarchen nicht zu ermahnen, sondern streng zu bestrafen wegen Verstoßes gegen die Quarantäne. Jedes Flirten der Regierung und der Kirche in dieser Situation ist sträflich. Es kann leicht die Ergebnisse der monatlichen Quarantäne annullieren und zu schrecklichen menschlichen und materiellen Verlusten führen.

Anstelle einer Schlussfolgerung. Überraschenderweise zwang erst die Coronavirus-Pandemie die Ukrainer, die Rolle von Kirchen und religiösen Vereinigungen in der Gesellschaft rationaler zu betrachten. Sie hat gerade gezeigt, dass Staat und Kirche getrennt werden sollten. Die Trennung der Kirche vom Staat bedeutet jedoch keineswegs das Recht der Kirche, die staatlichen Gesetze nicht zu befolgen. Weil alle Bürger in den Rechten und der Verantwortung vor dem Gesetz gleich sind.

17. April 2020 // Wassyl Rassewytsch

Quelle: Zaxid.net

Kommentar des Übersetzers zum Hintergrund: Zunächst hatte sich in den vergangenen Wochen das Coronavirus unter den Mönchen und Studenten und im Lehrkörper des Geistlichen Seminars des Kiewer Höhlenklosters / Lawra intensiv verbreitet, woraufhin endlich das Kloster für Außenstehende geschlossen und in Quarantäne versetzt wurde. In den vergangenen Tagen verbreiteten sich dann Nachrichten, denen zufolge zunächst der Vorsteher des Klosters, Metropolit Pawlo, dann auch der Leiter der Kirche, Metropolit Onufryj – er unter anderem Namen – und auch Metropolit Antonij in einer Klinik stationär behandelt werden. Dies wurde von Metropolit Antonij dementiert. Inzwischen gibt es im Kloster über 100 Infizierte. Später wurden ähnliche Corona-Nachrichten über die westukrainische Lawra von Potschajiw verbreitet, deren Mönche sich bislang einem Coronatest verweigerten. Das „Gottvertrauen“ oder die Furchtlosigkeit teilen sich mit den Orthodoxen des Moskauer Patriarchats, die zuletzt nach Schließung der Lawra gleichwohl nun – unter Einhaltung von Hygieneabständen – zum Empfangen des aus Jerusalem eingeführten Heiligen Feuers in der benachbarten Kirche der Afghanen (Auferstehungskirche) einluden, aber auch manche griechische Katholiken in Stadtteilen von Lwiw oder in Sambir. Auch sie feierten Karfreitag weiter in Gemeinschaft, so wie der Metropolit Onufrij bislang ankündigte, „standardmäßig“ den Ostergottesdienst in der Lawra zu halten.

Nach Verstößen während der Ostergottesdienste gegen die Quarantäne-Anordnungen – nicht mehr als zehn Personen in einer Kirche mit einem Mindestabstand von anderthalb Metern und Mundschutz – in den Lawren von Potschajiw und im ostukrainischen Swjatohirsk, im Donezker Gebiet, leitete die Polizei Strafverfahren ein.

Übersetzer:    — Wörter: 1851

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