Planänderung in der Ukraine: Absage der Präsidentschaftswahlen, Wechsel zum parlamentarischen System, Errichtung einer Konsensdemokratie


Durch die Abschaffung des semipräsidentiellen Systems in der Ukraine, die Wahl eines neuen Präsidenten durch das Parlament sowie eine Neuformierung der Regierung nach konkordanzdemokratischen Regeln kann Kiews politische Elite den Zusammenbruch des ukrainischen Staates verhindern.

Mit jedem Tag wird deutlicher: Die Durchführung der für den 25. Mai 2014 anberaumten Präsidentschaftswahlen in der Ukraine wird schwierig – besonders im Falle einer Stichwahl. Die Wahlen könnten gar in einem politischen Desaster enden. So lange Russland seine verdeckte Intervention in die Ostukraine vorantreibt, sinkt vor allem im Donbass die Wahrscheinlichkeit eines sinnvollen Wahlkampfes und zweier geordneter Wahlgänge von Woche zu Woche. Ein Scheitern der Wahl wird Moskau die Möglichkeit geben, die Legitimität der Kiewer Staatsgewalt auf Jahre hinaus infrage zu stellen. Putins Propagandamaschine würde eine niedrige Wahlbeteiligung in der Ostukraine das Futter zur Propagierung einer Teilung der Ukraine in zwei Staaten liefern. Das Scheitern der Wahl könnte gar als Vorwand für einen Anschluss ostukrainischer Gebiete an Russland nach dem Muster der Krimannexion benutzt werden.

Die niedrige Bedeutung des ukrainischen Präsidentenamtes

Die Dramatik dieses Szenarios steht im Kontrast zum geringen institutionellen Gewicht und zur ambivalenten politischen Bedeutung der ukrainischen Präsidentschaftswahlen. Mit der Wiedereinführung der Verfassungsversion von 2004 im Februar dieses Jahres ist die Ukraine abermals zu einer klar semipräsidentiellen Republik mit einem relativ schwachen Präsidenten geworden. Anders als unter der Originalverfassung von 1996 hat der Präsident nunmehr wieder nur begrenzte, im Wesentlichen auf die Außen- und Sicherheitspolitik beschränkte Kompetenzen. Der Ministerpräsident oder die Ministerpräsidentin und seine oder ihre Regierung zeichnen gegenüber dem Parlament verantwortlich, nicht aber gegenüber dem Präsidenten. Sie und nicht das gewählte Staatsoberhaupt bestimmen die Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- und Kulturpolitik.

Hinzu kommt, dass die beiden Spitzenkandidaten für das Präsidentenamt, Petro Poroschenko und Julija Tymoschenko, gleichermaßen pro-westlich und ideologisch mit der gegenwärtigen Regierung auf einer Linie sind. Bei einer möglichen Stichwahl wäre ein Konkurrieren der beiden in gewisser Hinsicht bedeutungslos, denn ihre politischen Hauptziele – eine rasche Europäisierung der Ukraine mit anschließendem EU-Beitritt und gleichzeitiger atlantischer Integration – stimmen überein. Viele im Osten und Süden der Ukraine würden spätestens bei einer Stichwahl ihre Stimme gar nicht mehr abgeben, da sie in den Finalbewerbern ihre Belange nicht vertreten sehen.

Die Wahl eines der beiden Kandidaten ins Präsidentenamt könnte vielmehr neue Personalquerelen in der geteilten Exekutive entfachen, ähnlich den erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Präsident Wiktor Juschtschenko und Ministerpräsidentin Tymoschenko in den Jahren 2005 bis 2010. Weder die Wahl von Poroschenko noch die von Tymoschenko würde zu einer substanziellen programmatischen Neuorientierung im Verhalten der ukrainischen Führung führen. Wahrscheinlich würde die Neubesetzung des Präsidentenamtes mit einer/m vom Volk gewählter/n Politiker/in zu größerer politischer Uneinigkeit und nicht zu einer Konsolidierung der politischen Führung der Ukraine führen.

Ein zusätzlich erschwerender Faktor ist das relativ hohe Ansehen des gegenwärtigen Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine. Sekretär dieses Staatsgremiums ist seit März 2014 Andrij Parubij, der als effektiver Kommandant des Euromaidan vom Dezember 2013 bis zum Februar 2014 erhebliche öffentliche Autorität erlangt hat. Das bedeutet, dass er zumindest vorläufig seinen Posten behalten wird, unabhängig davon, welche politischen Veränderungen die Ukraine in der nächsten Zukunft erfahren wird. Seit Parubijs Aufstieg ist sein Sicherheitsrat zu einem zusätzlichen, mit fachlich hochqualifizierten Mitarbeitern besetzten Machtzentrum geworden. Der gestärkte Sicherheitsrat wird, wie auch die Regierung, gegenüber der neuen Administration oder dem Sekretariat eines vom Volk gewählten Präsidenten um Kompetenzaufteilung rangeln. Letztlich kommt hinzu, dass die gegenwärtige ukrainische Diskussion um eine Verfassungsreform auf eine weitere Schwächung des Präsidentenamtes hinausläuft – in Übereinstimmung mit Empfehlungen der Venedig-Kommission „Für Demokratie durch Recht“ des Europarates. Die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in der Ukraine sind somit in beträchtlichem Maße viel Lärm um nichts.

