Michail Dubinjanski: Lügendetektor für die ukrainische Gesellschaft


Das politische Lexikon der Ukraine ist um einen Neologismus erweitert worden – „Pädophil-Gate“ oder einfach „Pädogate“.

(Zum behandelten Skandal finden sich hier und hier kurze Informationen)
Bis vor kurzem schien es noch, als hätten sich unsere Landsleute an die permanenten, politischen Skandale gewöhnt und würden sich vermeintlich Aufsehen erregende Enthüllungen schon nicht mehr sehr zu Herzen nehmen. Doch die schockierende Geschichte von der Verführung Minderjähriger ließ wohl niemanden kalt.

Der Autor beabsichtigt nicht, hier eine moralische Bewertung „Pädogates“ vorzunehmen oder sich ins kriminalistische Dickicht zu begeben. Festzustellen, wer schuldig und wer im Recht ist, bleibt letztendlich schwierig.

Leider ist eine abscheuliche, schwarze PR nicht immer sofort mit einer Lüge gleichzusetzen. Der professionelle Propagandist ergießt sich leicht in Falschheiten, schlachtet aber noch viel begeisterter reale Episoden aus, die den Gegner verleumden könnten.

Als die faschistische Zeitung „Völkischer Beobachter“ 1933 über Massenhunger und Kannibalismus in der UdSSR schrieb, war dies auch klare, schwarze PR, und die progressive, westliche Öffentlichkeit wies die gemeine Verleumdung entschieden zurück. Wer konnte den faschistischen Phantastereien über sich gegenseitig verspeisende Menschen im Land des siegreichen Sozialismus glauben?!

Eines ist klar: Um die Spreu vom Weizen zu trennen, bedarf es unabhängiger Autoritäten, denen alle Schichten der ukrainischen Gesellschaft ihr Ohr schenken, unabhängig von ideologischen Sympathien oder politischen Ansichten.

Bedauerlicherweise gibt es solche Autoritäten in der modernen Ukraine nicht und es kann sie auch nicht geben. Hier besteht das Hauptproblem.

Jene schockierende Geschichte offenbarte zwei nationale Krankheiten, die eng miteinander verbunden sind – vollkommenes politisches Desinteresse und totales Misstrauen.

Unsere Landsleute vertrauen weder Richtern und Miliz, noch Ministern, Parlamentariern, Rechts- oder Staatsanwälten. Aber noch viel trauriger ist, dass die so genannte „vierte Gewalt“ im Staat vollkommen diskreditiert ist. Die Gesellschaft konnte sich nicht nur einmal davon überzeugen, dass die einen Journalisten ihre professionellen Standards aufgrund von Geld vernachlässigen, die anderen aufgrund von Ideen.

Erstere arbeiteten 2004 im Dunkeln, letztere berichteten über russische Spezialeinheiten auf der Bankowaja, wissend, dass die Informationen nicht überprüft und deshalb fragwürdig waren, und gleichzeitig im Bewusstsein, dass es für den Sieg des Guten über das Böse nötig sei.

Wer glaubt nach allem überhaupt den Einen oder den Anderen?

Eine Gruppe von Medienleuten aus dem national-demokratischen Lager hat die Kollegen schon dazu aufgerufen, den Sexualskandal nicht zu kommentieren, insofern die „Feststellung der Schuldigen nicht die Aufgabe von Politikern und Journalisten“ sei. Ich halte fest, dass während des Verschwindens von Georgij Gongadse oder der Vergiftung Juschtschenkos die heute Unterzeichnenden anderer Meinung waren und sich weder über die Geheimhaltung der Ermittlungen, noch die Unschuldsvermutung oder das internationale Image der Ukraine beunruhigten.
Damals kämpften sie mit dem anrüchigen Regime Kutschmas, heute aber befürchten sie, unfreiwillig zu Marionetten in den Händen der anrüchigen Partei der Regionen zu werden.

