Die Ernennung von Lilija Hrynewytsch zur Ministerin für Wissenschaft und Bildung kam weder unerwartet, noch rief sie besonderen Widerspruch hervor. Hrynewytsch ist bestens mit den Problemen im Bildungsbereich vertraut (mehrmals leitete sie den Parlamentsausschuss für Bildung und Wissenschaft), kennt das Schulsystem nicht nur vom Hörensagen (sie hat darin alle Ebenen durchlaufen, von der Lehrerin bis zur Leitung der Bildungs- und Wissenschaftsabteilung der staatlichen Verwaltungsbehörde der Stadt Kiew) und war Direktorin des ukrainischen Zentrums zur Beurteilung der Bildungsqualität.
Nicht zum ersten Mal wurde eine Kandidatur von Lilija Hrynewytsch auf den Posten der Bildungsministerin in Erwägung gezogen. Bereits nach dem Majdan im Februar 2014 ernannten studentische Aktivisten, die das Gebäude des Bildungsministeriums besetzt hatten, die aus ihrer Sicht angemessenen Kandidaten für das Amt – Serhij Kwit und Lilija Hrynewytsch. Beide wurden von den Studierenden „zur Begutachtung“ eingeladen, und beide kamen dieser Einladung auch nach. Während 2014 Kwit zum Bildungsminister ernannt wurde, übernahm Hrynewytsch erneut die Leitung des Parlamentsausschusses für Bildung und Wissenschaft.
In die letzte Legislaturperiode trat Hrynewytsch als Abgeordnete der „Volksfront“ ein. Die neuernannte Bildungsministerin ist eine langjährige Mitstreiterin von Arsenij Jazenjuk, noch seit den Zeiten der „Front der Veränderung“ (Front Smin), innerhalb derer sie in der Übergangsregierung den Bereich „Gesellschaft und Wissen“ leitete.
Lilija Mychajliwna, stimmt es, dass sie anfangs unschlüssig gewesen sind, das Angebot zur Leitung das Bildungsministerium zu übernehmen?
Das war ich in der Tat. Der Hauptgrund dafür ist das Projekt bezüglich des Grundlagengesetzes „Über die Bildung“ gewesen, über welches demnächst im Parlament abgestimmt werden wird. Wir hatten es endlich geschafft, dieses wichtige Gesetzesprojekt fertigzustellen und für die erste Lesung vorzubereiten. Dem gingen sehr lange Diskussionen und anstrengende Arbeiten voraus. Nicht nur durch mich und der Parlamentsausschuss, sondern ebenso durch einen sehr breiten Kreis an Experten sowie Vertretern der Zivilgesellschaft. Diese Angelegenheit zu einem Ende zu bringen und das Gesetz auf dieser Legislaturperiode des Parlaments zu verabschieden ist für mich von außerordentlicher Wichtigkeit. Doch meine Kandidatur wurde von beiden Koalitionsfraktionen befördert. Es hatte sich ergeben, dass sie keine Alternative sahen. Ich habe also beschlossen, diese Herausforderung anzunehmen und dort zu arbeiten, wo ich die Hoffnungen tatsächlich erfüllen und am nützlichsten sein kann.
Haben Sie in der Koalition die Abstimmung für das Gesetz „Über die Bildung“ als Bedingung zur Übernahme des Ministerpostens diskutiert?
Ich habe kein Ultimatum gestellt, da ich es nicht gut finde, wenn in der Sprache von Ultimaten miteinander gesprochen wird. Vielmehr bin ich es gewohnt, die eigene Position argumentativ zu untermauern. Ich bin überzeugt, dass ich vom Ministerposten aus das Parlament von der Notwendigkeit, das erarbeitete Gesetz anzunehmen, überzeugen kann. Objektiv betrachtet handelt es sich um ein reifes und qualitatives Dokument, das eine echte Bildungsreform gewährleistet. Ich rechne deshalb mit der Unterstützung der Abgeordneten und der im Bildungswesen Tätigen, das Gesetz zu verteidigen. Selbst vor jenen Kräften im Parlament, welche, zum großen Bedauern, die Ideologie des Gesetzes nicht teilen, insbesondere den Übergang zu einem neuen 12-jährigen Schulwesen, das sich an europäischen Zielen orientiert.
Wie werden Sie mit dem Parlamentsausschuss und der Nationalen Agentur zur Gewährleistung der Qualität in der Hochschulbildung (NAOKWO) zusammenarbeiten? Erstens gibt es nach Ihrem Weggang dort faktisch keinen wirklichen Experten mehr, dafür aber, zweitens, einige zweifelhafte Figuren lustrierter Beamter, über die Sie selbst gesagt haben, dass sie dort nicht hingehören.
