Warum erhebt sich die Ukraine nicht?


Der einzig bemerkenswerte Effekt der breiten sozialen Bewegung „Ukraine, erhebe dich!“, welche von der Vereinigten Opposition initiiert und über mehrere Monate durchführte wurde, ist gewesen, dass die Menschen gezielt dazu gebracht wurden auf die Straße zu gehen. Im Übrigen fand diese kostenträchtige Bewegung keinen großen Widerhall im Lande.

Warum fand die Opposition, wo sich unser Stolz, Witalij Klytschko, der berühmte Boxweltmeister, aber auch andere bekannte Politiker beteiligten, keine Unterstützung im Volk?

Wie viele Angsthasen gibt es in der Ukraine?

Der Abgeordnete von der oppositionellen Fraktion Batkiwschtschyna (Vaterland) Wolodymyr Arjew meint, dass es in der Ukraine nur wenige Tausend tapferer und freier Menschen gibt, alle anderen verdienen die Staatsführung, die aktuell das Land regiert. Dies ist auf seiner Seite im Facebook zu lesen.

„Alles, was momentan in der Ukraine abgeht, kümmert nur wenige Tausend Bürger. Gegen das Abholzen des Bilytschier Waldes (Bilytschanskyj Lis), woran der Freundeskreis der „Familie“ interessiert ist, protestierten nur 50 Menschen. Ich möchte erst gar nicht mit dem Gezi-Park vergleichen. Und an dem Recht sich eine eigene Regierung in der Hauptstadt geben zu dürfen, zeigten lediglich 500 Personen ihr Interesse, von denen ein Teil keine Kiewer waren. Steht die Zollunion vor der Tür? Einige Tausend Protestierender vor dem Parlament ist unser Alles“, schreibt er.

Nach der Beobachtung von Arjew drücken viele Bürger Ihre Unzufriedenheit per Kommentaren aus, was dem Präsidenten Janukowytsch sehr gelegen kommt, da er auf diese Weise alle unter der Kontrolle hat.„Vielleicht verdient diese apathische und rückgratlose Masse eine solche Führung?“, fragt der Abgeordnete rhetorisch und fügt hinzu, dass es in der Ukraine nur wenige Tausend wirklich freier und tapferer Menschen gibt. „Doch Sklaven brauchen immer einen Herren, auch die aggressiven und kampflustigen unter ihnen“, merkte der Oppositionelle an.

Allerdings sollte man das Ganze nicht buchstäblich nehmen. Meiner Meinung nach hatte Herr Arjew, der mit seiner Bewertung nicht alleine da steht, einfach in dem Moment seine eigene Verzweiflung zum Ausdruck gebracht, was auch nachvollziehbar ist. Die Staatsführung unter Janukowytsch hat es innerhalb von drei Jahren geschafft, dass unser Land in der Welt nicht mehr als ein freies und unabhängiges Land wahrgenommen wird. IWF und potenzielle Investoren wenden sich von uns ab. Am Ende des kommenden Jahres ist ein technischer Zahlungsausfall nicht ausgeschlossen, da der Staat den Verpflichtungen aus dem Haushalt nicht mehr nachkommen könne, warnt der Wirtschaftsexperte Andrij Nowak. Die reale Arbeitslosigkeit liegt bei 10 Prozent, sagen andere Fachleute besorgt. Das Land ist von Konflikten geplagt, welche die Staatsführung selber künstlich in die Welt setzt. Die Menschen in den Regionen sind aufgewühlt/elektrisiert, aber für Widerstand gegen die Partei der Regionen reicht es dennoch nicht.

Die Opposition wird in letzter Zeit betriebsam. Sie initiierte die Protestbewegung „Ukraine, erhebe dich“, sie verteidigte tapfer das Rednerpult im Parlament, sie organisiert eine Protestkundgebung vor dem Gebäude der Regierung und hält viele weitere Aktionen ab. Aber das Volk schweigt. Das Volk will nicht auf die Straßen gehen. Das nimmt man diesen Angsthasen eben übel.

Warum schweigt das Volk?

Was geht in der Ukraine momentan ab? Warum brodelt es im Lande, aber kocht nicht über? Warum nimmt die Armut in einem reichen Land mit fleißigem Volk kein Ende? Woher kommt diese soziale Apathie, die zusammen mit der Korruption das junge Land zerfrisst ? Zurzeit macht das Land ein posttraumatisches Syndrom durch. Das Trauma hat es in den vergangenen zwei Jahrzehnten zweimal erleben müssen. Das erste Trauma fiel in die Zeiten nach dem Zerfall der UdSSR. Es ist irrelevant, wem der Zerfall eine Freude und wem dagegen einen Kummer bereitet hatte. Es ist ein Anfang eines absolut neuen Lebens für uns alle gewesen. Dabei sind die Entzugserscheinungen bei vielen Leuten ganz schlimm gewesen.

