Der Marsch der Blinden


Wenn ein klassische Gemälde geeignet ist das einmalige Kolorit der ukrainischen Politik wiederzugeben, dann steht das Bild von Pieter Bruegel Der Blindensturz“ außer Konkurrenz.

Sich aneinander festhaltend, bewegen sich sechs Blinde vorwärts.

Der Führer der Blinden stolpert und fällt in die Schlucht, wohin unvermeidlich auch seine Genossen geraten, auch wenn sie nichts ahnend, forsch ihrem Anführer folgen.

Die Unfähigkeit in die Zukunft zu blicken, strategisch zu denken und die Situation um einige Schritte im voraus zu berechnen wurde zur wirklichen Geißel des einheimischen Politikums. Ein deutliches Beispiels für derartige Blindheit sind die aufgeführten Nachwahlauseinandersetzungen zwischen Julia Timoschenko und der Partei der Regionen.

Die Anführerin des Blocks Julia Timoschenko weigerte sich entschieden die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen anzuerkennen – sie ließ sich dabei weder von den Bewertungen der internationalen Beobachter, noch von den Daten der sechs Exit-Polls, noch von den Empfehlungen der vernünftigen Mitstreiter, die Timoschenko zu einem zivilisierten Übergang in die Opposition zu bewegen versuchten, in Verlegenheit bringen.

Mit dem forschen Schritt des Bruegelschen Helden wandte sich Julia Wladimirowna an das Oberste Verwaltungsgericht der Ukraine, um für den dritten Wahlgang zu kämpfen. Heute hilft der Vorstoß von Timoschenko den neugewählten Präsidenten Janukowitsch zu schwächen. Doch morgen?

Die plumpe Parodie des Jahres 2004 stieß viele Ukrainer , die den Maidan unterstützt hatten, ab, doch eben die Stimmen dieser Leute benötigt Julia Timoschenko bei zukünftigen Wahlen.

Die Einwohner des Südens und Ostens machen sich lustig über Timoschenko lästern über die Premierin, doch träumt sie nicht davon ein millionenköpfiges Land anzuführen, indem sie zur landesweiten Führerin wird?

Die Weltöffentlichkeit schaut mit Unverständnis auf Julia Wladimirowna, die sich selbst zur einzigen Trägern der Wahrheit in der gesamten Galaxie erklärt hat. Doch geht die Rede von den strategischen Partnern der Ukraine, mit denen Timoschenko auf gleicher Augenhöhe kommunizieren will!

Das Verhalten der Partei der Regionen zeugt in dieser Situation ebenfalls von großen Problemen mit der politischen Sicht.

Der Sieg von Janukowitsch sollte maximal sauber aussehen und das Gerichtsverfahren maximal offen. Doch die Regionalen, die sich mühten BJuT zu neutralisieren, haben sich weder am 3. Februar, als sie eilig das Präsidentschaftswahlgesetz änderten, noch am Tag der Abstimmung, noch im Verlaufe der Verhandlungen am Obersten Verwaltungsgericht, als Saubermänner erwiesen. Damit haben die Mitstreiter Wiktor Fjodorowitschs die soziale Legitimität des neuen Präsidenten unterminiert.

Ein Teil der ukrainischen Bürger ist überzeugt davon, dass in die Bankowastraße (Sitz des Präsidenten) bösartige Betrüger und Fälscher eingezogen sind, und perspektivisch sind das folgenschwere Probleme für Janukowitsch und Co.

Die voraussichtliche Illegitimität der Regierung verschärft die Spaltung des Landes, stört dabei unpopuläre Antikrisenmaßnahmen zu verwirklichen und wird als eine Art Carte Blanche für radikale Handlungen der Opposition angesehen.

Die Fehler, die von dem Team Wiktor Fjodorowitsch Janukowitschs, zugelassen wurden, werden die neue Regierung der Ukraine nicht nur einmal wiederbegegnen.

Und nur ein Blinder kann die eigene politische Zukunft dem Augenblick opfern …

Frau Timoschenko und ihre Feinde sollten sich an eine lehrreiche Geschichte aus dem Leben der blinden, doch übermäßig selbstbewussten Politiker erinnern.