In Bezug auf die NAOKWO haben sie Recht. Das Schiff unter dem Namen „NAOKWO“ schwimmt überhaupt ohne die geringste Abstimmung mit dem Bildungssystem. So wurde es von den dorthin gewählten Personen entschieden. Es ist aber ebenso kein Ausweg, wegen einiger Leute ein Organ zu zerstören, welches die Grundlage im System zur Gewährleistung der Hochschulbildungsqualität darstellt. Die Arbeit der NAOKWO zu blockieren würde nur die Schaffung unabhängiger Zentren zur Qualitätsbewertung der Hochschulbildung, die Bewertungsprozedur selbst und auch die Arbeit jener Leute bremsen, die das neue System mit neuem Inhalt füllen können. Wir waren deshalb gezwungen, die NAOKWO in der Zusammensetzung ihre Arbeit aufnehmen zu lassen, in der sie gewählt wurde. Dennoch sollten Verfahrensmomente korrigiert, mittels einer Verordnung des Ministerkabinetts der Stellenplan dieser Agentur festgelegt und organisatorische Dinge geregelt werden, die bisher außer Acht gelassen wurden.
*Serhij Kwit wird als Spezialist für den Hochschulbereich betrachtet, Sie für den Bereich der Schulbildung. Sind Sie mit solch einer Einschätzung einverstanden? *
Ein Bildungsminister sollte auch mit allen Formen der Bildung und der Wissenschaft arbeiten können. Ich bin in der Tat sehr gut vertraut mit der allgemeinen mittleren Bildung, aber nicht nur. Seit zwei Legislaturperioden leite ich in der Werchowna Rada den bildungsbezogenen Parlamentsausschuss. Ich erinnere Sie daran, dass das neue Gesetz „Über die Hochschulbildung“ innerhalb dieses Ausschusses erarbeitet wurde, wie übrigens auch das neue Gesetz „Über wissenschaftliche und wissenschaftlich-technische Tätigkeit.“ Die wesentlichen Herausforderungen liegen derzeit sowohl in der Vorschulbildung und in der allgemeinen mittleren Bildung als auch in der beruflich-technischen Ausbildung und der Hochschulbildung. Ebenso müssen wir den Sektor der Erwachsenenbildung weiter entwickeln. Die ukrainische Wissenschaft muss aus ihrer marginalen Existenz herausgeführt und ein neues Finanzierungssystem für sie zu geschaffen werden, welches sie vor der Abwanderung ihrer besten Wissenschaftler ins Ausland bewahrt. Bestimmte Versäumnisse gegenüber diesen Bereichen müssen kompensiert werden. Es gibt also ein sehr breites Spektrum an Aufgaben.
Wessen Versäumnisse genau müssen kompensiert werden?
Bildung und Wissenschaft gehören nicht zu den Prioritäten des Landes. Ein unwiderlegbarer Beweis dafür ist ihre Finanzierung. Auch die Gesellschaft widmet in ihrem Diskurs der Bildung und Wissenschaft nicht genügend Aufmerksamkeit. Es gibt kein Verständnis dafür, dass auf Grundlage der Bildung eine neue Generation errichtet wird, so pathetisch das auch klingen mag. Ich möchte hier über einige Schlüsselmomente sprechen. Wir brauchen eine neue Bildungspolitik, die zu einer europäischen Ukraine führt. Damit jedes Kind – unabhängig von seinem Wohnort, seinem sozialen Status oder seiner materiellen Versorgung – eine Ausbildung erhalten kann, die ihm eine Chance auf ein erfolgreiches Leben gibt. Dem ist heute nicht so. Bei uns gibt es heute für die Wohlhabenden und Vermögenden die beste Bildung, die besten Schulen, die besten Lehrer. Für die Ärmeren sind die Möglichkeiten bedeutend schlechter. Dieser Zustand vertieft und reproduziert Armut. Eine europäische Ausbildung hingegen bedeutet für mich die Ausbildung einer aufgeklärten Masse, nicht allein der Elite. Und selbst wenn es dieser gelingt, ihren Kindern eine hervorragende Bildung in guten Schulen zu gewährleisten, sollte man verstehen, dass diese Kinder danach in einer zerteilten, armen Gesellschaft mit einer hohen Kriminalitätsrate und einer geringen Kultur leben müssen. Bildung löst diese Situation.
Im Bildungsbereich gibt es also eine Vielzahl an Problemen, aber welche halten Sie für die dringendsten? Womit beginnen Sie Ihre Arbeit als Ministerin?
Es gibt eine Reihe schmerzlicher Fragen, von denen der erfolgreiche Abschluss des Lehrjahres abhängt. Unzulässig ist etwa, dass der Druck von Dokumenten – Zeugnissen und Bescheinigungen – dadurch in Gefahr geraten ist, dass bis zum jetzigen Zeitpunkt keine Überprüfung der Ausschreibungen für die Herstellung entsprechender Formulare erfolgt ist. Ebenso bis jetzt ungelöst ist das Problem mit den Lehrbüchern für die 4. bis 7. Klassen. Auch die 8. Klassen werden nun davon betroffen sein. Ich denke, das sind jene Dinge, die es unbedingt anzugehen gilt.
