Das nationale Tschernobyl-Museum: Die scheinbare Abwesenheit von Politisierung – politisch oder unpolitisch?


Als Deutsche in der Ukraine überrascht, wie präsent Tschernobyl in den Gesprächen der Ukrainer ist. Familiengeschichten umfassen oft einen Liquidator, einen Soldaten oder Feuerwehrmann der Familie, der an den Aufräumarbeiten teilnahm. Auch die heutige Liebe der Ukrainer zum Regenschirm wird erklärt durch den damals hoch verstrahlten Regen. Andererseits kommt das Gespräch nie auf das Thema Atomkraft. Während in Deutschland das Unglück von Tschernobyl Atomkraft dauerhaft in Frage gestellt hat und heutige Atomenergie und Tschernobyl in Diskussionen untrennbar sind, scheint diese Verbindung in der Ukraine kaum zu existieren – trotz der deutlich schwereren Folgen auf dem eigenen Boden.

Die Masse der Bevölkerung unterstützt Atomenergie und auch den Bau der neun neuen Energieblöcke, die bis 2030 fertiggestellt werden sollen. Über den überaus maroden Zustand der ukrainischen AKWs (beispielsweise laut STUK, der staatlichen finnischen Agentur für Strahlung und Nukleare Sicherheit), ihre regelmäßigen technischen Störfälle wird nie gesprochen. So schrieb der ukrainische Präsident in einem Gastkommentar in der Tageszeitung Der Tagesspiegel im April 2011: „Während des Vierteljahrhunderts nach Tschernobyl hat es keine Ausfälle und keine Funktionsstörungen an den vier ukrainischen Kraftwerken gegeben“. Auch die Frage, wie die Regierung auf einen erneuten Unfall reagieren würde, ob sie ähnlich wie die sowjetische damals die Informationen verschleiern und damit die Gesundheit ihrer Bürger gefährden würde, stellt sich niemand.

Um zu verstehen, warum Ukrainer bei regem Interesse für Tschernobyl ihren aktuellen Reaktoren so wenig Aufmerksamkeit schenken, begeben wir uns in das nationale Tschernobyl-Museum in Kiew, das einzige Museum über dieses Thema in der Ukraine. Ohne anzunehmen, dass dieses Museum meinungsbildend für die gesamte ukrainische Bevölkerung ist, kann man es als Teil der Institutionen betrachten, die die ukrainische Herangehensweise an Tschernobyl und Atomkraft prägen und widerspiegeln. Mehrere Besuche des Museums mit verschiedenen Führungen, Audioguide und Interviews mit dem Museumspersonal und der Direktorin bringen uns hoffentlich der Antwort näher, weshalb Ukrainer Tschernobyl und heutige Atomkraft getrennt betrachten.

Als mögliche Erklärung könnte man annehmen, dass die ukrainische Bevölkerung als Ganzes eher unpolitisch wäre und sich eher mit der Trauer um die Opfer und der Bewunderung für Helden beschäftigt. In diesem Fall wären die meinungsbildenden Institutionen schlicht ein Spiegel der Gesellschaft und interessieren sich von Natur aus nicht für die Politisierung von Ereignissen wie Tschernobyl. Die entgegengesetzte Überlegung wäre, dass meinungsbildende Institutionen massivem politischen Druck unterliegen und nicht in der Lage wären, Kritik offen zu äußern. Folglich würden die Impulse zur Politisierung der Gesamtbevölkerung fehlen. In diesem Fall wären Museen durchaus meinungsbildend, führten aber aufgrund ihrer eigenen unpolitischen Aussage zu keiner Politisierung der Gesellschaft. Dieser Artikel sucht also das Politische in dem Tschernobyl-Museum in Kiew. Wir versuchen zu verstehen, in welcher Form das Politische existieren kann und weshalb.