Es ist Zeit anzuerkennen, dass Er wirklich Julia Wladimirowna besiegt hat. Er – das ist die globale ökonomische Krise, die sich seit dem Herbst 2008 entwickelt hat. Eben Er (Sie) und nicht der unselige Wiktor Fjodorowitsch Janukowitsch wurde zum Hauptgegner der Premierministerin Timoschenko bei den Präsidentschaftswahlen 2010. Sie fand sich von Anfang an in der erniedrigenden ungewohnten Situation des Zurückliegenden wieder und das Team von Janukowitsch arbeitete an der Festigung des Resultats, welches Wiktor Fjodorowitsch von der ihm zugeneigten Fortuna beschert wurde.

Timoschenko wiederholte vollständig vorhersehbar das Schicksal des amerikanischen Präsidenten Hoover und des deutschen Reichskanzlers Brüning, die in der Großen Depression verbrannten. Ein an die Stelle von Julia Wladimirowna Timoschenko geratener weniger charismatischer Politiker, hätte kläglichere Ergebnisse eingefahren. Doch Julia Wladimirowna kann man nur schwer Opfer der Umstände nennen, denn im Herbst 2008 waren die Umstände günstig für die ukrainische Premierministerin.

Genau am 16. September als die Krise bereits die Weltgemeinschaft in Panik versetzte, doch diese noch nicht in die Ukraine angelangt war, wurde in der Werchowna Rada der Zerfall der demokratischen Koalition verkündet. Julia Timoschenko hatte eine ausgezeichnete Möglichkeit ein beleidigtes Gesicht zu machen, zurückzutreten und anschließend die verbrecherische Regierung zu entlarven, welche das Land in den Ruin treibt und sich selbst zur Retterin der Ukraine erklärend im Triumph die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen.

Heute bekräftigen die Apologeten von Julia Wladimirowna Timoschenko, dass die Premierministerin bewusst ihr Rating dem geliebten Vaterland geopfert hat. Doch es war alles noch prosaischer: Timoschenko hat einfach die Risiken unterschätzt, die mit der Weltwirtschaftskrise verbunden sind und konnte einfach ihre eigene politische Zukunft unter den Bedingungen der globalen ökonomischen Rezession nicht modellieren.

Julia Wladimirowna wurde von der eigenen strategischen Blindheit betrogen. „Die Ukraine lebt ökonomisch und finanziell stabil und ich kann fest behaupten, dass die Weltfinanzkrise nicht in die Ukraine überschwappt“, in diesen Worten von Timoschenko war nicht soviel Betrug, wie es scheint. Sie hat tatsächlich nicht vermutet, dass die Krise so stark auf ihre politische Karriere wirkt und alle Karten vor den Präsidentschaftswahlen neu mischt.

Denn der Premiersposten ist die greifbare Regierung, reale Vollmachten, hündische Ergebenheit der Untergebenen, die Möglichkeit den Puls des Landes in der Hand zu halten. Und die globale ökonomische Krise ist eine Abstraktion. Sie wütet irgendwo hinter dem Ozean. Und wenn sie in der Ukraine auftaucht, kann man sie mit gewollten Regierungsdirektiven und strengen Verboten ersticken. Die ergebenen Zöllner und Steuerleute auf sie loslassen. Lohnt es sich wirklich auf die reale Premiersmacht wegen so einer Bagatelle zu verzichten?

Hier ist sie, die Mentalität der ukrainischen Elite des 21. Jahrhunderts. Die Leute, die sich für Titanen halten, schließen den Gedanken aus, dass sie in einem Augenblick zu hilflosen Zwergen werden können, Gefangenen der Umstände, Geiseln objektiver Faktoren.

Die blinden Vertreter der Partei der Regionen brauchen nicht zu jubeln, denn die Führerschaft von Wiktor Janukowitsch ist ganz und gar nicht von einer kunstvollen Rechnung, sondern einem banalen Erfolg vorbestimmt worden. In den schicksalhaften Tagen des Jahres 2008 waren die Gegner Timoschenkos ebenso kurzsichtig wie sie selbst.