Das zweite Trauma stammt aus der Zeit unter Janukowytsch. Trotz aller Schwächen des früheren Präsidenten Juschtschenko schaute das Land zu der Zeit nach Europa hin. Das Gefühl, dass auch ihr Land bald zum Kreise wirklich demokratischer Staaten gehören wird, beflügelte viele Bürger. Diese Perspektive milderte alle Fehlhandlungen der Staatsführung unter Juschtschenko ab. Plötzlich wurde diese Perspektive gestoppt und hinterfragt. Das Volk ist fast komplett von der Staatsleitung abgedrängt worden. Die Basisprinzipien einer Volksdemokratie wurden verletzt: die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit des Justizsystems, das transparente Wahlsystem. Ein solches Leben ähnelt einer verrauchten stickigen Kneipe mit brutalen Kellnern und aggressiven Security- Leuten, wo man nichts ändern kann. Wie kann man da nicht apathisch werden?

Deswegen braucht man sich nicht zu wundern, dass die Reformen in der Ukraine feststecken. Es ist offensichtlich, dass die Reformen seitens der Bürokratie behindert werden. Allerdings spielt dabei auch das Desinteresse des Volkes eine große Rolle. Keine Staatsführung wird etwas stabiles und sicheres aufbauen können, wenn das Volk dies nicht will. Viele Fragen müssen auf einem gesellschaftlichen Konsens beruhen. Dieser ist nur durch eine klar definierte und abgestimmte Zusammenarbeit zwischen der Staatsführung und der Opposition zu erreichen. Ausschließlich durch eine Zusammenarbeit!

Eine der Besonderheiten der modernen Ukraine sind augenfällige fehlerhafte Handlungen der Staatsführung. Man bekommt von Politikern öfters zu hören, dass Wiktor Janukowytsch die Macht usurpiert hat, indem er die Verfassungsreform von 2004 mithilfe des hörigen Verfassungsgerichtes beseitigte und somit die Vollmachten erlangte, die sein Vorgänger Juschtschenko nicht hatte und dank derer er die wichtigsten Posten mit „richtigen“ Leuten besetzen konnte. Auf diese Weise entstand im Lande die sogenannte Familie, die eigene Bereicherungsziele hegt.

Die negativen Seiten der Staatsleitung unter Janukowytsch sind unverkennbar. Aber es sind auch positive Momente zu verzeichnen. Unter anderem gibt es in der Ukraine immer noch viele Medien, die nicht der Staatsleitung unterstehen. Prozentuell ist ihre Anzahl viel größer als dies in Russland der Fall ist. Die politische Konkurrenz im Lande ist auch nicht vollkommen unterdrückt, sonst würde die Opposition keine Möglichkeit haben auf die Straße zu gehen. Zwar laufen die Wahlen in der Ukraine nicht ganz reibungslos ab, aber dennoch sind es Wahlen im Unterschied zu Russland, wo der Kreml alles von vornherein entscheidet und die Wahlen nur der Ordnung halber durchgeführt werden.

Das jetzige Regime in der Ukraine wird oft als eine Diktatur bezeichnet. Die Batkiwschtschyna-Abgeordnete Olexandra Kushel äußerte vor kurzem die Meinung, dass dieses Regime noch schlimmer sei, als das Regime unter Stalin. Das ist zweifellos eine Übertreibung. In der Ukraine gibt es keinen Faschismus, was die Partei der Regionen behauptet. Aber die Ukraine kennt Gott sei Dank auch keine Massenrepressionen und Erschießungen wie im Stalinismus.

Das jetzige Regime ist tatsächlich von autoritären Zügen gekennzeichnet. Dabei bewegt sich Janukowytsch in vielen Angelegenheiten auf Messers Schneide, allerdings ohne dabei Unzufriedenheit seitens der Wählerschaft hervorzurufen.

Den Befragungen zufolge mögen viele Ukrainer ihren Präsidenten nicht. Sie verachten ihn unverhüllt oder hassen ihn sogar. Dabei sehen nur wenige von ihnen ernsthafte Gründe für eine Erhebung ähnlich wie im Jahre 2004. Das Volk ist groß, es versteht alles.

Eine Lektion für Witalij Klytschko

Den vermehrten Protestaktionen nach zu urteilen, erholen sich die Ukrainer allmählich von dem posttraumatischen Stress. Nachdem die jetzige Staatsführung ihnen dabei nicht helfen will, können sie eine Unterstützung nur vonseiten der Opposition erwarten. Besteht dabei die Hoffnung, dass die Opposition keine Fehler macht und den Ukrainer helfen kann, sich von der apathischen Stimmung zu befreien? Ansonsten sind keine „Umerziehung“ der Staatsführung bzw. keine Reformen in der Ukraine möglich. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Aber solange die Hoffnung noch besteht, sollte die Opposition ihr Handeln etwas überdenken.

Bestimmte Orientierungspunkte für diesen Prozess gaben die Lokalwahlen in einigen Regionen des Landes am 2 Juni 2013. Wie bekannt konnten die Kandidaten der Partei der Regionen in sechs Ortschaften einen Sieg erringen. Die Opposition antwortete darauf mit Fälschungsvorwürfen und beabsichtigt gerichtlich dagegen vorzugehen. Trotz des Rückgriffs der Partei der Regionen in der Wahlkampagne auf administrative Ressourcen lagen die tatsächlichen Gründe für ihren Erfolg woanders.