Tschernobyl, die Tragödie

Ein Großteil des Museums zeigt dem Besucher eine Tragödie. Im Zentrum stehen die Feuerwehrleute, Soldaten und das Personal des Atomkraftwerks. Sie werden als Helden gezeigt. Sie kämpften, retteten viele Menschen und gingen selbst unausweichlich und heldenhaft unter. Der Audioguide beginnt mit den Worten: „Die 27 000 Exponate sind Zeugen der unmenschlichen Anstrengungen der Leute, die zu verschiedenen Zeiten in den kontaminierten Gebieten arbeiteten.“ Darauf folgt: „Die Exponate zeugen von den Heldentaten“. Diese Helden begegnen dem Besucher in großer Zahl beim Gang durch die Ausstellungsräume. In den Glasvitrinen ausgestellt drängen sich die persönlichen Briefe an Mutter, Ehefrau und Kinder – geschrieben vor oder auch nach der Liquidation. Unmengen von persönlichen Gegenständen wurden gesammelt, Kleidung, ein Kalender mit Anmerkungen, eine Brille, eine Uhr, ein Jagdmesser, ein Hochzeitsphoto und vor allem Orden und Auszeichnungen. Die Wände sind buchstäblich tapeziert mit Gesichtern, ein Photo dicht neben dem anderen. Auch wenn der Audioguide einzelne Personen herausgreift, mit Namen ihre Funktion und ihre Rolle in der Liquidation sowie ihren folgenden Krankheitsverlauf beschreibt, bleiben dennoch alle Liquidatoren und Angestellte des Kraftwerks eine Masse. Kommentare des Audioguides wie: „Er starb qualvoll. Woran dachte er wohl dabei?“ appellieren – so wie der Großteil der Ausstellung – an die Emotionen der Besucher, stellen aber die Person nie als tatsächliches Individuum heraus. Alle waren Helden, so scheint die Botschaft zu lauten. Negativbeispiele gibt es nicht. Der Audioguide deklamiert: „Die Angst sagte: ‚Halte dich fern von dieser Hölle‘- doch die Pflicht und das Verantwortungsgefühl waren stärker.“

Eine solche Darstellung überrascht weniger, wenn man den Ursprung dieses Museums kennt. Es handelte sich zu Anfang um eine Ausstellung zu Ehren und zur Erinnerung an die verstrahlten Feuerwehrmänner, initiiert und aufgebaut von ihren Kollegen. 1992 wurde es nationales Museum und das Denkmal verwandelte sich mit der Zeit in ein Museum, das, laut Direktorin, mehr umfassen will als die Heldentaten der Liquidatoren.

Als Heldentum noch politisch war

Fehler des Personals werden nur in einem Satz erwähnt: Politiker versuchten, Fehler des Personals als Grund für den Unfall darzustellen, nicht die fehlerhafte Konstruktion. Die kontroverse Natur der Schuldfrage wird nicht aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Tatsächlich ist eine Mitschuld des Personals nicht auszuschließen, da die Katastrophe eine Folge eines zu riskanten technischen Tests war, der begleitet war von Fehlern des Personals. Dies wird allerdings in dem Museum nicht erklärt. Auf den ersten Blick passt sich die heldenhafte Darstellung nahtlos in die Verklärung der Liquidatoren ein. Auch die Angestellten agierten als Liquidatoren, also waren auch sie Helden. Das Gespräch mit der Direktorin des Museums offenbart allerdings eine tieferliegende Bedeutung. In den ersten Jahren nach der Katastrophe wurde offiziell das Personal beschuldigt, für die Katastrophe verantwortlich zu sein. Es war verboten, diese Menschen als Helden darzustellen. Gleichzeitig bekamen viele von ihnen Orden und Auszeichnungen für ihre Taten – dies durfte aber nicht öffentlich gemacht werden. Informationen über das Personal wurden beispielsweise aus Dokumenten entfernt, wenn diese publiziert wurden. Die Direktorin des Museums sammelte damals Beweise, geheime Dokumente, für das Heldentum des Personals und stellte sie aus. Das Museum bekam damals den latenten Druck vonseiten der Macht zu spüren, der implizierte, dass diese Darstellung nicht erwünscht war. Die Botschaft des Museums war – und ist bis heute –, dass Konstruktionsfehler schuld an der Katastrophe waren. Diese Position war damals subversiv, da sie der offiziellen Darstellung widersprach. Heute aber ist dies auch in der Ukraine eine Banalität und entspricht der Position der Mächtigen.

