Verraten und verkauft


Das Interessanteste am Bloggen ist nicht der Blog selbst, sondern die Diskussionen, die er auslöst. Heute hatte ich wieder ein solches Erlebnis. Was mich immer wieder wundert, ist die Tatsache, dass einige Leute unter meinen Lesern immer mit der „Korruption in der Ukraine“ ankommen, wenn es in einem Beitrag um die russische Militärintervention in der Ukraine geht. Diese Leute verlinken gern auf RT-Beiträge. Auch RT, das angeblich ja über Russland informiert, bringt sehr gerne und häufig Berichte über die „Korruption in der Ukraine“.

Damit wir uns nicht missverstehen: dieser Beitrag hat nicht zum Ziel, die Tatsachenhaftigkeit von Korruption in der Ukraine zu verneinen. Vielmehr geht es hier über die Funktion des Topos „Korruption in der Ukraine“. Dieser ergibt nämlich in seinem oben beschriebenen spezifischen Kontext eigentlich nur Sinn, wenn man damit etwas anderes erklären will.

Wenn man damit sagen will, die Ukraine habe es nicht anders verdient, oder wenn man darauf hinaus will, die von ukrainischen Stellen erbrachte Evidenz über die russische Militärintervention in der Ukraine zu delegitimieren. So, wie es eine meiner Leserinnen mit Blick auf die MH17-Ermittlungen tut: das ganze Land sei korrupt, sein gesamter Geheimdienst natürlich auch, also könne von dort ja keine wahre Aussage kommen.

Dieselben Leute, die so gerne von der „Korruption in der Ukraine“ reden, finden gleichzeitig viele kluge und weniger kluge Erklärungen für das Handeln der russischen Regierung in der Ukraine. Mal ist es das Bedrohungsgefühl, das die Russen angesichts der NATO-Expansion plage (obwohl der Ukraine der Eintritt in die NATO aus Rücksicht auf Russland verweigert wurde und wird), mal die kulturelle Nähe zwischen Ukrainern und Russen (schlägt man wegen kultureller Nähe seinem Nachbarn den Schädel ein? Oder schlägt man ihm den Schädel ein, um ihn sich – oder sich ihm – kulturell wieder etwas näher zu bringen?), mal die angeblich gefährdeten Menschenrechte der russisch sprechenden Ukrainer (die aber zu größten Teilen dankend darauf verzichten, sich von Putin befreien zu lassen).

Die „Korruption in Russland“ gehört nicht zu dieser Aufzählung möglicher, verständlicher Motive der fortgesetzten militärischen Intervention in der Ukraine. Wohl aber die „Korruption in der Ukraine“.

Diese Wahrnehmung der Verhältnisse zwischen Russland und der Ukraine ist eine nähere Betrachtung wert. Ginge es nämlich um den Grad der Korruption, dann wäre Russland ein ganz heißer Kandidat für eine, sagen wir, fiskal-ethische Militärintervention.

Denn im System Putin sind Korruption, Notwendigkeit des Machterhalts nach innen durch Feinderklärung nach außen sowie Ukraine-Krieg nicht auseinanderzudividieren. Wer nichts an sein Volk zu verteilen hat, weil er alles selber braucht, muss sein Volk auf andere hetzen. Dieser Krieg ist auf dem lebenden Kadaver russischer Korruption gewachsen.

In Russland sind Kriegs- und Sportereignis-Gewinnler, Donbass-Waffenlieferanten, Geheimdienste, Armee, Organisierte Kriminalität, tschetschenische Islamisten, Oligarchenfamilien, Rohstoffkonzerne bis zur Unkenntlichkeit miteinander verfilzt und verquickt. Und alle miteinander sind auf den Präsidenten ausgerichtet. Putin ist sozusagen der Korruptions-Hub des modernen Russland. Über seine Person läuft der Austausch, die Aushandlung der Interessen, die Disziplinierung der Abweichler. Er ist Richter, Henker und Schiedsrichter. Allerdings ein Schiedsrichter, der nach jedem Spiel, das er pfeift, die Siegerprämie selber einsteckt. Das wiederum qualifiziert Russland auf das Vortrefflichste zum Gastgeber der FIFA-WM.

Zu diesem Spiel gehört der Ex-Tschekist so selbstverständlich wie der zum Bauunternehmer emporgekommene Judo-Trainer oder der tschetschenische Teilfürst mit schwerkriminellem Hintergrund. Erst baut man Olympiastadien, dann marschiert man beim Nachbarn ein, dann baut man Brücken, um die Eroberung an sich zu binden. Dann baut man Fußballstadien. Demnächst ist vielleicht wieder mal ein kleiner Krieg dran: nach der WM? Alle sind auf unterschiedlichste Weise am Verbrechen beteiligt, und da alle zusammen hängen würden, wenn einer ausschert, schweigen alle eisern.

