Requiem für den Hetman



Die Reihe der bedeutenden hundertjährigen Jubiläen, die das Jahr 2018 begleiteten, ist zu Ende. Am 14. Dezember beging die Ukraine das letzte von ihnen, den hundertsten Jahrestag der Entmachtung von Hetman Skoropadskij.

Während das Oberhaupt des ukrainischen Staates Ende 1918 ausschließlich unpopulär war, hat sich dies einhundert Jahre später geändert. Der Zahl der Sympathisanten nach hat Skoropadskij vor jedem anderen Funktionär der Ukrainischen Volksrepublik einen Vorsprung.

Den konservativen Führer kann man im stilvollen Tscherkessenrock sowohl auf Wandmalereien der Hauptstadt als auch auf den Seiten ukrainischer Steampunk-Comics sehen.

Mit besonderem Vergnügen erinnern sich die Liebhaber historischer Parallelen an ihn, wenn sie über den Staat, über Stabilität und über zerstörerischen Populismus philosophieren.

Nun ja, das Rezept des Erfolges nach dem Tod, das dem Schicksal des Hetmans und des Hetmanats zu teil wurde, ist ziemlich einfach.

Faktisch besetzt Pawel Skoropadskij im ukrainischen patriotischen Bewusstsein dieselbe Lücke, die in Russland seit den 1990ern Nikolaj II. Romanow einnimmt.

Ähnlich dem letzten Imperator verkörpert der Hetman das Leiden des irgendwie Schönen, aristokratisch feinsinnigen, bürgerlich-respektablen aber leider Verlorenen und Verschwendeten.

Der unabhängige Staat unter einem Herrscher mit einem Führungstitel aus den früheren Kavalleriegarden, altadelige Minister, elegante Offiziere, ein sauberes Volk auf den Straßen von Kiew, Charkow und Odessa – das ist alles „die Ukraine, die wir verloren haben“.

Unsere eigenes „knuspriges Baguette“, die gleichen Bälle, Schönheiten, Diener, Junker“, aber unter dem Zeichen des ukrainischen Staates.

Eine verlockende alternative Realität, vernichtet von groben, unwissenden und verantwortungslosen Volksmassen.

Das Paradox liegt darin, dass die modernen Ukrainer, die Mitgefühl mit dem Hetman haben, zum großen Teil Nachkommen von Bauern sind, die das Hetmanat wegen der Rückkehr der Gutsherren, des staatlichen Brotmonopols und der Produktions-Beschlagnahmung hassten.

Im Übrigen verhält es sich mit dem Kult um Nikolaj II. in der Russischen Föderation ganz genau so: Unter denjenigen, die sich nach französischem Baguette und vorrevolutionärem aristokratischem Glanz zurücksehnen, dominierten immer die Urenkel des „aufständischen Plebs“.

Bekanntlich spielt der letzte Imperator eine wichtige Rolle in der russischen Bewahrungs-Propaganda.

Die Erinnerung an Nikolaj II. ist eng verbunden mit aggressiver Kritik an beliebigen Protesten, Unordnungen, Revolutionen und Majdanen, durch die es ja doch nur schlechter wird.

Und sobald sich in Kürze in der Ukraine ein eigener Bewahrungsdiskurs formiert, ist für Hetman Skoropadskij die gleiche Rolle vorgesehen.

Die hundertjährige Geschichte der Ukraine ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie ein unbesonnenes Volk, blind von Hass auf die Regierenden, bereit ist, den Staat selbst zu zerstören.

Vor dem Hintergrund der näher rückenden Wahlen kommt dieses Bild aus der Vergangenheit wie gerufen.

Um welches Land und welche Epoche es auch geht, die Logik der Bewahrer bleibt immer die Gleiche.

Die Ansprüche werden nicht gegenüber einem engen Kreis mächtiger Regierender erhoben, sondern gegenüber Millionen Unzufriedener und hunderttausender Protestierender.

Das Problem liegt nicht bei Nikolaj II., der sich an die archaischen Prinzipien der Selbsterhaltung klammerte, das Problem ist das unbrauchbare Volk, das Väterchen Zar absetzte.

Das Problem lag nicht bei Skoropadskij, der den Zugang zu den breiten Massen nicht fand, sondern bei den Bauern mit der Bereitschaft zum gewaltsamen Aufstand gegen den Hetman.

Das Problem lag nicht bei Janukowitsch, der den ungeschriebenen gesellschaftlichen Vertrag änderte, sondern bei den Ukrainern, die auf den Majdan gingen.