Die Vermeidung von Kontroversen – eine Sammlung von technischen Fakten, Heldenkult und rosa gefärbter Zukunft

Angesichts der kritischen Haltung des Museums in seiner Gründungszeit überrascht es, dass es heute kaum politischen Sprengstoff bietet. Im Gegenteil, das Museum vermeidet Stellungnahmen zu Meinungsverschiedenheiten und sogar deren Erwähnung.

Den Hauptteil des Museums bildet die technische Darstellung des Unglücks, das sehr plastisch mit verschiedenen Modellen und Filmen gezeigt wird, und die darauffolgenden Aufräumarbeiten. Ein weiterer Schwerpunkt sind die Taten und das Schicksal der Liquidatoren. Die ökologischen Folgen der Reaktorkatastrophe werden nur am Rande erwähnt. Sehr faktenlastig und kaum illustriert, ohne Photos und Exponate, berührt diese Dimension des Desasters den Besucher wenig.

In einem Teil der Ausstellung wird ein philosophischer Blickwinkel auf Tschernobyl gewählt, in dem das Leben als sowohl düster als auch hoffnungsvoll dargestellt wird. Was die Zukunft betrifft, zeigt das Museum eher Hoffnung auf als Leid. Symbolisch wird mehrmals darauf verwiesen, dass viele Liquidatoren und ihre Familien großes Leid erfuhren, dass es aber auch Hoffnung gibt. Rot und Schwarz oder auch Weiß und Schwarz kontrastieren mehrfach symbolisch Leid und Hoffnung. Photos weinender Witwen hängen neben Photos glücklicher Paare und Kinder – Liquidatoren und die nachfolgende Generation. Eine Wand ist geradezu tapeziert mit Bildern von Kindern. Sie sind die erste Generation, die nach Tschernobyl geboren wurde und sie sollen zeigen, dass das Leben weitergeht. Dies ist sicherlich für die Betroffenen, die zu den Besuchern des Museums gehören, eine wichtige Botschaft. Dem Beobachter von außen fällt aber der Versuch auf, Kritik und Kontroversen zu vermeiden. Niemand soll beleidigt oder verstört werden.

Auf der Suche nach einer Stellungnahme

Sowohl die sehr spärlichen Beschriftungen der Exponate als auch der Audioguide vermeiden jeglichen politischen Kommentar. Beide versäumen es, die mangelhafte Informationspolitik beziehungsweise die Verschleierungstaktik der Sowjetregierung aufzudecken, die die Maiparaden stattfinden ließ und somit einen Großteil der ukrainischen Bevölkerung auf die Straßen lockte, obwohl sie wusste, dass die Strahlung dort gefährlich hoch war. Dies ist sichtbar in einem Originalfilm, der in der Ausstellung gezeigt wird: Erwachsene und Kinder laufen durch die sonnigen Straßen, während Milizionäre in Schutzanzügen patrouillieren. Dieses Material wird zwar gezeigt, bleibt aber unkommentiert – auch durch den Audioguide. In Führungen des Personals hingegen wird manchmal das Material kritisch erklärt und interpretiert.

