Ukraine ohne die GUS: Was die Entscheidung Kiews aus dem Bündnis „auszutreten“ bedeutet
Im fünften Jahr des Kriegs mit der Russischen Föderation hat die Ukraine schließlich die Frage des Austritts aus der Schlüsselvereinigung des postsowjetischen Raums – der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten(GUS) – aufgeworfen. Zumindest wurde diese Initiative von Präsident Petro Poroschenko angekündigt.
„Ich schlage der Regierung vor, einen Antrag über die Beendigung der Mitgliedschaft in den satzungsmäßigen Organen der GUS vorzubereiten“, sagte Poroschenko und merkte an, dass die Ukraine kein vollwertiges Mitglied der GUS sei, so dass sie aus diesem Gremium nicht austreten kann.
Allerdings wirft eine solche Ankündigung sehr viele Fragen auf. Wie wird die „Trennung“ verlaufen, aus welchen Abkommen würde die Ukraine lieber nicht austreten? Und vor allem: Wie werden die Beziehungen zu den Mitgliedsstaaten nach dem Austritt aus der Organisation geregelt? Versuchen wir diese Fragen zu betrachten.
Wozu? Und warum jetzt?
Offensichtlich ist der Hauptgrund für die Entscheidung aus der GUS auszutreten, die Verletzung aller Grundprinzipien der Zusammenarbeit. Außerdem nimmt Russland auf ideologischer Ebene, in den Schreiben des Präsidenten und in den Artikeln seiner Ideologen, eine Haltung der Feindseligkeit gegenüber anderen Staaten und des Isolationismus ein.
Der Grund für den Rückzug aus der GUS ist außerdem eine tektonische Spaltung innerhalb dieser Entität. Die Russische Föderation treibt den Aufbau einer Eurasischen Wirtschaftsunion aktiv voran. Dieses Projekt untergräbt, wenn auch langsam, aber mit Nachdruck, die GUS aus dem Innern heraus. Und vor allem schafft es Hindernisse für die Entwicklung der Zusammenarbeit der Ukraine mit anderen GUS-Staaten, beispielsweise Weißrussland oder Kasachstan.
Natürlich gibt es auch ein Argument dagegen, und zwar in der Form, dass die GUS eine Plattform zur Organisation des Widerstands gegen einen russischen Expansionismus sein kann.
Die Entwicklung der Ereignisse nach 2014, Aggression seitens der Russischen Föderation und aktive Integration seitens der EU einschließlich des Inkrafttretens des Assoziierungsabkommens, haben neue Ansätze für die Regionalisierung geschaffen. Auch wenn das nirgends gesetzlich festgelegt ist, wird die Ukraine zusammen mit Litauen und Polen immer mehr im Kontext mit Mittel- und Osteuropa betrachtet. Das ist natürlich eher eine symbolische, aber sehr wichtige Veränderung der Wahrnehmung der Ukraine. Je seltener wir dem postsowjetischen Raum zugeschrieben werden, desto besser.
Warum jetzt? Auf diese Frage gibt es keine klare Antwort. Es gibt kaum ein Ereignis, dass zu so einer Entscheidung geführt hat. Vorschläge für den Austritt aus der GUS klangen ab 2014 (und noch früher) an. Aber durch eine Reihe verschiedener Faktoren wird diese Aufgabe jetzt zur Priorität.
Und das ist gut, da der Ausstieg aus den GUS ein schwieriges Projekt wird. Wenn auch nicht so komplex, wird der Prozess ähnlich dem Brexit sein. Vor allem weil die GUS nicht nur eine Organisation ist, sondern auch eine große Anzahl verschiedenster Vereinbarungen beinhaltet. Und auch wenn viele Strukturen und Dokumente der GUS nicht sichtbar sind, so sind sie doch für ukrainische Bürger und Unternehmen sehr wichtig.
Dort austreten, wo wir nicht eingetreten sind
Die GUS existiert aufgrund zweier Dokumente: Das Abkommen über die Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten und die Charta der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten.
