Schulreform oder Globalisierung?
Die Schule erlebt eine neue Reform. Es wird gerade die Richtung ihrer Entwicklung und Modernisierung festgelegt. Vor kurzem wurden staatliche Richtlinien für die Grundschule erarbeitet und bereits verabschiedet; es werden Richtlinien für die mittlerweile 11-jährige Ausbildung in der Mittelschule erarbeitet.
Vor zehn Jahren, als die staatlichen Richtlinien für die Grundschule festgelegt wurden, entstand der Bedarf nach Kulturfächern, welche den allgemeinbildenden Bereich „Gesellschaftskunde“ füllen sollten. Es kam sogar der Gedanke auf, das Fach „Mensch und Gesellschaft“ einzuführen, welches jedoch von den Lehrern abgelehnt wurde, weil man Gesellschaftskunde nicht ab der 1. Klasse unterrichten kann. Dies sein ein Fach für ältere Schuljahrgänge. Und so wurde die Idee geboren, das Fach „Ich und die Ukraine“ einzuführen. Dies war eine progressive Idee, weil Ukraine-Kunde bereits zu Zeiten der Unabhängigkeit in unseren Schulen gelehrt wurde. Dieses Fach gab es sogar bereits in den Richtlinien der 90er Jahre; danach verschwand es jedoch geheimnisvoll. Apropos: ähnliche Fächer werden zurzeit auch in anderen Ländern der Welt eingeführt: in Russland die Russland-Kunde, in Amerika die Amerika-Kunde.
Die Bezeichnung „Ich und die Ukraine“ erwies sich als nicht ganz zutreffend, weil die Verfasser der staatlichen Richtlinien und Bildungsprogramme aus irgendeinem Grund den Bereich „Naturkunde“ aus dem Lehrplan der Grundschule nahmen, wo bis jetzt in der 1. und 2. Klasse „Umwelt“ und in der 3. und 4. Klasse „Naturkunde“ unterrichtet wurden und auf die Idee kamen, diesen Bereich im Fach „Ich und die Ukraine“ unterzubringen. Die beiden Fächer erwiesen sich jedoch als unvereinbar, woraufhin Erziehungswissenschaftler den Lehrern das Fach „Ich und die Ukraine“ in zwei Fächer zu unterteilen empfahlen: „Ich und die Natur“ sowie „Ich und die Gesellschaft“. So wurde es in Klassenbüchern dokumentiert. Das ist absurd, weil die Betonung des Pronomens Ich in der Bezeichnung des Fachs auf ein falsches Verständnis der persönlichkeitsorientierten Bildung hindeutet. Man könnte nach dieser Logik auch andere Fächer „Ich und die Mathematik“, „Ich und die Physik“ usw. nennen.
Als Folge der unüberlegten Kombination der naturwissenschaftlichen und der kulturwissenschaftlichen Komponenten gab es in den Lehrbüchern zur Unterrichtsreihe „Ich und die Ukraine“ mehr naturwissenschaftliche Inhalte als Berichte über die Ukraine und Ukrainer, über ihre materiellen und geistigen Kulturgüter. Die naturwissenschaftlichen Inhalte hatten dabei jedoch keinen Bezug zu der Ukraine, entsprachen also nicht der Bezeichnung der Unterrichtsreihe.
Nachdem die Verfasser der neuen staatlichen Richtlinien sich von der Sinnlosigkeit der Zusammenführung zweier allgemeinbildenden Zweige in einem Fach überzeugt haben, führen sie erneut den Zweig „Naturkunde“ (was längst hätte gemacht werden müssen) und das Fach „Naturkunde“ ein, nehmen aber gleichzeitig das Fach „Ich und die Ukraine“ aus dem Programm, welches logischerweise die Einführung der Ukraine-Kunde, und nicht der Sozialkunde einleiten sollte. Dafür fügen sie dem Lehrplan die von dem eigenen Land, vom Staat Ukraine weit entfernte globalisierte Unterrichtsreihe „Ich in der Welt“ hinzu.
Das öffentliche Interesse an der Globalisierung hatte in Europa und in anderen Ländern der Welt längst nachgelassen. Dort wendet man sich bei der Entwicklung neuer Methoden für Bildung und Erziehung der nächsten Generation dem eigenen Kulturgut zu. Und wir gehen unüberlegt einen Schritt zurück und nicht nach vorne. Wie kann man in der ersten Klasse, wenn die Schüler noch nichts über die eigene Gegend, über ihre kleine Heimat, über ihr Land gelernt haben, ihnen gleich von der Welt erzählen und dabei verschiedene Kulturen und Traditionen miteinander vergleichen, so wie es in der erläuternden Notiz zur Unterrichtsreihe „Ich und die Welt“ steht. In diesen Notizen fehlen gänzlich solche Begriffe wie „Ukraine“, „Patriot der Ukraine“, „ukrainisch“, „National“, „Entwicklung des nationalen Selbstverständnisses“. Wen erziehen wir denn? Kosmopoliten? Bürger des Weltraums? Dieses Programm widerspricht allen Regeln der Logik und der Didaktik. Wäre es nicht besser, für die Entwicklung des nationalen Selbstverständnisses Fächer wie „Ukraine-Kunde“ oder „Meine Ukraine“ einzuführen – so, wie „Naturkunde“ eingeführt wird. In diesem Fall wären sowohl der naturwissenschaftliche als auch der gesellschaftswissenschaftliche Zweig involviert, welche in den staatlichen Richtlinien bis jetzt fehlen. Die Inhalte sollen jedoch nicht die globalisierte Welt, sondern die nähere Umgebung der Schüler (die Heimatregion, den Staat Ukraine) umfassen. Außerdem könnte man in diesem Rahmen auch die Beziehungen der Ukraine zu anderen Ländern, zu der Welt sowie zu der ukrainischen Diaspora behandeln.