Und wenn zum Ende der Kadenz die Ablehnungswerte des heutigen ukrainischen Garanten ausschlagen, so liegt das Problem nicht bei Pjotr Alexejewitsch [Poroschenko], sondern bei der unverständigen und unrichtigen Bevölkerung, die nicht in der Lage ist, den Tomos [kirchliche Urkunde zur Anerkennung der Unabhängigkeit der Orthodoxen Kirche der Ukraine durch das Patriarchat von Konstantinopel, A.d.R.] und andere Errungenschaften der Führungsriege zu schätzen.

Der typische Held der Konservierer ist der gute Zar, Hetman oder Präsident, unverstanden von seinen Zeitgenossen der zum Opfer von Demagogen, Aufrührern und feindlichen Agenten wurde. Aber leider versteckt sich hier ein prinzipieller logischer Widerspruch.

Mitmenschen können einen talentierten Maler nicht verstehen, einen Literaten oder Wissenschaftler. Aber ein guter Politiker und staatlicher Lenker, der keine gemeinsame Sprache mit seinen Zeitgenossen findet – das ist schon ein Oxymoron.

Weil sich eine talentierte Führungselite gerade dadurch auszeichnet, dass sie von der Realität ausgeht und nicht von ihren Wünschen. Sie arbeitet mit der reellen und nicht mit der idealen Gesellschaft.

Indem sie die Unzulänglichkeiten, Vorurteile und schwachen Seiten der Mitbürger einberechnet und die durchgeführte Politik darauf abstimmt. Und sich nicht in den eigenen Vorstellungen von der umgebenden Welt abkapselt und beständig mit den Massen kommuniziert.

Selbst wenn der jetzt amtierende Staatsführer lediglich auf die bescheidene Rolle des kleineren Übels Anspruch erheben könnte, muss er davon Millionen Menschen überzeugen. Im entgegengesetzten Fall wird er in gleichem Maße verantwortlich gemacht werden für den Eintritt des größeren Übels.

Die Risiken beschreibend, mit denen die Ablösung der unpopulären Regierung verbunden ist, haben die Konservierer oft recht. Aber eine aggressive bewahrende Rhetorik verringert diese Risiken kein bisschen.

Sie ist nicht dazu geeignet, objektive gesellschaftliche Widersprüche aufzulösen, nicht geeignet, den heranreifenden sozialen Ausbruch zu verhindern, nicht in der Lage, das Land vor radikalen Szenarien und einer populistischen Wende zu bewahren.

Das Einzige, was man mit Hilfe konservierender Philippiken erreichen kann, ist die Verantwortung für die Ereignisse von oben nach unten zu verlagern.

Von dem symbolischen Zaren, Hetman oder Präsidenten auf das symbolische Volk, den symbolischen Majdan, die symbolische Wählerschaft. Und dadurch wird es für niemanden einfacher.

Die Kritik am regierenden Establishment gibt zwar eine kleine, aber doch Hoffnung.

Es besteht immer die Chance, dass konkrete Personen, die konkrete Entscheidungen treffen, die verlautende Kritik vernehmen, sich rechtzeitig aus der warmen Informationswanne erheben, sich rechtzeitig besinnen und rechtzeitig ihre Politik korrigieren.

Aber die Kritik an Millionen von Landsleuten bringt nichts außer Likes in den sozialen Netzwerken.

Es ist eine schöne und effektvolle Position, es ist eine gute Möglichkeit, vor den Gleichgesinnten umher zu stolzieren, es ist das Vorspiel zum zukünftigen „Ich hab es ja gesagt! Ich hab es vorher gewusst!“, aber das ist nicht der Weg zur Lösung drängender Probleme.

In ihrer Masse kann die Gesellschaft hinterwäldlerisch sein. Sie kann infantil, naiv, verirrt sein.

Doch die Gesellschaft ist nie die, die man sich wünscht, sondern immer nur die real existierende. Und 2018 ist das Unbehagen über diese Realität genauso kontraproduktiv wie vor hundert Jahren.

Schlussendlich demonstriert die Erfahrung des Hetman Skoropadskij, dass die Klage über die falschen Mitbürger nur in einem Fall nützlich ist: wenn man schon verloren hat und sich anschickt, an seinem eigenen „Erinnerungen“ zu arbeiten.

15. Dezember 2018 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzerin:   Anja Blume  — Wörter: 1053

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