Das Abkommen über die Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten wurde im Namen der Ukraine am 8. Dezember 1991 unterzeichnet und schon am 10. Dezember von der Werchowna Rada ratifiziert (das waren Zeiten).
Erst danach (und eigentlich erst nach dem Protokoll von Almaty am 21. Dezember) begann die Arbeit an der GUS-Charta, die am 22. Januar 1993 unterzeichnet wurde. Die Ukraine ratifizierte diese Charta schon nicht mehr. Das hindert die Ukraine jedoch nicht daran, sich als Gründungsstaat an der Arbeit der GUS zu beteiligen. Und eigentlich entsteht hier das Problem.
Der Austritt aus der GUS ist in Artikel 9 der GUS-Charta geregelt, den wir nicht ratifiziert haben. Nicht, dass es für uns überhaupt keinen Ausweg gäbe. Artikel 9 der Charta ist eine Fortsetzung von Artikel 10 des Abkommens über die Gründung der GUS. Nach Artikel 10 behält sich jede der hohen Vertragsparteien das Recht vor, diese Vereinbarung oder ihre einzelnen Artikel zu kündigen, indem sie die Teilnehmer der Vereinbarung ein Jahr im Vorlauf darüber benachrichtigt. Das heißt, wir können vom Abkommen über die Gründung der GUS zurücktreten, indem wir aufhören ein Gründungsstaat zu sein.
Das Problem ist hier mehr politischen Charakters. Der erste Austritt aus der GUS, Georgien, basierte auf dem Artikel 9 der Charta. Daraufhin legte eine Expertengruppe im Rahmen des Exekutivausschusses der Gemeinschaft innerhalb eines Jahres fest, an welchen Vereinbarungen Georgien nach dem Ausstieg teilnehmen kann sowie weitere Details seines Austritts aus der Organisation.
Wird es an die Ukraine genauso eine Annäherung geben – diese Frage ist offen. Formal sollte es ebenso sein, aber aufgrund der politischen Umstände können wir eine andere Aufstellung von den GUS-Mitgliedstaaten hören.
Es gibt noch ein halbwitziges Thema. Der zweite Teil des 14. Artikels des Abkommens über die Gründung der GUS sieht die Einstellung der Aktivitäten der Organe der ehemaligen UdSSR auf den Gebieten der Mitgliedsstaaten der GUS vor. Für den Fall, dass wir die Wirkung des GUS-Abkommens beenden, ist es notwendig eine Klausel zu haben, damit die Abschaffung einer Regel, die die Wirkung anderer Normen aufhebt oder stilllegt, die abgeschafften Normen nicht automatisch wiederherstellt. Dieser Zauber sollte uns vor einer Zombie-Attacke schützen.
Aus den weniger komischen Themen: die Beendung des Abkommens über die Gründung der GUS betrifft auch Artikel 5 des Abkommens, die Achtung der territorialen Integrität und Unverletzlichkeit der Grenzen. Dies ist ein sehr heikles Thema im Zusammenhang mit den Gesprächen über den „Großen Vertrag“ zwischen der Ukraine und Russland (gemeint ist der weiter geltende Freundschaftsvertrag zwischen der Ukraine und Russland von 1997, A.d.R).
Alles überprüfen
Wie im Fall von Georgien ist die Erhaltung der Beteiligung an bestimmten Vereinbarungen der GUS das einzige was uns interessieren kann. Egal wie jemand über den sowjetischen Charakter der GUS lachen würde, seine Vertragsgrundlage ist gut entwickelt und wichtig genug für die bilateralen Beziehungen mit den Mitgliedsstaaten.
Deshalb müssen wir nicht nur darauf hinarbeiten, um zu definieren, in welchen Abkommen der GUS wir bleiben. Wir müssen mit jedem Mitgliedsstaat der GUS (zumindest mit Moldau, Belarus und Kasachstan) darüber sprechen, wie die Beziehungen geregelt werden können, falls die Ukraine ihre Präsenz in der einen oder anderen Vereinbarung der GUS nicht fortsetzen kann.
