Slawjansk: Ein Jahr nach der "Donezker Volksrepublik"



Am 12. April letzten Jahres wurde das Milizrevier der Stadt Slawjansk von einer Gruppe von Freischärlern unter der Anführung von Igor Girkin-Strelkow besetzt. Wie Girkin später in einem Interview erzählte, kam die Gruppe aus 52 Mann direkt von der Krim in die Stadt.

Vier Monate später – am 7. Juli – verließen sie im Morgengrauen die Stadt. Die Einheimischen erzählen, dass die Fahrzeugkolonne so groß war, dass sie über anderthalb Stunden brauchten.

Dort sagt man nicht „wir wurden befreit“. Dort sagt man, „die Freischärler sind geflohen“ und schweigt vieldeutig.

Es scheint, in den Monaten der Regierung der „Donezker Volksrepublik“ hat man die Rolle von Statisten in einem unendlichen Horrorfilm gespielt. In Slawjansk gab es alles – Folter, Morde, Hungertod, Übernachtungen in Kellern, Sklavenarbeit und unaufhörliche Kanonaden.

Es scheint, das derartige Wunden auf Jahre nicht heilen. Jedoch sind zum Glück viele erzwungene Umsiedler, die in Slawjansk gemeldet sind, zurückgekehrt. Sie verlassen sich auf niemanden und reparieren ihre zerstörten Häuser selbst, richten ihr bescheidenes Alltagsleben wieder her. Mit aller Kraft versuchen sie, sich nicht an die vergangenen Ereignisse zu erinnern.

„Vor kurzem hat ein Junge einen Knallfrosch am Busbahnhof angezündet. Die, die Slawjansk nicht verlassen haben, warfen sich auf den Boden, die anderen – haben sich nicht mal umgedreht“, erzählt der Volontär Denis. Er ist Boxtrainer, und hat die Stadt nicht verlassen, genauso wie ein Drittel der Stadt. „Weißt du, als ich gesehen habe, wer die DNR unterstützt hat, bekam ich den Eindruck, der Rachen der Hölle tat sich auf. Soviel Verwahrloste und Lumpen habe ich noch nie auf den Straßen gesehen“, erinnert er sich. Wenn er erzählt, was in der Stadt während Girkins Regierung passierte, wird seine Rede langsamer, als ob er nach Wörtern sucht und immer noch das Geschehene verdaut. Nach einem Jahr, auch die, die während der Okkupation in Slawjansk geblieben sind, bevorzugen zu sagen, sie hätten die Stadt verlassen. Das erklären sie einfach so – die Erinnerung daran ist schrecklich. Die Stadt hat sich von dem Horror noch nicht erholt.

Nach einem Jahr gibt es auch die, die sich vom Stockholmer Syndrom nicht befreit haben. Viele Einwohner warten auf die Rückkehr der Okkupanten, und die Okkupanten selbst werden von Legenden umrankt. In einigen Köpfen kreist der Gedanke, irgendwo würde es „gute Landwehrleute“ geben.

Revanche der Ruheständler

Mit dem Georgier Fridon Wekua, den man als einen aktiven Teilnehmer der Ereignisse des letzten Jahres bezeichnen kann, treffen wir uns auf dem Hauptplatz von Slawjansk vor dem Gebäude des Stadtrates.

Auf dem immer noch sicher stehenden Lenin Denkmal glänzt seit kurzem blau-gelb gefärbtes Halstuch der Pioniere und der verlaufenen Farbe. Keiner der aktiven Einwohner riskiert ihn abzubauen, oder in der Dunkelheit niederzuwerfen. „Wissen Sie wie viele Rentner wir haben?“, fragt mich Wekua. „Bis zum Krieg waren es 42.000, und jetzt mit den Umsiedlern noch mehr. Und das bei 100.000 Einwohnern. Für diese Menschen ist Lenin ein Symbol ihrer Jugend! Berühre ihn mal – dann hast du einen Aufschrei!“

Fridon Wekua ist der ehemalige Mitarbeiter der Geheimdienste. Er selbst nennt sich Geheimagent. Er erzählt, dass in den späten 80er er deswegen entlassen wurde, weil er eine Untersuchung von korrupten Aktivitäten des Chefs durchgeführt hat.