Als die berühmte Lehman Brothers Bank bankrottierte, der bedrohliche Schatten der Weltwirtschaftskrise sich der Ukraine näherte, einigten sich die Regionalen hingerissen mit Baloga und träumten von einer großen Koalition und gemütlichen Regierungskabinetten.

2008 kämpften unsere politischen Blinden um den elektrischen Stuhl, diesen als Trampolin zur zukünftigen Präsidentschaft ansehend. Die heldenhafte ukrainische Opposition hatte einfach Glück, die BjuT-Leute erwiesen sich als gewandter und vermochten es mit Litwin zu handeln und die unkäuflichen Kommunisten heranzuziehen.

Mit eisernen Ellenbogen und Fäusten gerüstet, entriss Timoschenko Wiktor Fjodorowitsch das sehnlich gewünschte Ticket für die „Titanic“…

Folglich hat im Präsidentschaftswahlkampf der globale Faktor, der nicht von einem der führenden politischen Spieler berücksichtigt wurde, eine bestimmende Rolle gespielt.

Es drängt sich eine trostlose Schlussfolgerung auf: unsere Politiker sind nicht fähig zum strategischen Denken, sogar in den Fällen, wenn die Rede von ihren hauseigenen Interessen geht. Falls ein Mensch nicht in der Lage ist, sich für seine Lieblingsdinge gedanklich zu bewegen, kann man dann annehmen, dass er dies für die Ukraine getan hat?

Die intellektuelle Höchstleistung der ukrainischen High Society besteht aus angewandter politischer Taktik und augenblicklichen Intrigen: vorübergehende Mehrheiten im Parlament zusammenzimmern, das notwendige Gesetz durchbringen, einen Gerichtskrieg gewinnen, Geld für unaufschiebbare Vorwahlbedürfnisse herausschlagen, dem gehassten Konkurrenten ein Bein stellen …

Alle Handlungen der einheimischen Elite sind von der Logik des heutigen Tages bestimmt. Der morgige Tag bleibt den blinden ukrainischen Politikern verborgen: sie können nicht so weit blicken.

Um für die Ukraine einen würdigen Platz in der modernen Welt zu finden, muss man unbedingt diese Welt sehen – veränderlich, unbequem, mit verborgenen Gefahren und harten Prüfungen. Doch das gesamte ukrainische Politikum ist so primitiv, wie die flache Erde der alten Inder, die auf vier Elefanten ruht.

Die umgebende Welt besteht für die einheimische Elite aus Herstellern eleganter Straußenschuhe und Garnituren von Louis Vuitton, den Orten von Offshore-Zonen und teuren Kurorten.

Im äußersten Fall ist es der gute Onkel, den man um Geld oder politische Unterstützung bitten kann. Unsere Blinden sind nicht in der Lage außerhalb der Grenzen der Ukraine die Quelle globaler Herausforderungen zu sehen.

Um das Land aus den Ruinen zu erheben, muss man spüren und verstehen, womit und wie die derzeitige Ukraine lebt. Man muss dutzende der wichtigen Aspekte sehen, aus denen sich das Gesamtbild zusammensetzt – ökonomische, soziale, rechtliche, regionale und humanitäre. Eine derartige Aufgabe steht außerhalb der Kräfte der Politiker, die aufrichtig glauben, die Situation im Land zu kontrollieren indem sie ihre Leute in der Zentralbank, der Steuerverwaltung oder dem Obersten Verwaltungsgericht haben.

„Wenn ein Blinder den Blinden führt, fallen beide in die Grube“, verkündet eine biblische Weisheit. Wenn politisch Blinde die Ukraine in die strahlende Zukunft führen, endet das wirklich kläglich – sowohl für sie, als auch für das Land.

Traurig ist, wenn die Personage, die das unsterbliche Bild Bruegels verlässt, auf die Rolle unseres Blindenführers Anspruch erhebt. Doch noch trauriger ist es, dass viele Ukrainer wie gehabt bereit sind ihnen zu folgen.

23. Februar 2010 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1471

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