In bilateralen Beziehungen kann dies, wo möglich, eine Bestätigung der Gültigkeit der GUS-Verträge sein, die Bestätigung der Gültigkeit anderer multilateraler Verträge (z. B. Verträge des Europarates oder der Vereinten Nationen) oder die Wiederaufnahme oder das Inkrafttreten neuer bilateraler Verträge.
Schließlich ist der Austritt aus der GUS nicht nur ein Austreten aus der Organisation und einer Reihe von internationalen Verträgen, sondern eine vollwertige Revision der bilateralen Beziehungen zu den GUS-Staaten.
Das ist tatsächlich eine wichtige Angelegenheit. Aber das System vertraglicher Verflechtungen im postsowjetischen Raum ist so kompliziert, dass es sehr schwierig ist, in dieser Arbeit von einem einfachen und klaren Schema zu sprechen.
Aber man darf nicht denken, dass die GUS ein einfaches Freihandelsabkommen ist. Innerhalb der GUS handelt eine vollwertige internationale Organisation, die den Schienenverkehr regelt. Der Austritt wird das Geschäft der „Ukrsalisnyzja“ (Anm. d. Üb.: ukrainische Eisenbahngesellschaft) beeinflussen, das offensichtlich durch die Mechanismen des Exekutivkomitees des Rates der GUS für Schienenverkehr Zugang zu den Märkten der GUS-Staaten erhält.
Ebenso wichtig sind die Bestimmungen der Konvention über Rechtshilfe und Rechtsbeziehungen in Zivil-, Familien- und Strafsachen von 1993. Das Übereinkommen ist ein ausreichend wirksames Instrument zum Schutz der Interessen von Einzelpersonen in allen Kategorien von Gerichtsfällen. Und hier tritt nochmals die verwirrende Geschichte auf, dass wir der neuen Generation dieses Übereinkommens nicht beigetreten sind, aber das ist ein eigenes Thema.
Endlich kehren wir zurück zum Handel. Das Abkommen über eine Freihandelszone ist wichtig für einen bedeutenden Teil der Exporte der Ukraine. Insbesondere unser Handel mit Belarus hängt vollständig von diesem Dokument ab. Aber das ist noch nicht alles!
Ironischerweise unterliegt unser Handel mit Moldau auch dem Freihandelsabkommen der GUS. Aber Chişinău ist zuversichtlich, dass im Falle der Auflösung des GUS-Vertrages unser Handel nicht leiden wird, da es ein bilaterales Abkommen gibt. Es hätte annulliert werden sollen, aber es wird immer noch in der legislativen Basis als wirksam aufgeführt. Die gleiche Situation besteht mit Kasachstan.
In den Archiven finden sich fast vollständig bilaterale Freihandelsabkommen zwischen der Ukraine und den GUS-Staaten. Einige von ihnen können regeneriert werden, und dies erfordert sorgfältige Arbeit. Um alle Zweifel auszuräumen, müssen die Parteien zumindest ein Protokoll schließen, dass wir ab diesem Moment ein bilaterales Abkommen anstatt einer Vereinbarung im Rahmen der GUS anwenden. Aber das ist definitiv einfacher, als nur über ein neues Abkommen zu verhandeln.
In jedem Fall beginnt der Weg zum Austritt aus der GUS mit einer Notifikation auf der Grundlage von Artikel 10 des Abkommens über die Gründung der GUS. Mit dem Datum dieser Benachrichtigung beginnt eine zwölfmonatige Frist bis zur Einstellung dieses Abkommens, innerhalb derer wir Antworten auf alle komplizierten rechtlichen Fragen finden müssen.
16. April 2018 // Taras Katschka, Stellvertretender Geschäftsführer des internationalen Fonds „Widrodschennja / Renaissance“, von 2007-2011 Mitglied des Verhandlungsteams der Ukraine über das Assoziierungsabkommen mit der EU
Quelle: Jewropejska Prawda