Geschrieben wurde der Text des Audioguides von der Direktorin selbst und auch im persönlichen Gespräch distanziert sie sich nicht von ihm. Andererseits spricht sie überaus politisiert über Probleme aktueller Politik: zum Beispiel über die Lage der Liquidatoren heute und über die Notwendigkeit von Verantwortungsgefühl der Politiker, Wissenschaftler und Techniker im Umgang mit neuen Technologien, die eine Gefahr für die Menschheit darstellen können. Ihrer Ansicht nach ist die Erziehung der Menschen zu einer „Kultur der Sicherheit“ die Hauptaufgabe des Museums. Man dürfe dies nicht vernachlässigen, denn die Katastrophe von Fukushima zeige, dass auch scheinbare Sicherheit keine Garantie sei. Gefragt nach ihrer Meinung über Atomkraft, erklärt die Direktorin, sie sei heute gegen Atomkraft, denn ein Unglück sei nie auszuschließen und sie wisse heute, dass es Alternativen zur Energiegewinnung gebe. Diese in der Ukraine seltene Position ist umso erstaunlicher, zumal die aktuelle Stromgewinnung der Ukraine aus Atomkraft in dem Museum mit keinem Wort erwähnt wird.

Die Vermeidung des Politischen

Eine mögliche Erklärung für dieses Schweigen ist jene, die die Direktorin implizit selbst liefert. Sie meint, das Museum nehme keine politische Form an. Es biete nur Fakten, objektive Informationen, damit sich der Besucher selbst ein Bild machen könne. Das erklärte Ziel, den Besucher nicht zu bevormunden, überrascht jedoch. Im Gegensatz zu ihrer Aussage werden über viele Themen, beispielsweise die Situation des Reaktors heute und die Probleme der Konstruktion und Finanzierung des neuen Sarkophags, oder auch die Lage der heutigen Atomkraft in der Ukraine, die Planung neuer Reaktoren, die Lage der damaligen Liquidatoren heute, überhaupt keine Informationen geliefert – auch keine reinen Fakten. Könnte schon allein die Darstellung dieser Fakten als politische Beeinflussung der Besucher gewertet werden?

Es überrascht auch, dass in anderen Bereichen eine klare Haltung im Museum eingenommen wird und selbst der Audioguide offen den Besucher beeinflusst. Eine Ausnahme in der aufgezeigten Vermeidung von klaren Positionen stellt die Heroisierung der Retter dar. Einer der genannten Akteure wird vom Audioguide als „ein Beispiel an Tugend“ bezeichnet. Offen und mehrfach wird das Heldentum der Liquidatoren und des Personals idealisiert – nicht nur Fakten dargestellt.

Die versteckte Kritik

Die heutige Lage erscheint im Museum nur am Rande, und wenn dann eher durch die Kunst. Der letzte Raum des Museums ist ein buntes Gemisch verschiedener Kunstwerke, die zu einem großen Teil das Thema auf eine aktuelle Weise beleuchten. Der Boden besteht aus einer Rekonstruktion des Daches des Tschernobyl-Reaktors. In der Mitte des Raumes hängt ein vielschichtig symbolisches Boot unter einer Kirchenkuppel gefüllt mit Plüschtieren. Große Installationen, die sich quer durch den Raum ziehen, überdecken oder werden überdeckt von kleinen Exponaten. An den Wänden reiht sich eine Nische an die andere und jede thematisiert einen anderen Bereich. Aufgrund der Reizüberflutung durch die zahlreichen, sich überlappenden Kunstwerke erschließt sich dem Besucher aber nur ein Bruchteil der Symbolik und der Aussagen der verschiedenen Ausstellungsstücke. Einige von ihnen bieten durchaus Anregungen zu politischer Überlegung. Die Decke zeigt eine riesige Weltkarte, auf der kleine gelbe Lichter die heute aktiven Atomkraftwerke anzeigen. Der Audioguide verweist allerdings nicht auf die Decke und so bemerken die meisten Besucher dieses Werk überhaupt nicht. Nur wer an einer Führung teilnimmt, erfährt möglicherweise die Symbolik der Decke. Zumindest zwei der Führer verweisen auch explizit auf die Warnung dieser Karte: „Jedes dieser Lichter könnte ein potentielles neues Tschernobyl sein“ kommentiert eine Führerin.

