Wir verlieren


Man fühlt mit uns, spricht und schreibt über uns. Man verurteilt den Aggressor, der unser Territorium okkupiert. Das beruhigt uns, gibt uns Hoffnung… Ach wenn es nur so wäre. In den Ländern Europas leben und arbeiten nicht nur Politiker und Diplomaten, die über unsere Situation gut informiert sind. Millionen Europäer sind sogar um einiges schlechter informiert. Weil wir, die Ukrainer, entweder unsere Wahrheit nicht erzählen können oder sie nicht erzählen wollen – im Gegensatz zu den russischen Massenmedien, die gekonnt und im Dauermodus ihre Lügen verbreiten. Fette Lügen, verpackt in Englisch, Deutsch und Französisch. Millionen Europäer könnten unsere wahren Verbündeten werden. Gerade sie könnten ihre Politiker dazu zwingen, die Ukraine effektiv zu unterstützen. Sie könnten Herrn Putin nicht nur moralisierend ermahnen, sondern mit konkreten und harten Sanktionen drohen. Sie könnten… Aber – sie werden nicht. Und Schuld daran sind ganz allein wir.

Schauen Sie sich mal unsere besten und informativsten Sendungen an: mit wortreichen, philosophierenden Journalisten, ohne neueste Nachrichten, mit zufällig eingeladenen Studio-Gästen und langweiligen Gesprächen von sogenannten Experten… und das alles hauptsächlich auf Ukrainisch. Mein Freund aus den Niederlanden – ein bekannter Politologe, der oft in der Ukraine verweilt – versucht regelmäßig, sich Hromadske.TV anzugucken. Er versucht es. Ich beruhige ihn dann immer: “Auch mir, obwohl ich die Sprache frei beherrsche, fällt es schwer, ein großes Ganzes aus diesen Wörtern, Pausen und Ausrufen zu machen.”

Lascher, provinzieller Journalismus. Lasch, sogar in der eigenen Sprache. Ein Journalismus, der den Unterschied zwischen Reporter und Publizist nicht verstanden hat. Der keine Dialoge mit seinen Gästen führt, ohne, dass er ihnen nicht seine persönliche Sichtweise, seine persönliche Meinung aufdrängt. Endlose sinnfreie und grammatische Fehler laufen über den Bildschirm-Banner. Das freie Wort – belastet durch die Freiheit des Analphabetentums und die Unprofessionalität.

Zu Sowjetzeiten, in den 1970er-Jahren, wurde das Info-Blatt “Chronik über das laufende Geschehen” im Samisdat veröffentlicht. Damals gab es die ganze festhaltende und übertragende Technik zwar nicht, aber dafür einen nicht schlafenden KGB. Als sie den nächsten „Chronik“-Redakteur Sergej Adamowitsch Kowaljow verurteilt hatten, der es vermochte zwei Ausgaben nacheinander zusammenzustellen und zuveröffentlichen, haben die KGB-Leute zahlreiche konkrete Fakten daraus kontrolliert. Sie fanden unter anderem zwei Verunglimpfungen, zwei oder drei Fehler in den Schreibweisen von Namen. Ja, so war das! Ohne Faxe, elektronische Kommunikation, ohne die Möglichkeit, über den herkömmlichen postalischen Weg Kontakt aufzunehmen, aufgrund der genauen Durchsicht aller Briefe. Ohne ein professionelles Korrespondenten-Netzwerk. Vergleichen Sie das mal mit dem Zustand der freien und gut bezahlten ukrainischen Presse heute, die einen Hang zu Fehlern und Ungenauigkeiten hat, und den hartnäckigen Wunsch, die Information nicht zu kontrollieren.

Faktisch gesehen besitzen wir keine kampfbereite Armee. Aber das ist weder ein Fehler der Soldaten noch der Offiziere, sondern der unserer Politiker. Heute sehen wir, dass in unserer Armee Menschen dienen, die wissen, was die Würde des Menschen bedeutet. Unsere Polizei-Staffeln, von denen wir übertrieben viele haben, können Feinde von Außen nicht bekämpfen. Eine effektive Außen-Propaganda besitzen wir nicht. Wir sind schon ein erstaunliches Völkchen: Wir lieben unser Land innig. Aber nicht den parasitären Staat, der sich hier eingenistet hat. Dennoch – es ist immer noch unser Staat.

10. März 2014 // Semjon Glusman

Quelle: LB.ua

Übersetzerin:   Maria Ugoljew  — Wörter: 531

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