Schule nicht für alle
Der erste September ist nicht für alle ein Feiertag. Außerhalb des Bildungssystems verbleiben wie schon immer Kinder mit komplexen Entwicklungsstörungen. Sie brauchen Zentren, Spezialisten, individuelle Zugänge, aber die Hauptsache ist Sozialisation. Ihre Eltern sagen: „Inklusion ist in der Ukraine nur für die Massenschule vorgesehen.“ Und nicht alle haben die Kraft und Möglichkeit, sich eigenständig mit ihrem Kind zu beschäftigen.
„Wir fliegen los“, ein dunkelhaariges Mädchen klettert in die Rakete aus einem Pappkarton, „vier, drei, zwei, eins.“ Die Erzieherin an beiden Händen fassend und langsam die Füße in Gewichten bewegend, kommt noch eine und setzt sich zum Spielen auf den Fußboden. Die Mädchen sind fröhlich. Im Nachbarzimmer sucht Matwej Bauteile aus einer großen Kiste und Nasar liegt da und umarmt einen zerschlissenen Plüsch-UHU. Irgendwer hört sich ein Lied an und versucht es nachzusingen, und Eva dreht sich und kichert. Auf dem Fußboden studiert die blinde Afina gemeinsam mit der Erzieherin Olesja weiche Fühlbücher.
Als sie keine Lust mehr hat, denkt sich das Mädchen eine neue Beschäftigung aus:
„Kann man auf Olesja reiten?“, ohne eine Antwort abzuwarten, klettert Afina auf die Erzieherin.
„Ja natürlich, das ist doch ein guter Zeitvertreib!“, lacht die Frau. Das Mädchen schüttelt sich und alle fallen um. Lachen.
Den letzten Monat haben die Kinder zusammen im Gebäude des Kindergartens im Lager „Space Camp“ verbracht. So ertragen sie inzwischen ruhig die Gesellschaft der jeweils anderen. Am Anfang war es für einige keine leichte Übung ein paar Minuten ruhig im Kreis zu sitzen und einen guten Morgen zu wünschen. Im Lager versammelte man Kinder, die sich als faktisch außerhalb des Bildungssystems erwiesen und die deshalb zu Hause bleiben müssen, weil sie mehrere Erkrankungen gleichzeitig haben. Auf dem Abschlussfest des erwähnten Lagers sagte die Mutter eines Jungen mit geistiger Behinderung: „Alle überreden uns, dass wir keine Schule brauchen – ‚er hat kein Gehirn‘. Aber ich sehe doch, wie er sich in diesem Monat verändert hat. Er ist schon elf und wir sind bisher nirgendwohin gegangen. Und was sollen wir jetzt tun?“ Die Kinder ließen Luftballons in den Himmel steigen, aber die Erzieherin Olesja trat gerührt zur Seite, um die Kinder zu betrachten, die wieder nach Hause gehen müssen.
Mama Olesja
Das Projekt der Sozialisation der Kinder durch gemeinsamen Spielraum hat sich Olesja zugunsten ihres Sohnes Matwej und solcher Kinder mit Behinderungen wie ihm ausgedacht. Olesja ist eine junge, moderne Mutter. Bis zu seiner Geburt arbeitete sie als Lehrerin. Matwej erschien vor zehn Jahren. Als Olesja erfuhr, dass der Junge blind ist, sagte sie sofort zu sich: „Das ist nicht schlimm. Er verwirklicht sich anders.“ Von den mentalen Einschränkungen, der Epilepsie und dem Autismus Matwejs erfuhren die Eltern später. Olesja fand heraus, dass man sich mit ihrem Sohn so früh wie möglich beschäftigen müsse. Und sie begann, Zentren der frühen Förderung für Kinder mit komplexen Einschränkungen zu suchen. Zentren gab es nicht und Individuallehrer empfahlen, noch ein bisschen zu warten.