Ein anderes Kunstwerk, ganz in der Ecke des Kunstraumes, stellt einen Brief eines ehemaligen Liquidators aus. Er schreibt auf seinen Liquidatorenausweis: „Ich verkaufe diese Karte für Dollars“. Die Führerin erklärt, dass dieser Liquidator nicht mehr stolz auf seine Liquidatorenarbeit ist, denn er sei enttäuscht vom Staat, der ihn nicht unterstützt. Liquidatoren bekämen nur sehr geringe Hilfe und würden vom Staat hauptsächlich als finanzielle Last betrachtet, die man möglichst vergessen wolle. Doch auch dieser Fakt bleibt dem uninformierten beziehungsweise unpolitischen Besucher ohne Führung verborgen, denn das Kunstwerk verkriecht sich unkommentiert in einer Ecke hinter den vielen anderen Photos und Exponaten.

Dabei ist das Personal insbesondere bezüglich des Schicksals der Liquidatoren überaus politisiert. Sowohl die Direktorin als auch die Führer positionieren sich im persönlichen Gespräch klar auf der Seite der Liquidatoren, die sich „heldenhaft für das Vaterland geopfert haben“ und nun vom Staat vergessen werden. Diese Position kann auch während einer Führung mündlich geäußert werden, wird aber im Audioguide nicht erwähnt.

Wie frei die Führer in ihrer inhaltlichen Gestaltung der Führung sind, ist unklar. Der Einfluss vonseiten der Direktorin und des übergeordneten Personals scheint eher diffus. Bevor die Führer zu arbeiten beginnen, wird ihnen eine schriftliche Vorgabe wichtiger Elemente einer Führung sowie Literaturempfehlungen überreicht. Nach einer Vorbereitungsphase machen die zukünftigen Führer Testführungen vor ihren Vorgesetzten und müssen dann ihre Führung entsprechend der Kritik anpassen. Wie strikt der Inhalt während der Berufsausübung nach der Testphase kontrolliert wird, ist schwer zu sagen. Jeder Führer hat die Freiheit, Aspekte herauszustellen, die ihm wichtig erscheinen, und so unterscheiden sich die Führungen voneinander. Angesichts der Tatsache, dass ihre Kommentare deutlich kritischer und reflektierter sind als die des Audioguides und die Beschriftungen, kann man von einer gewissen Freiheit ausgehen.

Gleichzeitig ist die Kontrolle vonseiten der Direktorin nicht zu unterschätzen. Interviews dürfen die Führer nur nach Erlaubnis der Direktorin geben. Zudem verlangt sie nach dem Interview von dem Führer eine Auflistung der gestellten Fragen. Auch vor dem Interview mit ihr selbst, wollte sie sehr genau wissen, wer die Forscherin ist, für wen sie schreiben würde, über welches Thema genau und in welcher Form es veröffentlicht werden würde. Die Direktorin war deutlich besorgt darüber, was aus ihrem Museum an die Öffentlichkeit dringen könnte.

Das Politische des Unpolitischen – Erklärungsversuche

Das Verhältnis der Direktorin zur Rolle des Museums und der Kunst scheint zwiespältig zu sein. Die ausgewählte Kunst ist durchaus politisch und kritisch gegenüber der aktuellen Politik in der Ukraine und auch gegenüber Atomkraft. Man muss davon ausgehen, dass sich die Direktorin dieser Dimension der ausgewählten Kunst bewusst ist, auch da sie deren politische Positionen im persönlichen Gespräch durchaus selbst äußert. Andererseits wird der subversive Charakter der Kunst verschleiert – und hierbei auch verwässert. Besucher werden nicht darauf hingewiesen und die Räume dermaßen überfrachtet, dass ein intuitives Verständnis deutlich erschwert wird. Heinrich Bölls Ausspruch „Immer noch ist die Kunst ein gutes Versteck: Nicht für Dynamit, sondern für geistigen Sprengstoff“ scheint sich hier nicht zu bewahrheiten, denn der geistige Sprengstoff ist zu gut versteckt. Nur diejenigen können ihn bemerken (und auch das ist nicht sicher), die schon überaus politisiert sind, wenn sie das Museum betreten.

