Türkische Touristen auf der Suche nach hübschen Mädels im „polnischen“ Lwiw: Warum die ukrainische Geschichtspolitik in keinerlei Weise Einfluss auf das reale Leben hat
Es gibt auf der Welt absolut offensichtliche Dinge. Wenn zum Beispiel ein normaler Tourist in Transkarpatien nicht nur den ungarischen Adler, sondern auch die Krone des Heiligen Stephan oder Porträts der ungarischen Könige sieht, dann bedeutet das, dass dieser Tourist das Gebiet als einen Teil des historischen Ungarn identifizieren wird. Wenn die ukrainischen Sehenswürdigkeiten Spindel, Spinnräder, Pflüge und andere landwirtschaftliche Geräte sind, dann bedeutet das, dass in der Vorstellung dieses Touristen die Ukrainer sich als eine Bauernmasse festsetzen, fern nicht nur von Staatlichkeit, sondern auch von schlichter Modernisierung oder Urbanisierung. All das ist logisch. Tourismus und Geschichtspolitik sind eng miteinander verbunden, natürlich, wenn wir nicht über bestimmte Reisevarianten von der Sorte „billiger Alkohol und schöne Frauen“ sprechen.
Aber die ungarischen Adler finden sich im problematischen Transkarpatien. In Lemberg sollte alles andere sein. Zumindest wenn es danach geht, wie viel Aufmerksamkeit die Lemberger Politiker der Markierung des öffentlichen Raumes widmen. Wer ist mehr „für“ die rot-schwarze Fahne? Welche Sprache sollte man mit Touristen sprechen? Was erzählen die Touristenführer? Schließlich warum so viele Vergnügungen und so wenig patriotische Erziehung? Solche Themen werden regelmäßig in den Medien diskutiert. Wobei es die Probleme anscheinend allein in Lwiw gibt, hinsichtlich der Oblast tauchen vergleichbare negative Echos irgendwie nicht auf.
Besorgte Bürger lenken regelmäßig die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass die Fremdenverkehrsseite Lwiws nicht ausreichend patriotisch ist und in der Regel die Stadt fast aus polnischer Sicht darstellt. Ich musste lesen. Wenn die Überschrift des Abschnitts ‚Die Eroberung der Stadt durch Polen, das deutsche Lwiw„- Polonophilie ist, dann ja, ist es schlimmer Verrat. Wenn man unparteiisch hinschaut, dann ist die Geschichte der Stadt Lwiw in dieser Quelle mehr als nur ukrainozentrisch.
Um eine polnische Interpretation der Geschichte zu vermeiden, wird die Betonung gelegt auf die Rolle der deutschen Kolonisten in der Epoche des Mittelalters oder italienische Architekten in der Epoche der Renaissance oder der Armenier im Handel. Von dem kulturellen Leben wird Iwan Fedorow (Fedorowytsch) erwähnt, der nach der Version der Autoren der Seite „aus dem ukrainisch-weißrussischen Grenzgebiet kam“.
Interessant ist die Darstellung der Geschichte der Belagerung Lwiws durch Bohdan Chmelnyzkyj im Jahre 1648. Einerseits geht es um einen „Befreiungskrieg des ukrainischen Volkes“, andererseits, wenn die Sprache auf die tatsächliche Belagerung kommt, um die „Armee der Kosaken und Tataren“. Dass die Kosaken Ukrainer waren, muss der Leser selber erraten. Die zweite Belagerung des Jahres 1655 wird ebenfalls diplomatisch „Belagerung Chmelnyzkyjs und der Russen“ genannt. Wenn es um andere Völker geht, dann kann man ruhig von „Türken, Tataren und Schweden vor der Stadt“ schreiben.
Im Allgemeinen verdient der Text Beachtung als ein Beispiel verbalen Balancierens: „Im Jahre 1672 beauftragte der türkische Sultan Mehmet IV., nachdem er ganz Podolien erobert hatte, seinen Vasall Kaputan-Pascha und dessen Verbündeten Hetman Petro Doroschenko, Lwiw einzunehmen.“ Hier muss man sowohl, dass er ein ukrainischer Hetman war, als auch, dass er ebenfalls Vasall des Sultans war, selber erraten. Andererseits ist eigens geschrieben, dass unter den zehn Geiseln, die die Türken zum Freikauf nahmen, zwei Ukrainer waren. Denn dies war eine heldenhafte Angelegenheit.
Voller ähnlicher Purzelbäume bezüglich der nationalen Zugehörigkeit der positiven wie auch negativen Helden ist auch der Rest des Textes: der siegreiche König Jan Sobieski ist schlicht König, aber die sieglosen Söldner, Ungarn, der „Völkerfrühling“ von 1848 eine ukrainische Deklaration, aber kein polnischer Aufstand. Auch wenn die Zwischenkriegszeit nicht polnische Besetzung genannt wird, wird doch der Begriff „Das polnische autoritäre Regime der Jahre 1919-1939“ gebraucht. Danach geht es um „sowjetischen Totalitarismus“ (so stellt man die Zweite Polnische Republik und die UdSSR auf den gleichen Rang von Totalitarismen, was weder korrekt noch weitsichtig ist noch eine Vorbereitung auf die „Aufgabe Lwiws durch die Polen“), mit keinem Wort werden die deutsche Besetzung, der Holocaust, die Verkündigung des Aktes der Wiederherstellung der ukrainischen Staatlichkeit, die Vertreibung der Polen erwähnt. Danach kommt die Erneuerung der Unabhängigkeit der Ukraine.