Statt seines Chefs hat das “System” ihn weggeworfen. Wekua ging dann in die Wirtschaft. Als das Milizrevier angegriffen wurde, rief er die ehemaligen Kollegen in Kiew an, um über die Situationen zu berichten und den künftigen Aktionsplan zu erfahren. Einen Plan gab es nicht. Es gab nur Verwirrung. Fridon sagt, dass genau deswegen er sich für eine Rolle des Doppelagenten entschieden hat.

Lokale Aktivisten sprechen über ihn als über einen Mann, der immer mit heiler Haut davonkommt.

“Er kann gut ein dreifacher Agent sein”, scherzt man. Er hat sich zu gut in die Rolle eines Vorkämpfers der “Donezker Volksrepublik” eingelebt“.

Jedoch ist Fridon einer der wenigen, die persönlich mit Girkin im Gespräch waren. Er ist derjenige, der die Fakten zum Missbrauch von Verteilung humanitärer Hilfe vom „Volksbürgermeister“ Ponomarjow vorgelegt hat.

„Ich wusste genau, wer dieser Ponomarjow ist. Man kann ihn nicht mal einen kleinen Gangster nennen. Er war der Anführer der „Tituschki“ in Slawjansk. Unsere Stadt ist klein, und bald wurde klar, dass seine Verwandten mit der humanitären Hilfe Geschäfte machen.“

Wenn wir durch die Karl-Marx-Straße zum Gebäude des Sicherheitsdiensts der Ukraine (SBU) gehen, erzählt Wekua wie er Nachweise zu Ponomarjows Delikten gesammelt hat. Wir halten in der Nähe des Restaurants “Illusion”. Das benachbarte historische Gebäude aus dunkelrotem Backstein ist das Gebäude des SBU, wo im letzten Frühjahr und Sommer Menschen gefoltert wurden. Dieser Stadtteil wurde für mehrere Monate von zwei Seiten mit hohen Checkpoints blockiert.

„Als ich hierher gebracht wurde, Girkin stand hier“, zeigt Wekua auf die Straße, „schaute er zu mir und sagte dem Militärkommandanten Wiktor Nosow (Rufname „Nos“, deut. „Nase“): „Hier, nimm diesen Menschen, du weißt, was mit ihm zu tun ist“. In diesen Moment habe ich mich erschrocken“, erinnert sich Wekua.

Fridon hat mit seiner Untersuchung gegen Ponomarjow einen Keil zwischen Girkin und den „Volksbürgermeister“ getrieben, letzterer wurde dann bald von seinem Dienst zurückgestellt.

Anstelle von Ponomarjow wurde Wladimir Pawlenko ernannt – der frühere Leiter der Abteilung für Soziales und Arbeit dersStadtrates. Später wird er nach Weißrussland fliehen, weil die Gefahr einer Verfolgung seitens des ukrainischen Militärs bestand. Wekua wurde zu seinem Assistenten in Fragen der Verteilung humanitärer Hilfe.

„Ich trug keine Tarnkleidung, keine Waffen, und bestand darauf, dass man das Lager mit humanitärer Hilfe öffnete und einen unabhängigen Aufseher bestellte. Ich teilte die Stadt in vier Teile und organisierte eine gerechte Verteilung der humanitären Hilfe“, erklärt Wekua. Er musste mehrere Male sowohl den Freiwilligen als auch den Rechtsschutzorganen erklären, was er in den Reihen der „Donezker Volksrepublik“ gemacht hat. Ein paar Tage bevor die Freischärler die Stadt verlassen haben, hat Bürgermeister Pawlenko ihn zu sich vorgeladen, um mitzuteilen, dass Girkin Wekua entlassen hat. „Mir wurde klar, was jetzt kommen wird und innerhalb einer halben Stunde habe ich die Stadt verlassen“, sagte Wekua.