Den letzten Anruf auf der Suche nach Hilfe tätigte Olesja beim Ukrainischen Tauben-Verband:
„Wie alt ist ihr Kind?“
„Sechs Monate.“
„Melden Sie sich wieder, wenn es 18 ist.“
Danach begann Olesja selbst, um ihren Sohn zu kämpfen. Sie fuhr herum, lernte, suchte, unterhielt sich mit anderen Müttern. Und nachdem man Matwej auch nicht in die Spezialschule aufnahm, verstand sie, dass sie auch anderen Kindern helfen würde.
„Das Unverständnis des Problems der Kinder mit Behinderung ist wie eine Wand. Man kann sein ganzes Leben damit verbringen, jemandem das Offensichtliche zu zeigen. Aber ich habe beschlossen, später dagegen anzurennen, und mich bis dahin zu bemühen das Maximum zu tun.“ Olesja startete verschiedene Projekte: Zeichenstunden im Museum, wöchentliche Vorbereitungen für Mütter und Kinder, Treffen zum Kaffee. Einige Male begann der erste September auch für Matwej: er ging in die spezialisierte, allgemeinbildende Schule „Nadja“ für Kinder, die Korrekturen der körperlichen oder geistigen Entwicklung benötigen, hörte die Rede über die „armen unglücklichen Kinder mit Behinderungen“ und einen Abgeordneten, der eine helle Zukunft versprach, und der seither nicht wieder dorthin zurückgekehrt ist. Im Internat für Blinde lernte Matwej auch:
„Als ich zum ersten Mal dorthin kam, hatte ich das Gefühl des Films „Kalter Sommer, 53“, lacht Olesja. „Die Schule hatte nichts für Sehbehinderte: keine gelben Streifen zur Orientierung, keine fühlbare Beschriftung. Und es gab gemeinsame Toiletten für Jungs und Mädchen. ‚Was macht das für einen Unterschied, sie sind doch blind?‘ Einmal sagte mir eine Erzieherin: „Die Mutter ist Sonderpädagogin, aber hat ihm nichtmal beigebracht zu grüßen.“ Olesja nahm Matweij nach einem Jahr aus dem Internat. Jetzt kommt mehrere Male in der Woche eine Lehrerin zu dem Jungen nach Hause.
„Das Kind geht mit nur einer Behinderung in die Statistik ein. Bei Matwej ist das zum Beispiel das Sehvermögen, obwohl er noch viele andere Störungen hat. So kommt es, dass man uns in Blindenschulen nicht aufnimmt, weil ein geistiger Entwicklungsrückstand besteht. Aber in der Schule für geistig Behinderte nimmt man uns wegen der Epilepsie nicht. So erweisen sich die Kinder als vom Bildungssystem ausgestoßen“, sagt Olesja.
Die Frau war einige Male im Ausland und weiß, dass Kinder mit komplexen Behinderungen dort nicht in Internaten wohnen und nicht zu Hause lernen, sondern in Sonderschulen gehen. Denn, um die Welt zu verstehen, ist es wichtig, mit anderen zusammenzuarbeiten. Und Olesja begann darüber nachzudenken, ein Zentrum zur Tagesbetreuung zu eröffnen, in dem man nicht nur den Kindern, sondern auch den Eltern hilft: physische und psychologische Rehabilitation zu durchlaufen, korrigierende Übungen, Erholung von der Sorge um das Kind und die Umstellung auf andere Dinge. Für Olesja ist es das Wichtigste, dass man die Kinder achtet, nicht der formale Bildungsprozess in Erfüllung ministerieller Programme.