Die Führer selbst geben an, ihre Führungen inhaltlich an das Publikum anzupassen. Es ist deshalb möglich, dass sie sich nur dann an politisch riskante Kommentare wagen, wenn sie den Eindruck haben, die Besuchergruppe teile diese. Eine solche Art der Anpassung ist sicherlich verbreitet und verständlich, grenzt aber die Wirkung des Museums stark ein. Wieder werden nur die schon Politisierten weiter politisiert und den Unpolitischen wird vieles vorenthalten.

Warum wird die politische Kritik mündlich geäußert, sowohl im persönlichen Gespräch als auch in der Führung durch das Museum mit einem Führer? Warum wird dann die Kritik der Kunst hervorgehoben, polemische Werke gezeigt, während Beschriftungen und Audioguide dies völlig unterlassen? Eine Erklärung mag sein, dass eine verbale oder in Kunst versteckte Kritik diffus genug ist, um akzeptiert zu werden. Audioguide und Beschriftungen hingegen sind zu greifbar und deshalb heikel.

Man könnte nach Zensur suchen, doch sie zu finden ist schwierig. Die Direktorin erklärt, Zensur gäbe es heute nicht. Sie beschreibt, wie sie zu Zeiten der UdSSR bei ihrer Arbeit im Museum des Großen Vaterländischen Krieges in Kiew für jedes Schildchen die Erlaubnis von Übergeordneten einholen musste, wie alles kontrolliert und abgesegnet wurde. Heute, so sagt sie, sei sie frei. Sie brauche niemanden zu fragen, bevor sie ein Ausstellungsstück in ihre Vitrinen stellen könne oder ein Schild anbringe. Doch dies ist eine sehr oberflächliche Abwesenheit von Zensur.

Der heutige Einfluss der Macht ist höchst wahrscheinlich deutlich unterschwelliger und deshalb auch schwerer zu ergründen. Hier werden einige Erklärungsmöglichkeiten dargestellt. Auch eine Kombination mehrerer Gründe ist denkbar.

Eine Möglichkeit der Einflussnahme ist der Generaldirektor des Museums. Ivan Gladusch war Innenminister der Ukraine von 1982 bis 1990 und einer der Organisatoren der Liquidation des Tschernobyl-Desasters. Heute 82 Jahre alt, mischt er sich nicht mehr aktiv in das Tagesgeschehen des Museums ein. Er wird aber vom Personal als ein Beschützer des Museums beschrieben, der dank seiner guten Kontakte zu den Mächtigen der heutigen Politik das Museum vor unliebsamen Einflüssen in Schutz nimmt. Einige Minister kritisieren beispielsweise, dass das Museumspersonal des Tschernobyl-Museums höhere Löhne bekäme als das Personal anderer Museen. Außerdem soll, Gerüchten zufolge, das ukrainische Parlament diskutiert haben, das Gebäude des Museums anderweitig zu nutzen oder zu verkaufen. In diesen Fällen wird Ivan Gladusch nachgesagt, er habe durch seine Kontakte das Museum geschützt. Es ist aber höchst wahrscheinlich, dass Gladusch das Museum nicht nur vor äußeren Veränderungen bewahrt, sondern auch vor radikalen inhaltlichen Veränderungen von innen. Stark sowjetisch geprägt, ist seine Konzeption eines Museums vermutlich eine unpolitische.

