Das Recht unrecht zu haben


Errare humanum est – diese geflügelten Worte hätten zur Devise der aktuellen Wahlsaison werden können. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlkampagnen 2019 brachten uns zu viel Unerwartetes und Unvorhersehbares. Im Wahlverlauf erklangen zu viele unzutreffende Prognosen und fehlerhafte Einschätzungen. Zu viele nachdenkliche Experten, Analysten, Journalisten, Publizisten – den Autor dieser Zeilen nicht ausschließend – die sich bei irgendwas verschätzten.

Es lagen diejenigen falsch, die skandalöse Präsidentschaftswahlen mit der Nichtanerkennung der Abstimmungsergebnisse, Anschuldigungen von Schiebung bei den Resultaten und gewaltsamen Auseinandersetzungen erwarteten.

Es waren diejenigen im Unrecht, die meinten, dass die Ukraine 2019 in jedem Fall ein schwaches Staatsoberhaupt mit niedrigem Rating, beschränkter Legitimität und problematischem Parlament erwarteten.

Es lagen diejenigen daneben, die anfänglich die Kandidatur Selenskijs [Wladimir Selenskij; Wolodymyr Selenskyj] als nicht ernsthaft ansahen. Und diejenigen, die behaupteten, dass die Selenskij-Wählerschaft nicht in die Wahllokale geht und Wladimir Alexandrowitsch selbst es nicht ins Olympia-Stadion für die Debatte mit seinem Gegner schafft.

Und, versteht sich, hatten die unrecht, die an die Stabilität der ukrainischen Direktmandate glaubten. Diejenigen, die meinten, dass Geld und Verbindungen immer den Sieg in einem einzelnen Wahlkreis garantieren. Diejenigen, die übereilt den Vorschlag von Präsident Selenskij zu Wahlen nach dem Verhältniswahlrecht mit einer dreiprozentigen Wahlhürde zurückwiesen …

Ja, dem Menschen ist es eigen, sich zu irren. Doch dem Menschen ist es nicht eigen, seine eigenen Fehler einzugestehen. Je mehr Emotionen und ungesunde Eigenliebe in die vertretene Position investiert wurden, um so schwieriger ist es sich mit ihrer Haltlosigkeit abzufinden. Und der Wahlzyklus 2019 wurde von einer äußerst emotionellen Schärfe und beispiellosen Spaltung unter der politisierten Intelligenz begleitet.

Tausende fortschrittliche Bürger überzeugten sich selbst, dass sie nicht berechtigt sind sich zu irren. Und das Eingeständnis des Unrechthabens wird als Verrat gegenüber dem eigenen „ich“ angesehen.

Die Ergebnisse der Abstimmungen vom 21. April und vom 21. Juli haben komplett klar demonstriert: der unpopuläre Pjotr Poroschenko [Petro Poroschenko] hatte keine Chance auf eine Wiederwahl. Der gesamte Antritt für eine zweite Regierungszeit war ein riskantes Abenteuer, das Pjotr Alexejewitsch überflüssige Erniedrigung und seine Anhängern für nichts und wieder nichts aufwühlte.

Rechtzeitig von diesem Vorhaben ablassend, hätte PAP [Pjotr Alexejewitsch Poroschenko] mehr gewinnen und dem Land mehr geben können, nach sich wenigstens irgendwelche institutionelle Sicherungen, Kontrollen und Gegengewichte hinterlassen können.

Doch den Intellektuellen, die den Ex-Präsidenten im Kampf für die Wiederwahl unterstützten, fällt es sogar jetzt schwer sich mit dem eigenen Fehler abzufinden.

Es ist leichter Millionen Landsleute als Idioten zu beschimpfen, als zuzugeben, dass sie sich selbst die Dummen erwiesen.

Leichter Millionen falsche Wähler zu verfluchen, als zuzugeben, dass deine Position von Anfang an aussichtslos war.

Leichter Millionen Ukrainer der ungerechten Abneigung gegenüber Poroschenko zu beschuldigen, als das Offensichtliche zuzugeben: mit einem derartigen Ablehnungsniveau tritt man nicht für eine zweite Amtszeit an. Von der Sache her ist nicht wichtig, ob Pjotr Alexejewitsch die Ablehnungswerte verdient hat, sondern wichtig ist, dass man mit solchen Ablehnungswerten schon vor einem Jahr hätte rechnen müssen.

Die Präsidentschaft Poroschenkos ist bereits Geschichte geworden. Jedoch ist die neue ukrainische Regierung zu einem dauerhaften Vergleich mit der alten verurteilt. Und in der Theorie zeigen diese Vergleiche unvermeidlich irgendjemandes Unrechthaben. Sie werden beweisen, dass jemand von uns sich in seinem Urteil über Selenskij irrte – entweder die Sieger oder die Besiegten.