Fridon kam nach Slawjansk zurück, als die Kämpfer die Stadt ganz verlassen haben. Die Freiwilligen des Bataillons „Kiew-2“ haben versucht ihn zu verhaften, jedoch haben die Bekannten aus dem SBU ihn verteidigt. Immer noch macht er Aussagen, stellt den Lauf der Ereignisse wieder.

„Der Hauptstamm der Kämpfer, insbesondere am Anfang, waren russische Ruheständler. Das waren Menschen zwischen 45 und 50 Jahren“, erzählt Fridon, während wir das von Splittern versehene Gebäude durchschauen, in dessen erster Etage Girkin-Strelkow gelebt hat.

Wie viele russische Spezialkräfte gab es in Slawjansk?“„Rechnen Sie, wenn täglich 1.600 Brotlaibe gebraucht wurde“, schätzt mein Gesprächspartner. Nach seiner Rechnung waren es zwischen drei- und fünftausend Mann. „Ihre Quartiere waren im Stadtkrankenhaus, im Internat, in der Schule Nummer 16, im Sanatorium „Jubileynij“, in der Stadtpost, im Kulturpalast „Schelesnodoroschniki“ , und das Gebäude von Motor-Isolatorwerk diente als Munitionslager.“

Fridon hatte eine lange Liste von Kämpfern, an die er humanitäre Hilfe verteilt hat. In diesen Monaten hat er so viel Übel gesehen, dass es für mehrere Horrorfilme ausreichen würde. Was ihn am meisten überrascht hat, ist die Rolle der orthodoxen Priester. Er erzählt, dass die Freischärler die Waffen in den Kirchen (Russisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchat) gelagert haben, diese geweiht haben, vor den Kämpfen gesegnet wurden und die Priester Waffen in Särgen durch die Checkpoints brachten.

Besonders aktiv im letzten Frühling zeigte sich der Priester Witalij aus der Heiligen-Wiederauferstehungskirche. Genau er hat der Girkin-Gruppe im Zentrum der orthodoxen Kultur Obdach gewährt, und die Frauen mit den Ikonen für die Blockade der ukrainischen Soldaten organisiert. Zu Belustigung dazu noch fuhr er durch die ukrainischen Kontrollpunkte und verfluchte die Soldaten. Heute ist er nicht mehr in der Stadt.

Neumärtyrer von Slawjansk

„Man hat uns während jedes Gottesdienstes die Gehirne gewaschen“, – erzählt die Kirchgängerin der orthodoxen Kirche, die ihren echten Namen nicht nennt. Die junge Frau entscheidet sich zum Gespräch erst nach langen Überredungen. Sie singt schon einige Jahre in dem örtlichen Kirchenchor. Sie erinnert sich, wie seit April letzten Jahres die Agitation für die „Donezker Volksrepublik“ in den Kirchen angefangen hatte und im Priester Lexikon das Wort „Faschist“ aufkam.

„Es war fürchterlich, ich habe die Glaubensbrüder nicht wiedererkannt“, sagt sie. Ein Jahr später hat sich die Rhetorik geändert. Die, die früher Waffen geweiht haben, fordern jetzt zu Frieden und Verständigung auf. „Aber ich kann sagen, dass die Hälfte unserer Gemeinde auf die Rückkehr der „Donezker Volksrepublik“ wartet“, gesteht die junge Frau.

Sie hat die Zeiten der „Donezker Volksrepublik“ überlebt, hat gesehen, wie die Menschen auf den Straßen weggefangen wurden, sie wusste über die Folter in den Kellern des ehemaligen SBU-Gebäudes, hat den Volontären geholfen Kinder und ältere Menschen aus der Stadt zu bringen. Aber es gibt etwas , womit sie sich schwer abfinden kann.

