Was erwartet Kutschma: eine Strafe oder ein Freispruch?


Genau vor einem Monat, am 21. März, wurde das präzedenzlose Ermittlungsverfahren gegen Ex-Präsident Leonid Kutschma eingeleitet. In der Anordnung, unterschrieben vom Ersten Stellvertreter des Generalstaatsanwalts, Renat Kusmin, heißt es, dass Kutschma einen gesetzwidrigen Befehl an den Leiter des Innenministeriums, Jurij Krawtschenko, zu psychischen und physischen Maßnahmen gegen Georgij Gongadse aus Rache wegen dessen journalistischer Tätigkeit gegeben hat (später wurde Gongadse entführt und ermordet). Die Anschuldigung beruht auf den so genannten „Melnitschenko-Bändern“, wo eine Stimme, die der von Kutschma ähnelt, festgehalten wurde, die Krawtschenko eine entsprechende Anweisung gab. Die Generalstaatsanwaltschaft erklärt, dass die Bänder, nach den Daten einer Expertise, authentisch sind.

Die Sache gegen Kutschma wurde in einer rekordhaft kurzen Frist untersucht. Bei der Generalstaatsanwaltschaft schließt man nicht aus, dass die vorgerichtlichen Ermittlungen bereits heute oder morgen abgeschlossen werden. Eine gewisse Zeit ist für die Geschädigten und den Beschuldigten für die Akteneinsicht notwendig und danach kommt die Strafsache vor Gericht.

Was erwartet den Ex-Präsidenten dort? Die Meinungen von Juristen sind recht breit gestreut. Dabei werden inoffiziell als wahrscheinlichste Szenarien die Varianten drei (siehe unten; er wird schuldig gesprochen, doch aufgrund der Verjährung nicht zur Verantwortung gezogen) und fünf (man spricht ihn frei) angesehen. Dabei neigt die Mehrzahl der Juristen der letzten Variante zu und praktisch niemand glaubt, dass Kutschma eine reale Haftzeit gegeben wird (Variante vier). Obgleich alle betonen, dass bei politischer Notwendigkeit absolut jedes Urteil gefällt werden könnte und viel hängt von der Person des Richters ab, dessen Kandidatur gerade angeblich sorgfältig auf allerhöchster Ebene ausgewählt wird.

Anwälte: Die Verteidigung Kutschmas besteht darauf, dass der Ex-Präsident unschuldig ist. Berücksichtigend, dass alle Anschuldigungen auf den Melnitschenko-Bändern beruhen, wird eben gegen diese der Schlag ausgeführt. So gibt es, der Meinung von Kutschmas Anwalt, Wiktor Petrunenko, nach, in den Schlussfolgerungen der phonoskopischen Expertise keine Schlussfolgerungen zur Echtheit der bei Melnitschenko beschlagnahmten Aufzeichnungen. „Außerdem bestehen wir auf der Durchführung einer weiteren Expertise der Bänder, da wir meinen, dass sie geschnitten wurden und ohne neue Untersuchung der Sache können sie nicht zum Gericht gehen“, sagte der Anwalt.

Ein anderer bekannter Anwalt, der ehemalige Erste Stellvertreter des Generalstaatsanwaltes, Bogdan Ferenz, schließt im Gegenteil nicht aus, dass die Sache vor Gericht kommt und Kutschma wird in jeder Konstellation im Verlaufe des Gerichtsprozesses seine Unschuld beweisen. Das heißt: Er erwartet keine Schließung der Sache aus formalen Gründen (beispielsweise aufgrund von Verjährung).

Politik: Während der Verbreitung der Kutschma-Sache wurden verschiedene Versionen über deren Hintergrund ausgesprochen. Es wurde gesagt, dass alles getan wird, um den Ex-Präsidenten vor Gericht zu rehabilitieren. Es wurde gesagt, dass man auf diese Art auf seinen Schwiegersohn, den großen Geschäftsmann, Wiktor Pintschuk, Druck ausüben möchte. Doch die Mehrzahl der Politologen ist derzeit der dritten populären Version zugeneigt: die Strafsache wurde eingeleitet, um dem Westen zu zeigen, dass bei uns alle gleich vor dem Gesetz sind. Diese Version schließt überhaupt nicht aus, dass Kutschma, nach einem langen Prozess, frei gesprochen wird. In inoffiziellen Gesprächen vertreten einige recht einflussreiche Personen diese Meinung, doch bislang haben wir keine Beweise dafür, dass diese Position die dominierende ist. Es gibt auch eine andere Meinung: die Regierung beabsichtigt die Strafsache bis zum Schuldspruch führen, um der Welt zu zeigen: In der Ukraine gibt es keine Unantastbaren mehr, wie es sich für ein europäisches Land gehört.