Auf den Moment der Wahrheit warten sowohl die einen als auch die anderen. Sie warten mit Ungeduld, den eigenen moralischen Triumph und die Blamage der Gegner vorwegnehmend.

Doch eben daher wird ein allgemein anerkannter Moment der Wahrheit wahrscheinlich nicht eintreten. Die ukrainische Gesellschaft riskiert in der Gefangenschaft der unüberwindbaren intellektuellen Tabus zu verweilen.

Für jemanden ist der Gedanke selbst unannehmbar, dass sich der kritisierte Ex-Präsident Poroschenko im Gegensatz zu seinem Nachfolger als besser erweisen könnte. Das zuzugeben heißt, moralischen Bankrott anzumelden. Den Canossa-Gang anzutreten, sich vor den verhassten „Poroschenko-Bots“ zu erniedrigen. Auf die gewohnte ethische Stütze zu verzichten.

Nein, niemals! Das zulässige Maximum ist es zu erklären, dass es gehupft wie gesprungen ist und Wladimir Alexandrowitsch genauso schlecht wie Pjotr Alexejewitsch ist.

Und für jemanden ist der Gedanke unannehmbar, dass das Selenskij-Team sich als erfolgreicher und effektiver als die Vorgänger erweisen könnte. Die Anerkennung dessen käme einem Sakrileg gleich. Die Kapitulation vor den verachteten „Kleinrussen und Volltrotteln.“ Einem kleinmütigen Verzicht auf die eigenen Prinzipien.

Nein, niemals! Das zulässige Maximum ist es zu erklären, dass die neue Regierung das Fundament nutzt, das unter Poroschenko gelegt wurde und das sie bisher nicht zerstören konnte.

Die Nichtanerkennung des Unannehmbaren wurde in der modernen Informationswelt spürbar erleichtert. Diese erlaubt es den zugelassenen Fehlern und Fehleinschätzungen nicht ins Gesicht zu blicken. Sie erlaubt es nur das zu sehen, zu lesen und zu hören, was sich in das gewünschte Bild einfügt. Alles überflüssige auszusieben und komfortable Interpretationen für unbequeme Fakten zu finden. Täglich die virtuelle Kommunikation mit Gleichgesinnten zu genießen und sich von der Stichhaltigkeit der eigenen Sichtweise zu überzeugen.

Und daher ist es äußerst wahrscheinlich, dass der aktive Teil der ukrainischen Gesellschaft damit fortsetzt in der Form mehrerer verfeindeter Sekten zu existieren.

Die Mitglieder jeder Sekte können sich komfortabel in der eigenen Informationsblase einrichten, sich selbst als nüchternen Beobachter ansehend und die eigenen Opponenten als Sektierer. Sie können einander mit dem sakramentalen „Wir haben es ja gesagt!“ den Rücken stärken. Stolz auf das eigene unzweifelbare, unstrittige, offensichtliche Rechthaben sein.

Die Zeugen der ukrainischen Apokalypse werden die Epoche Poroschenkos beweinen, alles negative der Bauart des Selenskij-Teams auskosten, über die allgemeine Degradation sinnieren und daran glauben, dass das Schlimmste noch kommt.

Die an Selenskij Glaubenden werden mit nicht nachlassendem Enthusiasmus nach vorn schauen, in den Handlungen der neuen Regierung positives suchen, sich der ukrainischen Siege erfreuen und jegliche Misserfolge zur Kategorie der temporären Schwierigkeiten zählen.

Die Angehörigen der ewigen Fronde werden Selenskij aktiv beschimpfen, doch jedes Mal präzisieren, dass es unter Poroschenko überhaupt nicht besser war und jedes neue Problem lediglich eine Fortsetzung der alten ist.

Die Ironie besteht darin, dass bei jeder Entwicklung der Ereignisse eine der Sekten näher an der Wahrheit sein wird als die anderen. Jemand von uns erweist sich wirklich als recht habend, doch ein anderer wiederum nicht. Doch in der Welt des siegreichen intellektuellen Sektierertums wird das bereits keinerlei Bedeutung mehr haben.

3. August 2019 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1021

Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Vielleicht sollten Sie eine Spende in Betracht ziehen.
Diskussionen zu diesem Artikel und anderen Themen finden Sie auch im Forum.

Benachrichtigungen über neue Beiträge gibt es per Facebook, Google News, Mastodon, Telegram, X (ehemals Twitter), VK, RSS und per täglicher oder wöchentlicher E-Mail.