Klar ist, die Ukraine braucht einen neuen Präsidenten – zuallererst, um die unklare Situation nach der Amtsenthebung des ehemaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch im Februar 2014 zu beenden. Ebenso wahr ist, dass die Ukraine prinzipiell einen demokratisch und rechtlich vollständig legitimen Präsidenten benötigt. Mit genügend politischem Willen können beide Probleme relativ leicht und ohne neue landesweite Präsidentschaftswahlen gelöst werden. Die Ukraine könnte vergleichsweise unkompliziert vom semipräsidentiellen zu einem vollständig parlamentarischen System wechseln, in welchem alle Exekutivgremien vom Parlament abhängig sein würden. Sie könnte das relativ schnell mittels einer umfassenden politischen Reform realisieren, die sich gleichzeitig auch einigen anderen offenen Fragen der Zusammenstellung der gegenwärtigen Regierungskoalition und des Parlamentspräsidiums widmen würde. Für eine Änderung der entsprechenden Verfassungsartikel ist eine Zweidrittelmehrheit im ukrainischen Parlament, der Werchowna Rada (Oberster Rat), notwendig. Solch eine Mehrheit könnte durch ein Verhandlungspaket gesichert werden, welches maßgebliche Teile der gegenwärtigen politischen Führung der Ukraine rekonstituieren würde.

In Richtung Konkordanzdemokratie und politischer Professionalisierung

Eine neue Übereinkunft zwischen den politischen Eliten der Ukraine könnte folgende fünf formell fixierte oder informell vereinbarte Regelungen enthalten:

  1. Die höchsten Ämter der Ukraine sollten mit Personen besetzt werden, die im Verbund so ausgewogen wie möglich alle oder die meisten Hauptkomponenten der pluralen Bevölkerung der Ukraine repräsentieren. Solch eine Konkordanzordnung könnte zum Beispiel vorsehen, dass die vier höchsten Posten – die Ämter des Präsidenten, Ministerpräsidenten, Sekretärs des Sicherheitsrates und Parlamentssprechers – jeweils mit einem Vertreter aus einer der vier Makro-Regionen der Ukraine – also dem Westen, Zentrum, Osten und Süden – besetzt werden. Wenn eine solche eine Regelung nicht schematisch angewandt werden kann, könnte unter Berücksichtigung dieser Idealverteilung die Gesamtzusammenstellung der politischen Führung passgerecht verhandelt werden.
  2. Politisch Radikale oder Politiker, die in einer der Regionen der Ukraine als zu extrem wahrgenommen werden, sollten so wenig hohe Ämter wie möglich in den höchsten Gremien der Ukraine bekleiden. Für die nahe Zukunft bedeutet das zum Beispiel, dass weder ausdrücklich prorussische Politiker wie Mychajlo Dobkin oder Petro Symonenko, noch Ethnonationalisten wie Oleh Tjahnybok oder Dmytro Jarosch irgendeines der höchsten politischen Ämter innehaben sollten.
  3. Der neue Präsident sollte in der Lage sein, eine einfache und absolute oder eine Zweidrittelmehrheit entweder im Parlament oder in einer größeren Versammlung nationaler und regionaler Volksvertreter zu vereinigen. (Letzteres könnte etwa ein Gremium ähnlich der deutschen Bundesversammlung sein, welche aus den Mitgliedern des deutschen Bundestages sowie aus einer gleichen Anzahl Abgeordneter von Landtagen sowie anderen Regionalvertretungen besteht und alle fünf Jahre zusammentritt, um den Bundespräsidenten zu wählen.) Als Repräsentant der ukrainischen Nation im In- und Ausland sollte der Präsident hohe Umfragewerte auf sich vereinigen können und fähig sein, als Moderator in der ukrainischen Politik zu wirken – also im Gegensatz zur Tätigkeit der ehemaligen Präsidenten Wiktor Juschtschenko und Wiktor Janukowytsch.
  4. An der neuen Regierung sollten so viele Parteien wie möglich beteiligt sein, mindestens aber die der drei größten Parlamentsfraktionen. Das bedeutet, dass die wichtigsten Ämter mit unumstrittenen Ministern aus den Parteien besetzt werden sollten, welche die drei größten Parlamentsfraktionen bilden – aus Tymoschenkos Vaterlandspartei, aus Witali Klytschkos UDAR-Partei sowie aus der Partei der Regionen bzw. deren Nachfolgeorganisationen. Angesichts des grundlegenden ideologischen Gegensatzes zwischen dem von der Ukraine formulierten Ziel einer EU-Integration einerseits und radikalem Nationalismus andererseits sollte die Anwesenheit rechtsextremer Politiker in der Exekutive der Ukraine auf ein Minimum reduziert werden. Das würde auch den ostukrainischen Separatisten eines ihrer Hauptthemen berauben.
  5. Mindestens ein Drittel oder sogar die Hälfte der höchsten und vor allem neuralgischsten Ämter in den ukrainischen Staatsgremien sollten mit angesehenen Vertretern des öffentlichen Lebens der Ukraine, ihres Dritten Sektors und ihrer Expertengemeinde besetzt werden – eine Regelung, die in der jetzigen Interimsregierung bereits zum Teil umgesetzt ist. Diese aus der Zivilgesellschaft oder Staatsbürokratie berufenen Unparteiischen könnten die Ämter des Außen-, Wirtschafts-, Finanz-, Kultur- und Bildungsministers, des Generalstaatsanwalts, des Leiters des Antikorruptionskomitees etc. besetzen. Bei der Besetzung weiterer hoher Stellen in Ministerien und staatlichen Dienststellen, im Justizsystem, im Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat sowie in der Präsidialverwaltung sollte ebenfalls auf fachliche Kompetenz und nicht auf politische Zugehörigkeit der Amtsinhaber geachtet werden. Diese Funktionen sollte eine höchstmögliche Anzahl von Spezialisten mit entsprechenden Abschlüssen international anerkannter Hochschulfakultäten oder/und mit Erfahrungen in transnationalen Regierungsorganisationen, Bürgergruppen oder/und Privatunternehmen bekleiden.

