Ursache und Folge
Der Euromaidan. Die Krimannexion und der Krieg im Donbass. Die Wahl Selenskis [ukr. Selenskyj] und die Verfolgung Poroschenkos. Die Rassenunruhen in den USA. All diese Ereignisse werden nicht nur durch unsere Aufmerksamkeit zusammengebracht, sondern auch durch das seltsame Spiel mit Kausalzusammenhängen.
Der amerikanische Protest teilte unsere Kommentatoren in zwei Gruppen. Die einen betrachten die Rassendemonstrationen als Folge. Eine Folge der historischen Diskriminierung, der sozialökonomischen Probleme und der provozierenden Politik Donald Trumps.
Die anderen sehen gerade diese Auftritte als Ursache. Als Ursache des Chaos, der Gewalt, der Plünderungen und des sichtbaren Niedergangs der Vereinigten Staaten.
Ungefähr so sah auch der ukrainisch-russische Konflikt aus, der vor sechs Jahren begann. Die proukrainische Position befand, dass der Euromaidan eine Folge sei. Eine Folge der Expansionspolitik des Kremls, der verräterischen Handlungen Janukowitschs und der Willkür der Schläger.
Dagegen besagte die prorussische Position, der Euromaidan sei die Ursache. Die Ursache für den Verlust der Krim, für den Krieg im Donbass und für die weiteren Miseren, die auf den Sturz Wiktor Fjodorowitsch Janukowitschs [ukr. Wiktor Fedorowytsch Janukowytsch] folgten.
Denselben Effekt hatten auch die Wahlen im letzten Jahr, die die Ukraine noch immer zur Gefangenen des postelektoralen Syndroms machen.
Für die einen ist das Erscheinen von Se[lenski] die Folge. Die Folge der Gewissenlosigkeit und Haltlosigkeit der alten Eliten.
Aus dieser Perspektive sieht sogar die rechtliche Verfolgung des Ex-Präsidenten wie eine Konsequenz desselben Systems aus, das Pjotr Alexejewitsch [Poroschenko, ukr. Petro Olexjikowytsch] selbst etabliert hat. Aber für die anderen ist das Erscheinen von Se[lenski] die Ursache. Die Ursache von allem, was im Land passiert: von den Skandalen beim Stadtbezirksgericht Petschersk bis zum Versagen im Kampf gegen das Coronavirus.
Und der normale Wähler, der Selenski an die Macht gebracht hat, wird nicht für eine Geisel der Umstände gehalten, sondern für ihren Verursacher…
Die Ursache ist die Anklageschrift. Die Last der Verantwortung, der sich niemand entziehen kann. Das ist der Ausgangspunkt, der alle weiteren Ereignisse bestimmt und andere Alternativen auslöscht.
Die Folge ist Herablassung und Rechtfertigung. Die Geschichte von rechtmäßigen, erzwungenen und von anderen provozierten Taten. Von Unvermeidlichem, das deswegen keinem allzu strengen Gericht unterzogen werden sollte.
Jeder sieht und wählt diejenigen Ursache-Folge-Beziehungen, die ihm gerade passen.
Aber die getroffene Auswahl wird mit Logik gerechtfertigt, mit exakter Wissenschaft, die vorgeblich keiner anderen Auslegung unterliegt.
Diese Auswahl lässt sich leicht mit nüchternem Denken, mit dem Vordringen zum Kern der Sache und mit objektiver Analyse in Verbindung bringen. Von gewöhnlichen Doppelstandards ganz zu schweigen.
Meistens lassen wir uns vom subjektiven Prinzip „dem Feind die Ursachen, uns die Folgen“ leiten. Und wir glauben, dass die Geschichte alle bewerten wird. Aber das Problem besteht darin, dass das berüchtigte Urteil der Geschichte nicht weniger subjektiv ist. In der Regel führt es dazu, dass dem Besiegten die Ursachen zugeschrieben werden und dem Sieger die Folgen.
Die Vereinigten Staaten verloren den Vietnamkrieg und waren gezwungen, ihre Saigoner Verbündeten fallenzulassen. Deswegen betrachtet man die amerikanische Einmischung als Ursache für das langjährige Kriegselend in der Region.
Aber hätten die Amerikaner gesiegt, wäre Südvietnam auf der Weltkarte geblieben, dann hätte man als Ursache des Kriegs die Politik der Hanoi-Kommunisten angesehen, die versuchten, das Nachbarland zu erobern.