Doch die Hauptsache ist gerade jetzt irgendwelche Handlungen zu durchzuführen, wo in der EU der Verdacht in Bezug auf Kiew wächst und innerhalb des Landes soziale Unruhe heranreift. Und so wird die Aufmerksamkeit aller auf diesen resonanzreichen Prozess gelenkt.

„Ich denke, dass die Kutschma-Sache als Gegengewicht zur Timoschenko-Sache eröffnet wurde, um dem Westen zu zeigen, dass bei uns die Judikative keine selektive ist. Erinnern Sie sich, es gab den Ausdruck ‘das verbrecherische Kutschma-Janukowitsch-Regime’. Der Westen nimmt sie bis heute zusammen wahr“, sagt Michail Pogrebinskij. Dagegen meint Wadim Karassjow, dass der Ex-Präsident für „die Überschreitung der Vollmachten“ verurteilt, doch nicht ins Gefängnis gesteckt wird. „Diese Strafsache gibt die Möglichkeit die Elite zu kontrollieren. Denn auf den Melnitschenko-Bändern sind viele altkutschmistische Funktionäre, die heute an der Macht sind“, sagt Wadim Karassjow. „Übrigens ist eine weitere Frage nicht verschwunden – das Schicksal Litwins: Wird er zur Sache herangezogen und wie wird sein politisches Schicksal weitergehen“, sagt Wladimir Fessenko. Das letzte Moment ist tatsächlich eine der Hauptintrigen der Sache. Denn eben jener Melnitschenko sagt direkt, dass eben Litwin der Hauptinitiator der Abrechnung mit Gongadse war. Der Parlamentssprecher hat bereits verkündet, dass er gegen Melnitschenko vor Gericht geht, nichtsdestotrotz hängt die Sache weiter über ihm wie ein Damoklesschwert …

Die Leute: Gemäß einer Umfrage des Rasumkow-Zentrums ist die Meinung des Volkes bezüglich der Kutschma-Sache geteilt. 29% sind froh darüber, dass gegen ihn ein Verfahren eingeleitet wurde, 15,7% sind damit unzufrieden und 34% sind gleichgültig. An die direkte Beteiligung des Ex-Präsidenten an der Ermordung Gongadses glauben 18,2%, 27,5% glauben an eine teilweise Beteiligung und 12,5% glauben überhaupt nicht daran. Unter den Versionen wozu die Sache gegen Kutschma eingeleitet wurde, herrscht die Version der Ablenkung der Aufmerksamkeit von anderen scharfen Problemen vor. Dies meinen 35,8%. Die überwiegende Mehrheit der Befragten vermutet, dass Kutschma am Ende nichts geschieht, 30,7% meinen, dass die Sache sich auf unbestimmte Zeit hinzieht, 28,6% meinen, dass Kutschma frei gesprochen wird und nur 13,5% meinen, dass der Ex-Präsident schuldig gesprochen wird. Von diesen glauben nur 2,4%, dass Kutschma eine reale Gefängnisstrafe erhält.

„Die Strafsache gegen Kutschma ist eine Schande für die Ukraine!“

„Ich meine, dass den Ex-Präsidenten niemand verurteilt“, sagt der Anwalt Wiktor Tschewgus, der sich drei Jahre lang mit der Gongadse-Sache beschäftigt hatte. ??„Und das Strafverfahren gegen den Ex-Präsidenten ist eine Schande für die Ukraine. Von Kutschma mag man halten, was man will. Ich habe über ihn keine eindeutige Meinung. Doch die Versuche ihn vor Gericht zu bringen, zu erniedrigen, zu beleidigen sind nicht nur eine Schmähung des Menschen, sondern auch der Symbole der Ukraine. Die Organisatoren dieser Hetzjagd benutzen ihn als Fußabtreter, dabei vergessend, dass niemand die Unschuldsvermutung abgeschafft hat. Kutschma erinnerte sich nicht und hat Gongadse nicht einmal gekannt und er hatte kein Motiv den Mord anzuordnen. Ich denke, dass Kutschma nichts zu fürchten hat. Er sagt selbst, dass sein Gewissen rein ist. Wenn er im ersten Unmut befohlen hat, sich der Sache anzunehmen, so muss man über diejenigen reden, die ihn verladen haben. Und der Präsident hat kein Verbrechensregister. Ob die Strafsache eine Perspektive vor Gericht hat? Eine Perspektive ist, wenn es ein Endergebnis gibt. Das heißt einen Schuldspruch, der wirksam wird mit einem realen Strafmaß. Und wenn die Sache vor Gericht geht und dort wegen Verjährung geschlossen wird, dann ist das keine Perspektive. Wie es bei Stanislawskij hieß: Ich glaube es nicht!

