Massenproteste gegen die Steuerreform
Die Werchowna Rada ist gestern die Verabschiedung des Steuergesetzbuches angegangen. Als Antwort führten Vertreter kleiner und mittlerer Unternehmen massenhafte Protestaktionen im ganzen Lande durch. Allein in Kiew demonstrierten gegen den Beschluss der Finanzverfassung nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen zehn- und vierzigtausend Menschen. Etwa dreitausend Unternehmer übernachten vor dem Parlament bis zum „siegreichen Ende“.
Sich vor dem Gebäude der Werchowna Rada zu versammeln begannen die Unternehmer bereits am frühen Morgen. Viel von ihnen kamen bereits einen Tag vorher mit Bussen aus ihren Städten. Um den Platz vor dem Parlamentsgebäude konnte man Transparente sehen, die darüber informierten, dass Unternehmer aus Tschernigow, Krementschug und dem Donbass angereist waren, um gegen das Steuergesetzbuch zu protestieren. Am Morgen wurden den Angaben des Innenministeriums nach etwa zehntausend Protestierende gezählt. Sie begrüßten die zur Arbeit gehenden Abgeordneten mit Missfallensrufen und dem Klopfen leerer Eimer auf dem Asphalt.
Eine angespannte Atmosphäre gab es auch im Sitzungssaal, wo Oppositionsvertreter die Abstimmungsplätze mit Transparenten „Nein zum Steuerterror!“, „Tigipko! Wo sind die Steuerferien!“ bedeckt hatten. Ihnen gelang es verbundene Luftballons, an denen sie ein Plakat mit einem „Kukisch“ (Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger, schwer beleidigende Geste) befestigt hatten, in den Saal zu bringen und diese unter die Kuppel des Saales steigen zu lassen. Diese Aktion rief Empörung beim Vorsitzenden der Werchowna Rada, Wladimir Litwin, hervor.
„Ich bitte das Sekretariat darum festzustellen, wer von den Parlamentsabgeordneten das getan hat. Wir werden es ihnen vom Gehalt abziehen, dass Arbeiter, für die sie so sehr brennen, ein Gerüst errichten und diese ihre künstlerischen Erzeugnisse entfernen!“, erklärte Litwin ins Schreien übergehend. Diese Entscheidung wurde von 244 Abgeordneten unterstützt.
Derweil gewann die Versammlung vor dem Rada-Gebäude an Kraft. Die Vertreter kleiner und mittlerer Unternehmen entrüstete, dass die Parlamentsabgeordneten sich weigerten den Vorschlag zu unterstützen, dass der Gang der Anhörung auf dem Platz vor dem Parlament übertragen wird. „Was fürchtet Ihr? Das eigene Volk!“, war aus den Reihen der Versammlungsteilnehmer zu hören, die, keine Unterstützung vonseiten der Parlamentsabgeordneten sehend, damit begannen die Werchowna Rada mit Toilettenpapier, Tomaten und Kleingeld zu bewerfen.
Die Protestierenden errichteten zwei improvisierte Tribünen, auf denen abwechselnd Aktivisten auftraten. Sie wandten sich nicht nur an die Abgeordneten, sondern auch an Präsident Wiktor Janukowitsch, der im Falle einer Verabschiedung des Steuergesetzbuches dieses entweder unterzeichnen oder ein Veto einlegen und es zur Nachbearbeitung ins Parlament zurücksenden kann. „Sehr geehrter Wiktor Fjodorowitsch, ungeachtet der von ihnen versprochenen Steuerferien und Reformen, sind diese nicht eingetreten!“ – war in einer von ihnen zu hören – „Im Falle des Beschlusses des Steuergesetzbuches wird es für kleine und mittlere Unternehmen keine Chancen geben! Unser Leben und die Arbeit wird vollständig von den Steuerleuten und den Milizionären abhängen!“
Mitarbeiter der Rechtsschutzorgane, die zusammen mit den Versammlungsteilnehmern im Marinskij Park standen, verfolgten aufmerksam die Auftretenden. „Bislang verhalten sie sich normal, doch der Verkehr wurde gesperrt“, sagte den Journalisten der Leiter der Kiewer Hauptverwaltung des Innenministeriums der Ukraine, Alexej Krikun. „Wir dokumentieren es jetzt und werden die Frage zum Anführer der Aktion lösen. Zuerst erstellen wir ein Protokoll, dass sie den Verkehr gesperrt haben.“
Heben wir hervor, dass die Mehrzahl der Teilnehmer der Aktion keinerlei Parteien vertreten haben – die Unternehmer haben sich nicht für die Vertretung von politischen, sondern von konkreten ökonomischen Interessen zusammengetan. Eine derartige Massenversammlung konnte die Opposition jedoch nicht ungenutzt lassen. Das Erscheinen der Parteiführerin von „Batkiwschtschyna/Vaterland“, Julia Timoschenko, war nicht geplant, doch sie als unerwünschten Gast zu bezeichnen, wäre zuviel.