Zur Lösung dieser Fragen, und nicht nur dieser, bedarf es an Mitteln. Die Finanzierung von Bildung und Wissenschaft ist schlecht. Aber das Parlament, darunter auch der Ausschuss für Bildung und Wissenschaft, haben für den aktuellen Haushaltsplan gestimmt. Wo also werden sie nun neue Gelder suchen?
Im Haushaltsplan für 2016 gab es kein Defizit bei den Zuwendungen für den Bildungsbereich, jedoch gab es falsche Entscheidungen, die verbunden sind mit der beruflich-technischen Ausbildung. Als ich vor der Abstimmung im Haushaltsausschuss angebracht habe, dass wir den Gebietshauptstädten die beruflich-technische Ausbildung nicht übertragen können, versicherte mir das Finanzministerium: die Gebietshauptstädte verfügen über genügend Einnahmen, man habe alles nachgerechnet und könne das sicher garantieren. Ziffern wurden uns allerdings keine gezeigt. Das Finanzministerium sollte eine wirkliche Prognose der Einnahmen durchführen. Uns blieb damals keine Wahl und jetzt gilt es, diese Situation zu korrigieren.
Es gab ein Problem mit den Lehrbüchern. Mittlerweile wurde bereits eine Verordnung des Ministerkabinetts angenommen, die so schnell wie möglich im Haushaltsausschuss begutachtet wird, damit wir eine Finanzierung für Lehrbücher der 8. Klassen erhalten. Wenn von der Finanzierung insgesamt die Rede ist, so ergibt sich heute ein Wert von 5,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist ein sehr niedriger Wert für unser Land. Ich werde die Regierung darum ersuchen, dass ein Teil der Mittel, die aus der Übererfüllung des Staatsbudgets stammen, für aktuelle Bedürfnisse im Bildungssystem zur Verfügung gestellt werden. Wir müssen die Finanzierung von Bildung und Wissenschaft überdenken. Was konkret die Wissenschaft betrifft, so bin ich davon überzeugt, dass wir sie in die Abhängigkeit von qualitativen Kenngrößen überführen müssen. Das heißt, der Mechanismus an sich muss verändert werden, anstatt einfach Mittel zu kürzen.
Sie müssen Reformen einführen, deren breite Unterstützung durch die Gesellschaft nicht garantiert ist (etwa das 12-jährige Schuljahr und die Optimierung von Schulen). Das bedeutet ernsthafte Risiken für Ihren Ruf. Werden Sie sich darauf einlassen?
Vor uns steht eine enorme Informationsarbeit. Es muss erklärt werden, was eine 12-jährige Schule bedeutet und warum man in der Europäischen Union unbedingt bis zum 18. Lebensjahr eine Schulbildung erhält. Eine andere Sache ist, dass wir die Möglichkeiten diversifizieren müssen, damit im Laufe einer dreijährigen Berufsausbildung ein Beruf erlernt werden kann. So ist auch das Bildungssystem in der EU aufgebaut, da dies erlaubt, die Kinder und Jugendlichen auf das Leben in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts vorzubereiten. Das verlangt aber neue Inhalte und mehr Zeit. Ukrainische Schüler stehen ihre Altersgenossen in Großbritannien, Finnland oder Polen in nichts nach. Deshalb werden wir auch nicht zurückbleiben, auch wenn es schwer wird.
Und die Optimierung der Schulen, vor allem auf den Dörfern?
Wir haben ein Memorandum mit dem IWF unterschrieben, einen Haushalt zu verabschieden, in dem die Optimierung jener Schulen berücksichtigt wird, an denen weniger als 25 Schüler unterrichtet werden. Die Rede war damals von 800 Schulen. Im Zuge der Verabschiedung des Haushalts bestand ich darauf, dass die Grundschulen von der Optimierung nicht betroffen sein werden. Dadurch wurde die Zahl der Schulen, die optimiert werden sollen, bedeutend niedriger. Aber ich hoffe, dass wir unsere Pläne mit dem Ministerium für regionale Entwicklung koordinieren können. Dort verfügt man über Mittel etwa für die Reparatur von Straßen und den Ausbau von Krankenhaus- und Schulbezirken. Nur wenn es Wege gibt und Busse und bessere Schulen, zu denen man die Kinder bringen kann, erst dann kann man auch kleine unterbesetzte Dorfschulen schließen.
Werden Sie die bisherige Belegschaft an Stellvertretern und Abteilungsleitern im Bildungsministerium unangetastet lassen, oder werden Sie Ihre eigenen Leute dorthin bringen?
Zur Frage der Belegschaft können wir ein wenig später zurückkehren. In ihr werden sowohl alte als auch neue Leute zu finden sein. Es gibt eine Strategie und einen Handlungsplan, allerdings bedarf es an Zeit, bis sich mit genauem Überblick die Probleme und unaufschiebbaren Prioritäten abzeichnen. Am Anfang stehen deshalb die Probleme und Aufgaben, danach die Experten mit konkreten Namen zur Lösung dieser Aufgaben.
15.04.2016 // Oksana Onyschtschenko
Quelle: Dserkalo Tyschnja
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