„Kutschma ist schuldig und muss sich verantworten“

„Ich habe überzeugende Beweise dafür, dass Kutschma als Präsident ein besonders gefährliches Verbrechen nicht nur gegen den Journalisten Gongadse verübt hat, sondern gegen die Bürger der Ukraine und das ganze Land“, sagt dessen ehemaliger Leibwächter, der Ex-Major der Verwaltung des Staatsschutzes, Nikolaj Melnitschenko. „Für diese Handlungen muss er sich vor dem Gesetz verantworten und ich hoffe, dass früher oder später die Gerechtigkeit triumphiert und die Sache mit einem Schuldspruch endet, der rechtskräftig wird. Und wenn die Strafsache jetzt nach einem Paragraphen eingeleitet wurde, dessen Verjährungsfrist überschritten wurde, so hindert nichts daran die Sache nach einem anderen Paragraphen umzuqualifizieren, dessen Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen ist… Wie sich auch manche wünschen mich einzuschüchtern, zum Schweigen zu zwingen – ich werde bis zum Schluss gehen, anders geht es nicht. Vor kurzem hat mir eine sehr einflussreiche Person geraten sobald wie möglich, bis zum nächsten Freitag, die Ukraine zu verlassen. Ich schließe nicht aus, dass man mich abtrennen und isolieren möchte. Doch ich werde nirgendwohin fahren und mich nicht verstecken. Im Unterschied zu einer organisierten Verbrecherbande, die gewissenlos das Land und die eigenen Landsleute ausgeraubt hat, muss ich nichts bereuen“.

Fünf mögliche Szenarien für Kutschma

1. Das Gericht gibt die Sache an die Voruntersuchung zurück.
Diese Variante ist möglich, wenn es aus irgendeinem Grund für die Machthaber und die Ermittler von Vorteil ist die Angelegenheit auf unbestimmte Zeit hinauszuzögern.

2. Das Gericht weigert sich die Angelegenheit zu prüfen und stellt das Verfahren aufgrund von Verjährung ein.
Der Paragraph nach dem Kutschma angeklagt wird, sieht eine Verjährungsfrist von zehn Jahren vor. Diese ist bereits abgelaufen. Daher könnte das Gericht sich aus formellen Gründen weigern die Angelegenheit zu prüfen und die Strafsache schließen. Jedoch wird diese aus so genannten „nichtrehabilitierenden Umständen“ geschlossen. Das heißt der Ex-Präsident erhält keine Beweise seiner Unschuld.

3. Das Gericht prüft die Strafsache, spricht Kutschma für schuldig, doch zieht es ihn nicht zur Verantwortung, da die Angelegenheit verjährt ist.
Das Gericht könnte die Sache bearbeiten, ungeachtet der Verjährung und sogar einen Schuldspruch fällen, ohne ihn zur Verantwortung zu ziehen. In diesem Falle würde Kutschma einfach einen großen moralischen Verlust erleiden.

4. Das Gericht qualifiziert die Sache nach einem anderen Paragraphen um, dessen Verjährungsfrist nicht abgelaufen ist und spricht Kutschma schuldig
Die schlechteste Variante für den Ex-Präsidenten. Denn er erleidet nicht nur einen moralischen Schaden, sondern er erhält auch eine Gefängnisstrafe. Eine reale oder auf Bewährung ausgesetzt – das ist eine andere Frage. Doch eine Strafe. Zur gleichen Zeit kann, dem Gesetz nach, der Paragraph nach dem die Strafsache umqualifiziert wird, nicht die Lage des Angeklagten verschlechtern. Das schützt Kutschma in gewissem Maße vor einer derartigen Entwicklung der Ereignisse.

5. Das Gericht spricht ihn frei
Kutschma könnte sich in diesem Fall als vollständig rehabilitiert vor dem Gesetz und der Geschichte betrachten. Tatsächlich, wenn er aus formalen Gründen freigesprochen wird (beispielsweise weil das Gericht entscheidet, dass die Melnitschenko-Bänder unmöglich als Beweis angesehen werden können, da sie auf gesetzwidrige Weise erhalten wurden), dann werden Skeptiker davon sprechen, dass seine Unschuld nicht in vollständiger Höhe bewiesen wurde. Doch in jedem Falle, wird es ein Gerichtsurteil sein, auf das sich der Ex-Präsident immer berufen kann.

Alexander Iltschenko, Anastasija Rafal

Quelle: Segodnja

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1652

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