Im Abschnitt „Erfolge Lwiws“ setzt sich die Tradition der ordnungsgemäßen nationalen Markierung fort. Man versucht, die „Ukrainische Geschichte“ bei jedwedem erstbesten Anlass wiederzugeben unter Vermeidung der „polnischen“. Im Text kommt das Wort „ukrainisch“ 69 Mal, „polnisch“ 4 Mal und „jüdisch“ kein einziges Mal vor. Für jemanden, der vielleicht ein wenig mit der Geschichte vertraut ist, erscheint eine solche Darstellung mindestens als verzerrt.
In dieser Hinsicht enttäuscht auch nicht der offizielle Reiseführer Lwiws vom Rat der Stadt . Beschrieben wird beispielsweise das Stadtlogo, die fünf Türme, das die Vielvölkerschaft der Stadt verkörpern sollte, aber das geschieht nicht so, wie man es erdacht hatte. Drei der fünf Kirchen repräsentieren das ukrainische, polnische und armenische Lwiw, der Rathausturm steht für die staatlichen Traditionen. Der Glockenturm des Klosters der Bernhardiner sollte sprechen für die „Vererbung der städtischen Traditionen: das polnische Lwiw, das ukrainisch wurde, aufgewiesen am Beispiel des Bernhardinerklosters, das vor dem Krieg römisch-katholisch war und seine Aktivität als griechisch-katholische Kirche fortsetzte“. Eine ziemlich interessante Formulierung, in ihrer Unmittelbarkeit genial. Insgesamt gab es zu diesem Logo, (genauer zu solch einer Interpretation) bereits Kommentare von Kennern der jüdischen Geschichte. Und die Interpretation des Korniaktturmes, der das ukrainische Lwiw, die orthodoxe Kirche „symbolisiert“, ist überhaupt nicht angemessen in einer überwiegend griechisch-katholischen Stadt.
Um zu verstehen, was diese „polnische Sicht Lwiws“ ist, muss man nicht die offiziellen Quellen des Rathauses lesen, sondern vielleicht die kommerziellen Angebote polnischer Reiseveranstalter. Wo das Schwarze Haus ein Beispiel „polnischer“ und nicht „italienischer“ Renaissance ist. Man kann interessante Nuancen lernen, z. B. dies, dass das Königshaus am Ringplatz „Kleiner Wawel“ genannt wird, dass das wichtigste Denkmal auf dem Schlossberg der Hügel zum Gedenken an die Union von Lublin ist (und nicht die allgemeinbekannte Tatsache, dass die Truppen Maxim Krywonos’ die Burg stürmten), die österreichische Periode der Geschichte Lwiws wird als Besetzung Polens interpretiert usw. Das heißt, diese Version der Geschichte lebt ihr eigenes, absolut autonomes Leben, und stimmt auf keinerlei Weise mit all den Versuchen überein, die die ortsansässigen Patrioten unternommen werden.
In ähnlicher Weise gedeiht die „populäre Geschichte“ der Eingeborenen. Zum Beispiel erzählen einige Webseiten und einige talentierte Führer die „Legende“ (in Wirklichkeit – die Frucht einer krankhaften Fantasie) über die heimtückischen Bernardinermönche. Während der Belagerung Lwiws durch Chmelnyzkyj hätten sie angeblich Ukrainer getötet und die Leichen in ihren eigenen Brunnen geworfen. Das heißt, sie wären nicht nur grausame Katholiken, sondern klinische Idioten, dass sie sich selbst während einer Belagerung das knappe Wasser entzogen. Und irgendwie hört man nicht die empörten Patrioten, dass sie auf diese Weise Lwiw den schlechtgebildeten Watnyki (aus dem Russischen übernommene abwertende Bezeichnung für Anhänger Putins und Sowjetnostalgiker, vergleichbar mit der deutschen Unterschichtsdebatte der Nullerjahre, A.d.R.) „überlassen“, die mit sowjetischer Propaganda aufgewachsen sind.
Bei einem solchen Ansatz, wo die Geschichte einerseits ein Maximum verschiedener Touristen anziehen, andererseits der Wählerschaft nahebringen soll, dass wir alle Patrioten sind, war nichts anderes zu erwarten. Außerdem muss man schließlich noch die Türken mit den örtlichen Huren durch die Kräfte der tapferen nationalen Druschynnyki (paramilitärische Vereinigung aus dem Umfeld des Neonaziregiments Asow, die polizeiliche Aufgaben wahrnehmen wollen, aber bisher nur zu kleineren PR-Aktionen in der Lage sind A.d.R.) verjagen. Dabei darf man nicht vergessen, dass bereits in Kürze die ersten Billigflieger mit Biertouristen herbeifliegen werden, weshalb die Druschynnyki einfach nicht ausreichen werden. Die lokalen Patrioten indes werden weiter darüber murren, dass alle nach Lwiw ziehen „um zu essen, trinken und noch schön zu bummeln“, bei uns aber gibt es solch ein Vermächtnis, solch eine Spiritualität. Letztlich bietet die Stadt ihrerseits nichts außer Museen, die sonntags geschlossen sind, weil hier frei ist.
Über die Siege der historischen Gerechtigkeit auf der Ebene der Oblast geht es im 2. Teil.
3. April 2018 // Nasar Kis
Quelle: Zaxid.net