Zudem muss man anmerken, dass das Museum dem Ministerium für Innere Angelegenheiten untersteht, und nicht wie die meisten Museen dem Ministerium für Bildung und Wissenschaft. Das Ministerium für Innere Angelegenheiten der Ukraine gilt als besonders konservativ und geschlossener Kreis. Als Geldgeber und offiziell Übergeordneter des Museums hat es eine nicht zu unterschätzende Macht über das Weiterbestehen des Museums und das Schicksal seines Personals. Im Gespräch wird klar, dass der Direktorin dieses Museum sehr viel bedeutet. Sie scheint ehrlich überzeugt von dessen Wichtigkeit, da es das einzige über dieses Thema in der Ukraine ist. Zweifellos will sie weder ihre eigene Position noch die Zukunft des Museums gefährden, indem sie politisch unerwünschte, offensichtlich kritische Kommentare in ihr Museum integriert.

Unklar ist, wie konkret und real der Druck von außen auf das Museum ist. Selbstzensur ist wahrscheinlicher als explizite Intervention von oben. Möglich ist eine unausgesprochene und diffuse Angst vor öffentlicher politischer Kritik, die noch aus Sowjetzeiten stammt. Die Direktorin erwartet unbewusst, dass eine Art Aktivismus des Museums negative Folgen haben würde – ohne es auszuprobieren.

Laut der Künstlerin Jewgenija Belorussez kann man die Vorsicht mit der Selbstdefinition des Museums als Teil des Staates erklären. Da es sich um ein nationales Museum handelt, versteht sich das Museum als Bestandteil des Staates, den man deshalb nicht negativ darstellen sollte. Das Museum würde sich selbst als Nestbeschmutzer betrachten, würde es offen die heutige Politik hinterfragen.

Fazit

Um zu verstehen, weshalb die ukrainische Bevölkerung die Atompolitik ihrer Regierung nicht in Frage stellt, muss man sich den meinungsbildenden Institutionen zuwenden. Das Museum über Tschernobyl ist nur ein Teil, andere sind beispielsweise die Medien und der Geschichtsunterricht. Nach der vorliegenden Analyse des Museums liegt es nahe, dass meinungsbildende Institutionen in der Ukraine sich der Aufgabe der kritischen Meinungsbildung weitgehend entziehen.

Dabei gibt es in den Exponaten und Kunstwerken viel Potential für kritische Infrage-Stellung. Allerdings handelt es sich eher um eine Sammlung verstreuter Elemente. Ihnen explizit Sinn zu verleihen, wird vermieden. Die unterschwellige Politisierung des Museums entgeht den Unpolitischen unter den Besuchern, den Uninformierten und denen, die ohne Führung, nur mit Audioguide oder allein durch das Museum laufen. Der „geistige Explosivstoff“, von dem Böll sprach, ist hier so gut versteckt, dass er nicht explodiert. Nach der allzu homogenen und omnipräsenten Ideologie in den Museen der Sowjetzeit, ist dieses relativ junge Museum in das Gegenteil verfallen.

Das oberflächlich Unpolitische liegt auch nicht unbedingt am Mangel kritischer Überlegungen der Individuen, die in diesen Institutionen tätig sind. Wie die Gespräche mit dem Museumspersonal zeigen, haben diese Akteure durchaus politisierte Positionen. Diese werden aber hauptsächlich privat oder wenn öffentlich dann nur mündlich im kleinen Kreis geäußert. Tatsächlicher oder gefürchteter Druck vonseiten der Politik ist eine naheliegende Erklärung. Vermutlich handelt es sich oft eher um Selbstzensur als eine tatsächliche Intervention von außen. Angst, gegen einen breiten Konsens in der Gesellschaft zu verstoßen, ist auch möglich. Diese Tendenz zur Übervorsicht und zur Harmonie führt allerdings nicht zu einer stärkeren Politisierung der ukrainischen Gesellschaft.

Irina Mützelburg // Kiew, August 2011

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