„Ich glaube, dass selbst ein schwer krankes Kind zu Vielem in der Lage ist, wenn man ihm nur die richtigen Hilfsmittel für seine Entwicklung gibt.“
Olesja bat mehrfach um die Zuteilung einer Räumlichkeit für ein solches Zentrum, aber es blieben nur leere Versprechungen. Deshalb „legte sie die rosarote Brille in die Schublade“ und beschloss alles aus eigener Kraft zu erreichen. Sie begann mit dem „kosmischen“ Lager. Die Unterkunft stellten Bekannte zur Verfügung und Betreuer wurden ihre Freunde und all diejenigen, die dem Aufruf in sozialen Netzwerken folgten; die Eltern trugen die mindestens notwendige Summe für Programm und Verpflegung auf. Olesja brachte zum Lager selbstgenähte weiche Bücher, Spielsachen, sammelte Puzzles, Baukästen und Filzstifte. Es gab so viele, die am Lager teilnehmen wollten, dass schweren Herzens nur die am wenigsten sozial eingebundenen ausgewählt werden mussten, Ewa, Anja, Nasar, Afina und weitere siebzehn Kinder. Einige von ihnen lernten dank des Monats in der Gruppe zu warten, den Löffel zu halten, zu sitzen, Schuhe zu binden – das, was einigen ganz einfach erscheint, wird für andere zum Kampf. Die Lagerkinder nennt Olesja „Kosmonauten“, daher auch „Space Camp“: „Ich lebe schon zehn Jahre mit Matwej zusammen, aber ich verstehe diesen Menschen bis heute nicht. Wie versteht er die Welt? Das ist etwas kosmisches.“
Nach Olesjas Meinung liegt das Problem nicht in den fehlenden Möglichkeiten zur Unterbringung eines Kinderzentrums, sondern im Mangel an Spezialisten. Die, mit denen sie in den allgemeinbildenden Schulen Bekanntschaft schließen musste, kennen keinen Zugang zu Kindern mit komplexen Behinderungen:
„Für Lehrer gibt es nur schwarz oder weiß. ‚Du hast geraucht oder offensichtlich getrunken“. Wenn sich Matwej hinlegen musste, direkt auf den Boden, im Einkaufszentrum oder auf dem Spielplatz, hat man so etwas zu uns gesagt. Ich kenne Mütter, die in Kiew niemals auf den Spielplatz gegangen sind. Sie fahren in den Wald, an den Stadtrand oder gehen nachts spazieren, um nichts Schlimmes zu hören. Das bedeutet nicht, dass wir in einer schlechten Gesellschaft leben. Aber, dass dies immer noch passiert, gibt zu denken: sind wir im Inneren etwa sowjetisch geblieben? Haben wir sie nicht alle vom Hof gejagt?“
Olesja möchte, dass die Feiertage für Kinder mit und ohne Behinderung da sind. Genauso wie Spielplätze und alle anderen Dinge.
„Im Moment loben alle das Projekt der inklusiven Bildung, das Marina Poroschenko unterstützt. Aber die ukrainische Inklusion ist nur für diejenigen, die in die Massenschule gehen können.“, erwidert Olesja. „Es ist beleidigend, wie man diese wenigen Schulversuche herumreicht wie höhere Piloten. Ich habe schon mehrfach gesagt, dass diese Schulen nicht für alle da sein werden. Ich habe gefragt, wohin Kinder gehen sollen, die sich außerhalb des Bildungssystems befinden. Aber eine Antwort habe ich nicht bekommen“, erzählt Olesja.
Einmal wollte Matwej morgens seinen Salat-Rucksack nehmen, auf dem in Blindenschrift „Mit dem Herzen sehen“ steht (so heißt die gemeinnützige Organisation seiner Mutter). Er wiederholte: „Lager, wir fahren ins Lager.“ Aber das Lager ist zu Ende. Olesja möchte ein Zentrum zur ständigen Betreuung von Kindern mit Behinderung eröffnen, doch vorher plant sie noch einige zeitlich begrenzte Projekte. Auf ihrem Handgelenk ist eine Tätowierung in Braille-Schrift: „glauben“.
9. September 2016 // Margarita Tulup
Quelle: Lewyj Bereg