„Uns wurde so oft gesagt, dass Protestanten gleich Sektierer, dass sie amerikanische Spione sind. Ich glaube, genau das war der Grund der sinnlosen Ermordung von vier Menschen aus der Kirche „Verklärung Christi“, sagt sie. Wir gehen durch die staubige Karl-Marx-Straße. Am Ende der Straße steht die protestantische Kirche.

Ab und zu bleibt meine Gesprächspartnerin stehen, als ob sie etwas erzählen möchte. Es ergab sich, dass sie durch die Volontärtätigkeit mit den Protestantengemeinden zusammenkam, weil auch sie den Menschen Essen angeboten haben, sie ärztlich behandelt haben und aus der Stadt transportiert haben. „In keiner orthodoxen Kirche wurde eine derartige Hilfe geleistet“, erzählt sie bedauernd und fügt taktvoll hinzu: „Ich würde sagen, dass es eine entgegengesetzte Hilfe gab.“

Wir kommen schließlich zu dem Gotteshaus der Kirche der Verklärung. Ein schönes Gebäude mit monumentalen Säulen – der ehemalige Kulturpalast namens Artjom. Vor zehn Jahren wurde das Gebäude gekauft und an die protestantische Gemeinde unter der Leitung von Pastor Alexander Pawenko gespendet.

Nach dem Sonntagsgottesdienst am 8. Juni 2014 wurden die Söhne des Pastors Ruwim (30 Jahre alt) und Albert (24 Jahre alt), zwei Diakone – Wiktor Bradarskij , Vater dreier Kinder,und Wladimir Welitschko, Vater von acht Kindern, von vermummten Kämpfern in Autos geschleppt und in unbekannter Richtung weggeführt.

Der Pastor einer anderen protestantischen Kirche „Gute Kunde“ Pjotr Dudnik empfiehlt mir sich mit der Frau von dem ermordeten Wiktor Bradarskij – Natalja – in Verbindung zu setzen. Sie schreibt ein Buch über ihren Mann, über den Krieg und Gott. In der ersten Minute unseres Telefongesprächs lässt sie sich auf ein Treffen mit mir ein. Ihr Haus ist in einem Eigenheimviertel von Slawjansk, wohin man mit dem Taxi fahren muss. Auf dem Weg dahin frage ich den Fahrer, ob er über die Morde an den vier Protestanten etwas weiß. „Ja, sie sind neben dem Kinderkrankenhaus beerdigt worden“, sagt er gleichgültig. Und dann fügt hinzu: „Ich halte mich hier raus.“ Denn so etwas passiert im Krieg.

Natalja Bradarskaja steht am Eingangstor. In ihrem gemütlichen Haus ist der Tisch gedeckt und alles zum Teetrinken vorbereitet. Sie holt ihr Tagebuch heraus , in dem sie jeden Tag der Suche nach ihrem Mann eingetragen hat, vom 8. Juni bis zum 15. Juli.

Hier ist die Notiz vom 17. Juni: „ Ich ging nach dir suchen in den das Milizrevier. Sie sagten, ich soll mich an den Advokat (Deckname eines Kämpfers) wenden. Er sagte, er würde nachschauen. Ich habe einige Stunden gewartet. Danach kam er und sagte, du seist nicht in den Listen.“ 1. Juli: „Gestern hat der Leiter der Militärpolizei „Nase“ seinem Assistenten Ljolik angewiesen mir zu helfen. Wir sind zur Feuerwache gefahren, wo du und andere angeliefert werden sollten. Ljolik sagte „ Ihr seid merkwürdige Leute, zuerst habt ihr uns gerufen, und jetzt unterstützt ihr uns nicht“. In der Feuerwehr waren die Männer, die euch gefangen genommen haben. Sie sagten, sie kamen aufgrund der Artilleriefeuerleitung auf euch. Dir haben sie nichts übelgenommen. Die anderen hätten Phosphorwaffen ausgefahren. So wurde es mir gesagt. Sie schauten mir direkt in die Augen und sagten, eure Autos wurden requiriert und ihr wurdet freigelassen.“

Die Freischärler haben gelogen. Sie folterten die vier Protestanten den ganzen Tag. Und um drei Uhr nachts sagten, sie, dass sie jetzt ins Auto von Wiktor einsteigen werden und als das Auto sich in Bewegung setzte, wurden die Vier erschossen.