Die Stadt Wassylkiw in der Kiewer Oblast ist ein bezeichnendes Beispiel dafür. Obwohl für den Kandidaten von UDAR Serhij Sabow persönlich der Parteichef von UDAR Witalij Klytschko und der Fraktionsvorsitzende von Batkiwschtschyna Arsenji Jazenjuk agitierten, ging der Wahlsieg an den Kandidaten der Partei der Regionen Wolodymyr Sabadasch. Wieso hatten die überzeugenden Worte von Klytschko und Jazenjuk nichts bewirken können? Nach Meinung der Experten beeinflussen parteiführende Persönlichkeit die Wahlergebnisse der Lokalwahlen nicht. Für einen Wahlsieg benötigen die Parteien dagegen überzeugende Kandidaten und funktionierende Strukturen.

„Allen Parteien sollte nach dieser Wahlkampagne klar sein, dass die Persönlichkeit des Kandidaten selber eine viel größere Bedeutung für das Wahlergebnis bei Lokalwahlen hat, als die Popularitätsquote einer Partei bzw. des Parteiführers. Die Opposition sollte die Kandidaten aufstellen, die in ihrer Region Autorität besitzen, Wähler überzeugen und gegebene Versprechen umsetzen können. Die politische Angehörigkeit des Kandidaten ist bei Lokalwahlen zweitrangig. Des Weiteren sollte auch klar sein, dass die Meinung, dass unter dem Banner der Vereinigten Opposition sogar ein Affe gewinnen kann, sich nicht bestätigen konnte“, sagt der Direktor des Kiewer Zentrums für politische Forschungen und Konfliktologie Mychajlo Pohrebynskyj.

Politologen lenken die Aufmerksamkeit darauf, dass UDAR sich nach und nach zu einer Einpersonenpartei entwickelt. Hinter dem Namen Klytschko stehen blasse Kandidaten und in einigen Regionen wie zum Beispiel in Winnyzja sogar ehemalige Kriminelle. Viele Abgeordnete von UDAR sind Abgeordnete geworden bzw. wollen dies werden, indem sie sich zusammen mit Witalij Klytschko abbilden lassen. Allerdings kann diese Technologie nicht ewig funktionieren, meinen die Experten, weil die Wähler von den Kandidaten reales Handeln erwarten.

In diesem Punkt schwächelt es bei der Opposition. In Wortgefechte mit der Partei der Regionen verwickelt, vermochte sie es nicht einmal der Bevölkerung das Programm ihrer Ideen näher zu bringen. Was gedenkt die Opposition mit den korrupten Gerichten, der inhumenen Miliz, dem undurchsichtigen Zoll und anderen „uneuropäischen“ Regierungsstrukturen zu tun, wenn sie an die Macht kommt? Wie will sie die Wirtschaft ankurbeln? Wie wird sie mit Rinat Achmetow und seinesgleichen verfahren? Darüber weiß kaum jemand im Lande Bescheid. Und weiß es die Opposition überhaupt selbst?

Hinsichtlich der Informationsoberhoheit spielt die Regierung die sich die Opposition aus. Jegliches Handeln der Staatsführung wird schnellstmöglich seitens der Abgeordneten der Partei der Regionen und von Staatsangestellten breit publik gemacht. So wird ein gesellschaftliches Bild kreiert.

Die Sympathien der Massen gegenüber der Opposition werden durch die Beteiligung der Allukrainischen Vereinigung Swoboda (Freiheit) im oppositionellen Lager bemerkenswert beeinflusst. Vor kurzem wurde diese Partei seitens der Mitglieder des Europäischen Parlaments des Antisemitismus beschuldigt. „Ich habe Fotos mit dem Parteivorsitzenden von Swoboda gemeinsam mit Jazenjuk und Klytschko gesehen, welche die Geschlossenheit der Opposition zum Ausdruck bringen. Es fällt einem sehr schwer zu verstehen, wie Menschen wie Klytschko, die sich als Europäer bekennen und wie Jazenjuk mit einer offenen Denkweise die Hand einem Menschen reichen, der öffentlich davon spricht, dass Juden die Hauptgefahr für die europäische Zivilisation sind“, sagte der EU-Abgeordnete Marek Siwiec.

Das ist etwas überzogen. Aber die Frage über den Antisemitismus von Swoboda ist in der ukrainischen Gesellschaft noch nicht endgültig geklärt. Wenn man derartige Fragen ignoriert, kann man lediglich mit einem kleinen Wahlerfolg in drei oder vier Oblasten in der Westukraine rechnen. Allerdings reicht dies für den Erfolg einer gemeinsamen Sache nicht aus.

Der posttraumatische Zustand unserer Gesellschaft und die oben genannten Probleme machen sehr deutlich, dass ein neuer Majdan momentan nicht zu erwarten ist, und es nicht mit einer angeblichen Feigheit der ukrainischen Bürger zu tun hat.

18. Juni 2013// Olexander Koswinzew

Quelle: ZAXID.NET

Übersetzerin:   Ljudmyla Synelnyk  — Wörter: 1834

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