Ideelle Ansichten wurden primär, Vorstellungen von der Mission eines Journalisten und den Standards journalistischer Arbeit weitgehend sekundär…

„Pädogate“ ist schon dazu verurteilt, zur Geisel politischer Sympathien und Antipathien zu werden. Die Aufrufe zum Verzicht auf die Politisierung einer so großen Sache sind vollkommen sinnlos – eine hoffnungslose Utopie. So oft die sakralen Mantras von der unparteiischen und objektiven Nachforschung auch wiederholt werden, kommen sie doch der Realität nicht einmal nahe.

Der Franzose Christophe Charle veröffentlichte die neugierige Untersuchung „Die Schriftsteller und die Dreyfus-Affäre: Das literarische Feld und das Feld der Macht“. Die Einstellung der französischen Autoren zum Spionageskandal 1894 hing geradewegs von der Zugehörigkeit zu dieser oder jener literarischen Gruppe ab.

So wurden beispielsweise fast alle Dramaturgen überzeugte „Anti-Dreyfusianer“, während Symbolisten und Avantgardisten zumeist leidenschaftliche Anhänger Dreyfus´ waren. Im universitären Milieu ließ sich eine ähnlich deutliche Abgrenzung feststellen: Die eine Fakultät beschuldigte Hauptmann Dreyfus des Landesverrats, während die andere mit Petitionen zu seiner Verteidigung auftrat.

Man sollte meinen, dass literarische Geschmäcker oder der Ausbildungsort überhaupt nichts mit der Bewertung der Beweisführung in einem solchen Fall zu tun hätten. Aber in Wirklichkeit überbietet die Kraft von Gemeinschaften – seien sie beruflich, politisch oder ideologisch bedingt – die Fähigkeit zur selbstständigen Analyse der Fakten sehr schnell.

„Dreyfusianer“ und „Anti-Dreyfusianer“ betrachteten die Vorgänge mit den Augen ihres jeweiligen Klubs: Die Einen schenkten der Beweisführung vorbehaltlos Glauben, die Anderen lehnten diese mit der gleichen Bedingungslosigkeit ab.
Gruppierungen der „Ukolowianer“ und „Anti-Ukolowianer“ tauchten in ukrainischen Blogs und Foren schon in den ersten Tagen des Skandals auf. Die öffentliche Aufmerksamkeit richtet sich auf den Skandalfall, aber die Mehrheit der Beobachter lässt sich dabei nicht von der Liebe zur Wahrheit oder vom Mitgefühl zu den geschädigten Kindern leiten, sondern von Feindseligkeit zum Block Julia Timoschenko oder zur Partei der Regionen.

Für jene, die von Beginn an von der Schuld/Unschuld Ukolows und seiner Kollegen überzeugt waren, ist der weitere Verlauf der Ermittlungen nicht von Bedeutung.
Sollten sich die Beschuldigungen in Richtung des BJuT (Block Julia Timoschenko) nicht bewahrheiten, so werden die Hasser Julia Timoschenkos sicher sein, dass die Abgeordneten auf Befehl von oben verschont blieben. Sollten sich die Anschuldigungen bestätigen, so werden die Gegner der Partei der Regionen sagen, dass diese zusammen mit Putin und Beresowski Beweistücke gefälscht und Zeugen gekauft hätte.

Ein geschlossenes, ideologisches System ist fähig, beliebig viele, von außen kommende Argumente und Fakten zu neutralisieren, zerstört werden kann es nur von innen heraus.

Westliche Sowjetophile weigerten sich, an die stalinistischen Verbrechen zu glauben, bis der Generalsekretär der KPdSU Chruschtschow die Repressionen bestätigte. Und wenn Frau Timoschenko nicht zu dem Schluss gekommen wäre, dass es für den Abgeordneten Losinski besser wäre „aufzugeben“, so würden die Sympathisanten des BJuT bis heute behaupten, dass der „Kirowograder Schütze“ ein Held wäre, verleumdet von den Feinden Timoschenkos.