Fridon Wekua hat über diese Geschichte am nächsten Tag erfahren, während eines Treffens mit Anhängern der „Donezker Volksrepublik“. Er wusste den Bestattungsort. „Dort waren 14 Leichen, 13 Männer und eine Frau, vier davon sind die verschwundenen Protestanten“, erzählt er.

Natalja Bradarskaja beschreibt sehr detailliert den Tag, als sie erfuhr, dass ihr Mann ermordet wurde. Im Leichenhaus hatte sie Hunderte von Fotos mit Menschenkörpern gesehen. Bis jetzt glaubt sie nicht, dass er es tatsächlich war.

Ihr wurde öfters zu verstehen gegeben, dass die Protestanten auf Befehl Girkins verschleppt wurden. Man hatte nach jemandem aus der Familie von Pastor Pawenko gesucht. „Es lag nicht am Geld, sondern an eurem Glauben“, hatte man ihr bei einem Treffen gesagt. Am Tag vor unserem Treffen hat Natalja das Drehbuch zu einem Dokumentarfilm über ihren Mann zu Ende geschrieben.

„Die Leute haben Wiktor geliebt. Er hat das Fernsehprogramm „Zwei Fragen“ auf dem örtlichen Kanal geführt , und war Ansager an lokalen Feiertagen. Er war sehr gutherzig“, sagt Natalja und verstummt. Im Wohnzimmer gibt es viele Fotos von ihrem Mann, auf jedem lacht er.

„Für Sie ist es schwer sich vorzustellen, was hier passierte. Es war wie das Jahr 1937. Menschen haben einander verdächtigt“, erklärt Pastor Pjotr Dudnik. Das Gebäude seiner Kirche wurde zweimal von den Kämpfern besetzt. Dudnik sagt, als „Gott durch ein Wunder Slawjansk befreit hat“ wurden aus seiner Kirche drei LkWs mit Waffen abtransportiert. Dudnik ist jetzt ein Held der Ukraine. Dank der Brigade von Volontären und seiner Unterstützung wurden 12.000 Menschen aus Slawjansk, Gorlowka, Debalzewo in Sicherheit gebracht.

„Die Stadt lebt immer noch in der Angst. Alle haben Angst, dass die Freischärler zurückkehren. Sie sagen und versprechen, sie würden an dem einen oder anderen Tag zurückkommen“, schüttelt der Pastor mit dem Kopf . Auf seinen Gottesdiensten betet er, dass die Stadt nicht wieder besetzt wird. Seine Gemeinde hat schon 112 zerstörte Häuser wieder errichtet.

Der ausgebildete Psychologe Dudnik behauptet, dass Slawjansk eine psychologische Therapie braucht. Er selbst kam auf die Idee ein Training „Wie lebe ich weiter? “ anzubieten, in dem er einfache Lebensregeln lehrt – dankbar zu sein, sich darauf zu freuen, was man hat, den Bedürftigen zu helfen. „Zum Beispiel geben wir Schiefer einem Hausbesitzer, und bieten ihn das Haus des Nachbarn dazu zudecken. Wenn der seinem Nachbarn beim Dachdecken hilft, spürt er den Geschmack des Guten. Der Mensch wird gutherziger“, erklärt Pjotr Dudnik.

Wie soll man weiter leben?

Der gegenwärtige Bürgermeister von Slawjansk, Oleg Sontow, sieht wie ein Optimist aus. Bevor er ein sachliches Gespräch anfängt, macht er einen historischen Exkurs. Er erzählt mit Geschmack und in Details über die Händlerstadt Slawjansk. Sontow ist der Vorsitzende des lokalen Journalistenverbandes und Hauptgegner von Nelli Schtepa (ehemalige Bürgermeisterin gegen die ein Prozess wegen Unterstützung der Separatisten läuft, A.d.R.).