„Wir können unsere Rechte vertreten und auf diese Regierung einwirken, wenn wir nicht nachlassen“, erklärte die auf die Tribüne geratene Timoschenko unter begeisterten Zurufen. „Doch wenn wir denken, dass ein Tag vor dem Parlament zu stehen reicht, dann ist das nicht so. Und glaubt mir, dass zehn Familien, die zur Zeit die Regierung verkörpern, nicht gegen 46 Mllionen bestehen können. Die Hauptsache ist, wie es die Erfahrung anderer Länder zeigt, nicht inne zu halten. Denn die Regierung rechnet damit, dass Sie sich versammelt haben, um einige Stunden zu stehen und danach nach Hause zu fahren.“
Bemerkenswert ist, dass der Auftritt Julia Timoschenkos nur 15 Minuten dauerte. Am Schluss rief sie die Teilnehmer der Aktion dazu auf den Sitz des Präsidenten zu belagern, wenn das Parlament das Steuergesetzbuch beschließt. „Das nächste was wir tun können, ist zu diesem Palast auf der Bankowaja zu gehen und zu sagen: Nicht unterzeichnen! Und ich möchte aus irgendeinem Grunde daran glauben, dass zehntausende Bürger in der gesamten Ukraine ihr Wort dazu sagen. Wir haben alle Chancen das Inkrafttreten dieses Dokuments zu stoppen“, erklärte die Führerin von „Batkiwschtschyna“.
Als Antwort begann der ganze Platz vor der Rada zu rufen: „Julia! Julia! Wir sind mit dir!“ Den Zufall nutzend, entschied sich Timoschenko die Demonstrierenden abzulaufen.
„Haltet durch, wir werden siegen“, in dem Ton sprach sie zu ihnen.
„Gemeinsam sind wir viele, uns überwindet man nicht“, tönte die Menge zurück. Einige der Unternehmer waren so gerührt, dass sie sogar zu weinen anfingen.
Gegen Abend begannen die Teilnehmer der Aktion auseinanderzugehen. Danach tauchte übrigens im Mariinskij Park ein Zeltstädtchen auf. Abends ging bei den Unternehmern ein Gerücht um, dass das Petschersker Kreisgericht die Erlaubnis gab, die Organisatoren der Massenversammlung zu verhaften und die Versammlung auseinanderzujagen und dass die Versammlungsteilnehmer in der Nacht „eingepackt/eingefahren werden“.
Jedoch verbreitete später die Presseabteilung der Kiewer Hauptverwaltung des Innenministeriums eine Nachricht, dass die Hauptstadtpolizei nicht beabsichtigt Gewalt anzuwenden, da jeder Bürger „das Recht auf die Durchführung von friedlichen Aktionen hat“. Dies versicherte den Versammelten auch der zu ihnen herausgetretene Parlamentsabgeordnete Wladislaw Lukjanow (Partei der Regionen).
Im Moment der Drucklegung der Nummer blieben bei der Werchowna Rada ungefähr etwa zwei- bis dreitausend Menschen. „Wir werden hier bis zum siegreichen Ende stehen. Jemand bleibt über Nacht, ein anderer kommt morgens erneut“, erklärte dem „*Kommersant-Ukraine*“ einer der Unternehmer. „Einfach so aufzugeben, haben wir nicht vor.“
Ljudmila Dolgopolowa, Alexander Swiridenko
Die Ukraine vereinigte sich in Protesten gegen die Annahme des Steuergesetzbuches.
Märkte, Geschäfte und Kioske schließend, gingen die Unternehmer auf die Straße. Die größte Aktion fand in Chmelnyzkyj statt – etwa zehntausend Menschen versammelten sich bei der Oblastverwaltung mit Plakaten „Steuergesetzbuch von Tigipko und Asarow – Genozid an den Unternehmern“. „Nein der Steuersklaverei“ und skandierten „Regierung – hau ab!“, „Wir werden diesem schändlichen Steuergesetz so lange nicht nachkommen, wie sich die Regierung nicht mit den Unternehmern an einen Tisch setzt und unsere Vorschläge berücksichtigt“, erklärte die Organisatorin der Versammlung, die Vorsitzende der Gewerkschaft „Schutz der Unternehmer Chmelnyzkyjs“, Nadeshda Knez. Da niemand der Leitung der Oblastverwaltung zu den Protestierenden hinausging, entschieden einige Leute sich persönlich mit deren Leiter Wassilij Jaducha zu treffen, jedoch wurden sie von der Security nicht hineingelassen. Danach bewegte sich die Menge der Protestierenden zum Eingang der Oblastverwaltung und beschädigte die Türen, was von der Security und Mitarbeitern der Miliz unterbunden wurde.
Etwa jeweils fünftausend Unternehmer führten Versammlungen in Charkow, Tschernowzy und Nikolajew durch. In Nikolajew reichten vor dem Beginn der Protestaktion etwa einhundert Personen bei der Registrierungskammer des Stadtrates Erklärungen/Anträge auf den Verzicht der unternehmerischen Tätigkeit ein. Protestteilnehmern und Passanten wurden Zeitungen mit Empfehlungen zum Schutz des Unternehmens ausgehändigt. In einigen Städten wurden die Unternehmer von den Taxifahrern unterstützt. So arbeiteten in Charkow vom Morgen an die Taxidienste nicht und an der Protestaktion nahmen etwa 300 Autos teil. Sie fuhren in einer Kolonne im Stadtzentrum, dabei ununterbrochen hupend. In Shitomir nahmen in der ersten Tageshälfte zehn von 15 städtischen Taxidiensten keine Anrufe entgegen.
Weniger Protestierende gab es in Lugansk, Tschernigow, Winnyzja, Ternopil, Poltawa, Dnepropetrowsk, Sumy, Iwano-Frankiwsk, Donezk und Lwiw. Im Kreis Stryj der Oblast Lwiw versperrten etwa tausend Unternehmer für drei Stunden die Straße Kiew-Tschop und sammelten etwa tausend Unterschriften für die Durchführung eines Referendums um Präsident Wiktor Janukowitsch das Misstrauen auszusprechen.
Panas Sbirnyj
Quelle: Kommersant-Ukraine