Auf diese Weise kann ein gesellschaftlicher Konsens im „Fall der Pädophilen“ nur bei zwei Szenarien erreicht werden:

  1. Wenn der BJuT die Schuldigkeit seiner Abgeordneten anerkennt.
  1. Wenn die Partei der Regionen zugibt, ihre Opponenten absichtlich verleumdet zu haben.

Es muss hier nicht gesagt werden, dass beide Szenarien sehr unwahrscheinlich sind. Eher muss damit gerechnet werden, dass der ganze Skandal nicht abschließend geklärt werden kann.

Zu welchem Ergebnis die offiziellen Ermittlungen auch kommen mögen, im Bewusstsein der politisch aktiven Ukrainer werden zwei parallele, absolut unvereinbare Realitäten erhalten bleiben: Für die Einen die der scheußlichen, betrügerischen Abgeordneten, für die Anderen jene der unschuldigen, von ihren Feinden verleumdeten Demokraten.

Auf den ersten Blick scheint diese schockierende Geschichte das Rating Timoschenkos negativ zu beeinflussen und die Wahlchancen Janukowitschs zu erhöhen. Aber wagen wir es zu behaupten, dass sie am Ende beiden politischen Schwergewichten in die Hände spielen wird.

Es ist so, dass der derzeitige Skandal nicht weniger ein Instrument zur Spaltung und Polarisierung der Gesellschaft ist, wie die Wörter „NATO“, „Hand Moskaus“ oder „OUN-UPA“; wahrscheinlich sogar effektiver, da es das heiligste, die Kinder, berührt. „Pädogate“ erhöht den Grad der Unversöhnlichkeit innerhalb der ukrainischen Gesellschaft und ermöglicht die Mobilisierung politischer „Fanklubs“; und das passt sowohl Janukowitsch als auch Timoschenko.

Eine solche Sache hilft dabei, den Wähler in ein falsches Dilemma zu zwingen: „Man darf niemals zulassen, dass eine Bande von Vergewaltigern und Pädophilen, gedeckt durch die Führung des BJuT, an der Macht bleibt. Man muss für Janukowitsch stimmen!“, rufen die Propagandisten der PR den Wählern schon zu.
„Die Feinde Timoschenkos schrecken nicht einmal vor den schmutzigsten Methoden zurück, für sie ist nichts heilig! Es dürfen keine moralischen Missgeburten an die Macht kommen, unsere Pflicht ist es, Julia zu unterstützen“, so tönen die PR-Experten Timoschenkos.

„Die Sache mit den Pädophilen“ ist nicht nur eine Schande für unser Land, sondern auch ein weiterer Keil, der zwischen unsere Landsleute getrieben wird. Die „zwei Ukrainen“ treiben weiter auseinander und einen Berührungspunkt zu finden, wird immer schwerer.

Harmonie und Einverständnis drohen einer Gesellschaft nicht, in der diese und jene Politiker für Verführer von Minderjährigen oder zu Unrecht verurteilte Märtyrer gehalten werden. Wenn politische Ansichten die ukrainischen Bürger dazu bewegen können, mit Schaum vor dem Mund mögliche Verbrecher zu verteidigen oder vorbehaltlos den ungeheuerlichsten Anschuldigungen zu glauben, dann hat dieses Land keine Perspektive…

Diese unschöne Geschichte hat zum wiederholten Mal gezeigt, dass sich unsere Politiker nicht in Gute und Böse, Ehrliche und Lügner, Demokraten und Banditen, Moralische und Unmoralische bzw. Schuldige und Unschuldige einteilen lassen. Sie teilen sich ausschließlich in „die Eigenen“ und „die Anderen“.

Und leider ist ein großer Teil der ukrainischen Wählerschaft bereit, diese minderwertige Philosophie anzunehmen.

Michail Dubinjanski

Quelle: Ukrajinska Prawda

Übersetzer:   Stefan Mahnke  — Wörter: 1353

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