Und an den Tentakel-Enden der russischen Korruption grüßen deutsche Figuren, die respektabel tun: ehemalige Stasi-Offiziere im Dienste von Siemens, Benz und Nordstream. Ein seniler Altkanzler mit Kreml-Apanage. Und eine amtierende Kanzlerin, die das Business der letztgenannten in ihrer unnachahmlichen Mischung aus Starrsinn und Prinzipienlosigkeit für eine „rein privatwirtschaftliche Angelegenheit“ hält.

Der Unterschied zwischen dieser ehrenwerten Gesellschaft und der „ Korruption in der Ukraine“ ist: Erstens, das immense Ausmaß der Korruption. Zweitens, die immense kommunikative Energie, die in die Umdefinierung der Korruption zum segensreichen, Stabilität stiftenden Staatszweck gesteckt wird. Drittens, die totale Aushöhlung des Staates durch die Korruption, sodass der Staat die Mafia ist und die Mafia der Staat. Viertens und vor allem: Die hilflos-resignative Akzeptanz, die der staatgewordenen Korruption von seiten der russischen Bürger entgegengebracht wird. Der einfache Russe akzeptiert die Korruption, so wie er auch die Gravitation anerkennt. Schwerelosigkeit? Möglich. Im Kosmos. Eindämmung der Korruption? Auch möglich. Im Kosmos, aber nicht in Russland.

Wer Korruption für abstellbar, für bekämpfbar ansieht, wird von den meisten Russen für verrückt erklärt. Einige dieser Verrückten werden für ihre Verrücktheit daher auch gerne auf offener Straße verprügelt, mal von der Polizei, mal von irregulären Schlägertrupps, die sich in übergriffiger Berufung auf die russische Geschichte als „Kosaken“ bezeichnen, aber in Wirklichkeit den Rollkommandos des russischen Rackets entstammen. Invented traditions, hätte Hobsbawm gesagt.

Was ist dagegen die „Korruption in der Ukraine“? Wie so vieles in der postsowjetischen Ukraine, ein provinzieller und – in diesem Falle zum Glück für die Ukraine – missglückter und ineffizienter Abklatsch russischer Vorbilder. Ach, er hätte es so gern so geordnet wie Vova, unser Petryk. Doch in der Ukraine ist die Korruption multipolar, sie kennt keinen starken Mann, sie entspringt erkennbar dem Privatinteresse widerstreitender Gruppen, die keinen Herrn anerkennen wollen.

Der Präsident würde gern ein russisches System draus machen, aber man lässt ihn nicht. Weder sind die Bürger der Ukraine bereit, Korruption wie ein Naturgesetz hinzunehmen – weswegen die Russen sie für verrückt und verleitet halten – noch können die Korruptionäre in der Regierung so, wie sie gerne wollten. Es wird internationaler Druck auf Kiew ausgeübt. Ohne Maßnahmen – keine Kredite. Es ist bitter für die Ukraine, aber man kann es auch andersherum sehen: die Ukraine krankt nicht am Fluch des Rohstoffreichtums. Der ukrainische Präsident kann sich nicht durch Gasverkäufe retten. Doch das ist auch der Schlüssel zum Wandel in der Ukraine. Nun soll ein unabhängiges, am besten international besetztes Gericht für Korruptionsstraftaten zuständig werden. Die Dinge sind langsam in der Ukraine. Es gibt erbitterten Widerstand, der sich patriotisch geriert. Aber die Dinge sind in Bewegung.

Und genau deswegen ist die ukrainische Korruption in aller Munde. Weil man sie für beendbar hält. Über der russischen Korruption hingegen liegt die Omertà. Von ihr schweigt man, weil man weiß: diese Lage ändert sich schlimmstenfalls nie, und bestenfalls, nachdem Putin mit den Füßen nach vorn aus dem Kreml getragen wird: also so gut wie nie.

Doch wer sich in Deutschland auf diese Omertà einschwören lässt, um umso lauter die heutige „Korruption in der Ukraine“ zu geißeln, während ihm der historische Ausläufer der russischen Korruption in der Ukraine, das weiland System Janukovyč, herzlich egal war, der muss sich von Russen und Ukrainern, die es besser wissen, fragen lassen, ob er den Schuss nicht gehört hat.

25. Mai 2018 // Anna Veronika Wendland

Quelle: Facebook

Übersetzer:   Anna Veronika Wendland  — Wörter: 1150

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