Wollen wir doch mal sehen, was aus den älteren Schuljahrgängen im Zuge der Umstellung auf eine profilierende Schulbildung wurde, nachdem man die 11. und die 12. Klassen im Rahmen der Umstellung auf die 11- jährige Dauer der Schulausbildung zusammengelegt hatte.
Es ist erstaunlich, dass bei dem Übergang zu einer profilierenden Schulbildung in den älteren Schuljahrgängen in solch einem wichtigen Fach wie ukrainische Literatur, welches ebenso wie ukrainische Sprache als obligatorisch für die Testung festgelegt wurde, nur zwei und keine drei Stufen der Profilierung gibt. In Mathematik und Physik existieren drei Stufen – die Standard-, die akademische- und die profilierende Stufen mit einer unterschiedlichen Anzahl der Unterrichtsstunden. In der ukrainischen Literatur legte man die Standard- und die akademische Stufe zusammen und stellte dafür jeweils zwei Stunden sowie für die profilierende Stufe vier Stunden zur Verfügung. Man könnte jedoch Schülern des geisteswissenschaftlichen sowie des fremdsprachlichen oder der künstlerischen Zweige auch drei Stunden zuweisen, denn sie müssen sich intensiver mit Literatur befassen, als Schüler der Standardstufe. In diesem Fall wird die Idee der profilierenden Bildung verfälscht, denn mehr als 90 % der älteren Schüler (es gibt keinerlei Differenzierung) stehen zwei Stunden für Literatur zur Verfügung, und lediglich 10 % können sich in vier Stunden vertieft damit befassen.
Wie soll das heutzutage möglich sein, 26 Schriftsteller in zwei Stunden in der 11.Klasse durchzunehmen? Zum Vergleich waren es in der 10. Klasse vor der Zusammenlegung lediglich 13. Man ist gezwungen, lediglich einen Überblick über das Werk der herausragenden Künstler zu geben, weil man in einer Doppelstunde das Werk zweier Schriftsteller behandeln muss: M. Rylskij und E. Plushnik, N. Serow und M. Semenko, W. Simonenko und I. Dratsch, N. Chwylewyj und G. Kossynka usw.
Und wie sollte man in einer Stunde einen Überblick über das Werk der modernen Schriftsteller wie I. Rymaruk, V. Slaptschuk, J. Andruchowitsch, G. Pagutjak, O. Sabushko geben, um den Schülern den Begriff des Postmodernismus zu vermitteln?
Oder wie sollte man es schaffen, seinen Schülern in einer Unterrichtsstunde das Werk russischsprachiger Dichter der Ukraine wie N. Uschakow, L. Wyscheslawskij, B. Tschitschibabin, L. Kisseljow näherzubringen? Eine solche Situation ist für Lehrkräfte völlig neu. Wohin führt uns also dieser Weg? Ist das ein Fortschritt oder ein Rückschritt in Sachen Literaturunterricht? Schuld sind hier nicht die Entwickler schulischer Lehrpläne, welche von den Verfassern der neuen Unterrichtspläne im Rahmen der Richtlinien für die Bildung in solch ein enges Korsett gezwungen wurden. Lasst uns also keine Fehler machen, solange die Richtlinien für die Mittelschule noch nicht verabschiedet sind. Lasst uns nicht die Kinder überlasten, denn sie sind bereits überlastet von der Vielzahl der Unterrichtsfächer.
In manch einem reift der Gedanke, die ukrainische und die ausländische Literatur zu einem Fach zusammenzuführen. Das wäre jedoch ein noch weniger durchdachtes Experiment, für welches die Lehrkräfte weder des einen noch des anderen Fachs Verständnis haben würden. Denn die Zahl der behandelten Schriftsteller würde sich in diesem Fall verringern und so würden die Schüler weder die eine noch die andere Literatur richtig kennen. Das darf man in keinem Fall zulassen.
Noch haben wir Zeit. Man sollte sehr sorgsam an die Entwicklung der staatlichen Richtlinien für die Schule herangehen, indem man auch die öffentliche Meinung sowie die Ansichten der Pädagogen berücksichtigt.
25. November 2011 // Jekaterina Plewatschuk, Wassilij Zymbaljuk
Quelle: Serkalo Nedeli