Und Napalm und Bombenteppiche würden als bedauerliche, aber unvermeidliche Kosten der Abwehr kommunistischer Aggression angesehen.
Die Nationale Befreiungsfront siegte im Krieg um die algerische Unabhängigkeit.
Deswegen betrachtet man sämtliche Verbrechen der NBF als Folgen der französischen Kolonialpolitik.
Die brutale Ermordung von Frauen und Kindern, blutige Terroranschläge, die Vertreibung von Millionen Frankoalgeriern aus ihren Heimen: All diese Ereignisse werden als bedauerliche, aber unvermeidliche Kosten des Befreiungskampfes angesehen.
Nach einem Sieg Frankreichs hätte man die Strafoperationen der französischen Armee als Folge des schauerlichen Terrors betrachtet, den die Kämpfer der NBF entfesselt hatten.
Über 45 Jahre regierten Apartheidsbefürworter in der Südafrikanischen Republik. Diese ganze Zeit über wurde Rassensegretation als Folge von Ungleichheit betrachtet. Die kulturelle und ökonomische Spaltung zwischen den eingeborenen Bantu und den Buren galt als Ursache, weshalb sie getrennt voneinander leben sollten.
Aber sobald Nelson Mandela und seine Mitstreiter gesiegt hatten, kam es zu einer logischen Umkehr. Es zeigte sich, dass all die Jahre über die Ungleichheit die Folge der Rassensegretation gewesen war. Die Trennung von Weißen und Schwarzen wurde zur Ursache der kulturellen und ökonomischen Spaltung.
Jeder Konflikt, extern wie intern, wird zu einem Krieg um das Deutungsrecht von Kausalbeziehungen in der eigenen Sichtweise.
Und während die ukrainische Gesellschaft sich bis vor kurzem nur in einem solchen Kampf befand, so sind es inzwischen zwei.
Nach 2014 kämpfte die neue Ukraine weniger um die abgetrennte Krim und den Donbass als vielmehr für das Recht, die Aggression des Kremls als Ursache der Ereignisse zu bezeichnen. Die prorussischen Kräfte kämpften und kämpfen dagegen für das Recht, Annexion und Krieg zu Folgen des Maidans zu erklären.
Die Sicht des Siegers kommt in die Lehrbücher und wird als Verdikt der Geschichte selbst gelten.
Noch vor einigen Jahren schien nichts mit dem logischen Marker vergleichbar zu sein, der das Land in „Eigene“ und „Fremde“ teilte. Dann aber spaltete uns der Streit über Ursachen und Folgen in Verbindung mit den Wahlen von 2019.
Der Streit darüber, wie man Ukrainer begreifen soll, die den Showman Selenski zum Präsidenten gemacht haben. Ob man ihre Wahl als Resultat der Fehler und des Machtmissbrauchs der vorherigen Machthaber zu betrachten hat oder als Ausgangspunkt, von dem aus sich die Ukraine in die falsche Richtung bewegt.
Diese neue Spaltung hängt nicht mit proukrainischen oder prorussischen Positionen zusammen. Man kann Moskau unterstützen und Poroschenkos erfolglose Politik als Ursache seiner vernichtenden Niederlage sehen. Man kann ein flammender Patriot sein und am Maidan beteiligt gewesen sein und genauso denken.
Im Widerspruch zu anderen Maidanveteranen, für die eine solche Ursache-Folge-Kette unzulässig ist.
Außerdem hat diese Spaltung nichts mit der Unterstützung für die heutige ukrainische Regierung zu tun. Man kann ein überzeugter Se[lenski]-Anhänger sein und seinen Sieg als gesetzmäßige Folge der vorangegangenen Regierungsphase betrachten.
Man kann ein aktiver Se-Gegner und dennoch derselben Meinung sein.
Und den anderen Se-Gegnern widersprechen, deren Ansicht nach die Wahl von 73 Prozent weder Rechtfertigung noch Herablassung verdient.
Das ist kein Kampf mit dem ambitiösen Präsidenten Selenski in der Bankowa [Straße, auf der sich das Präsidentenbüro befindet]. Auch kein Kampf mit dem verfolgten Ex-Präsidenten Poroschenko, der in der großen Politik geblieben ist.
Das ist der Kampf um das Recht, das Jahr 2019 in den Geschichtsbüchern der Zukunft zu beschreiben. Und viele bekümmert er vielleicht sogar mehr als die zukünftige Einschätzung des Jahres 2014.
21. Juni 2020 // Michail Dubinjanski
Quelle: Ukrainskaja Prawda