Am 12. April des letzten Jahres als das Milizrevier angegriffen wurde, hat er mit seinen Kollegen eine Baumenallee zur Ehren des lokalen Journalisten, des Generaldirektors des Fernsehsenders „Tor“ Igor Alexandrow, gepflanzt. Der Bürgermeister erläutert, sie wären von dort direkt zum Milizgebäude gerannt.

Dass es eine ernste Sache war, hat er in einigen Tagen verstanden. Als er mit dem Abgeordneten des Stadtrates von Gorlowka, Wladimir Rybak, zum ersten Mal vor der Verfolgung der Kämpfer geflohen ist. Und am 17.April, an Gründonnerstag, erfuhr er, dass Rybak entführt wurde, weil er die ukrainische Flagge über den Stadtrat aufzuhängen versucht hatte. Nach einigen Tagen wurde seine Leiche, sowie die Leiche eines 25 jährigen Studenten im Fluss mit aufgeschnittenen Bäuchen gefunden.

Zum Jahrestag der Tragödie entschied der Bürgermeister Sontow alle Oppositions-Abgeordneten (gemeint ist die lokale Opposition, A.d.R.) zusammen zu bringen und eine Gedenktafel für Wladimir Rybak zu errichten. „Im gesamten Donbass gab es 3500 Abgeordnete, von denen 50 Anhänger der Oppositionsparteien sind“, erklärte Sontow die schwierige Lage. In der Stadtverwaltung von Slawjansk haben sich die Kräfte folgendermaßen verteilt: von 60 Abgeordneten des Stadtrates waren 48 Anhänger der Partei der Regionen, acht – der Kommunisten, drei – der Partei Witrenko, einer – eben Sontow, von der “Volksfront”. Bei den Parlamentswahlen kandidierte er für die Partei von Petro-Poroschenko-Block. Danach wurde er zum geschäftsführenden Bürgermeister.

Am Vorabend kehrte Sontow aus Polen zurück, wo er eine Woche in Kalisz ein Praktikum durchlief. Mit Optimismus erzählt er, wie gut es ist , wenn das Budget von den Steuern der lokalen Unternehmer gebildet wird und die Gemeinschaft die Mittelverteilung kontrolliert. Unterdessen hat man in der Stadt noch nicht angefangen zu rechnen.

Von den 100.000 Einwohnern von Slawjansk sind etwa 20.000 offiziell angestellt und rund 5.000 sind Unternehmer. Vor dem Krieg war es um 2.500 mehr.

„Unser Budget ist sehr bescheiden. Die Menschen sehen keine Stabilität und erwarten Wiederholung. Obwohl alle nur das Eine wollen – wie früher zu leben“, sagt Oleg Martschenko der Interimschef der städtischen Wasserversorgung, den ich zufällig in einem Café kennenlerne.

Er zählt auf den Fingern die Unternehmen ab, die im letzten Jahr geschlossen haben. Die Finger an beiden Händen reichen nicht aus.

Martschenko sagt, dass Menschen, die die Rebellen unterstützt haben, nicht verschwunden sind. Und einige von ihnen glauben immer noch, dass Girkin wie versprochen zurückkommt.

Am Abend vor der Abreise ging ich in die Alexander-Newskij-Kirche, die sich in der Nähe vom Bahnhof befindet. Im Sommer in den Predigten der Kirchenväter hörte man die Wörter “Faschisten” und “Ukry” und “Wunder der russischen Kultur”. Während des Dienstes am Karfreitag hörte man Gebete über Akzeptanz und Vergebung an Freunden und Streben nach Frieden.

In der Kirche stoß ich auf den schon mir bekannten Taxifahrer, der mich zur Familie der Protestanten gefahren hat, die ein Jahr zuvor den Vater verloren hat. Der Taxifahrer weckte meine Aufmerksamkeit durch die Kerze, die er in den Händen trug. Aus der Ferne war sie so groß, wie eine Keule.

15. April 2015 // Anastassija Ringis

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzerin:    — Wörter: 2955

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