Die Ukraine vor dem Kollaps bewahren

Idealerweise sollten Reglements wie die eben aufgeführten in einer neuen ukrainischen Verfassung verankert werden. Allerdings bedarf die Formulierung eines gänzlich neuen Grundgesetzes für die Ukraine umfangreicher Expertenkonsultationen und einer gesamtnationalen öffentlichen Debatte. Vorläufig könnten Regelungen der aufgeführten Art formell oder teilweise formalisiert in einem Zwischenabkommen zur Anwendung gebracht werden, welches bis zur Annahme einer neuen Verfassung durch das Parlament, durch eine Volksabstimmung oder eine verfassungsgebende Versammlung Gültigkeit hätte. Die frühe postsowjetische Geschichte der Ukraine kennt ein Beispiel solch eines Gesellschaftsvertrages: In den Jahren 1995-1996 funktionierte der ukrainische Staat auf Grundlage eines gemeinsam von Parlament und Präsident verabschiedeten provisorischen Verfassungsvertrag.

Im Moment ist wichtig, dass die Ukraine nicht noch tiefer in die Krise hinabgleitet und aus der gegenwärtigen politischen Sackgasse herausfindet. Angesichts der anhaltenden Subversion des ukrainischen Staates durch Russland und dessen Agenten im Donbass müssen die politischen Eliten zunächst und vor allem die nationale Einheit und Stabilität des Landes wahren. Das impliziert in dieser Lage, dass die bevorstehende Präsidentschaftswahl abgesagt und die Ukraine eine parlamentarische Republik werden sollte. Dies kann durch eine konsensfähige Verfassungsreform mit den Stimmen von 300 Abgeordneten der Werchowna Rada, des Parlaments, passieren. Zweitens schließt dieses Vorgehen ein, dass die neue Komposition der Besetzung höchster staatlicher Positionen mehr oder weniger verhältnisgleich die regionale, kulturelle und demografische Zusammensetzung der ukrainischen Bevölkerung widerspiegelt. Drittens sollten politische Polarisierung und Verwaltungsdilettantismus durch fachgerechten Einsatz angesehener Experten vermieden werden.

Letztlich sollten noch in diesem Jahr stattfindende Parlamentswahlen sicherstellen, dass die neuen Präferenzen des ukrainischen Volkes nach dem Euromaidan adäquat in der Legislative repräsentiert werden. Das ukrainische Parlament, die Werchowna Rada, könnte im weiteren womöglich um eine zweite Kammer, also einen Senat, ergänzt wird, in der die Regionen der Ukraine repräsentiert sind. In jedem Fall sollte das Parlament von nun an das Machtzentrum innerhalb des neuen ukrainischen Staates darstellen.

Aus dem Englischen von Thomas Meyer. Eine leicht redigierte Version erschien zuvor auf ZEIT ONLINE.

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