Was tun?


“The worth of the state, in the long run, is the worth of the individuals composing it“

John Stuart Mill

In letzter Zeit, vor dem Hintergrund unendlicher gegenseitiger Beschimpfungen, Enthüllungen, Beschuldigungen und Vorwürfen zum Thema „Wer ist schuld?“, hört man vereinzelt Stimmen derer, die die Hoffnung, in einem zivilisierten Land zu leben, nicht aufgegeben haben und deshalb die heilige Frage stellen: Was tun?

Die Antwort kann auf zweifache Art und Weise gegeben werden: entweder kurz oder lang.

Die kurze Antwort lautet: man soll sich anständig verhalten und lernen, das Vernünftige und das Gute um sich herum zu säen.

Die ausführliche Antwort – nachfolgend.

Es ist kein Geheimnis mehr, dass sich das Schicksal der Menschen in den westlichen Ländern von dem Schicksal der Bevölkerung des ehemaligen Russischen (Sowjetischen) Imperiums genau im punkto der Beziehung zum Recht unterscheidet.

Das Recht ist das optimale und effektivste Instrument zur Lösung aller zwischenmenschlichen Konflikte inklusive auch die Konflikte zwischen Vertretern verschiedener Kulturen und Zivilisationen, Religionen, Rassen, Ethnien, Sprachgruppen, Regionen, Nationen und Staaten.

Im Grunde genommen dient das Recht der Gewährleistung der Selbsterhaltung und der zivilisierten Entwicklung jeder menschlichen Gemeinschaft. Das Recht ist in den Gesetzessammlungen dokumentiert, die den Namen der nationalen Verfassungen erhalten haben.

In ihr, der unter Qualen erschaffenen, durchdachten, von der Gerechtigkeit durchdrungenen und demokratisch vom Volk gebilligten Verfassung liegt der Schlüssel zu seinem künftigen Schicksal.

Es alles richtig, wird der Leser zustimmen, aber wo sollen wir anfangen?

Wir sind davon überzeugt, dass man mit der Verwirklichung des grundlegenden Postulats beginnen muss, der sich im Artikel 5 der Verfassung der Ukraine wieder findet. Sein Grundgedanke liegt in dem natürlichen Recht des Volkes darauf, seinen Staat zu gründen, eine für ihn passenden verfassungsmäßige Ordnung zu bestimmen, eine eigene Verfassung zu billigen und zu ändern.

Offensichtlich können die Ukrainer sich nicht mit dieser Mission rühmen.

Warum ist es so?

Das Volk gründet den Staat. Deshalb hat niemand das Recht, ohne besondere Befugnisse seitens des Gründers die Verfassung zu ändern

Zum ersten Mal in der Geschichte des verfassungsrechtlichen Denkens wurde dieses Postulat vom Abbe Emmanuel Joseph Sieyes (1748 – 1836), dem berühmten Denker und Haupttheoretiker der Französischen Revolution formuliert.

Er schrieb: “Die Verfassung ist das Ergebnis der Arbeit nicht der gegründeten, sondern der Gründungsmacht. Keine beauftragte Macht oder Behörde hat das Recht die Bedingungen der Delegation auf irgendwelche Art und Weise zu verändern“

Dementsprechend wurde die vom Parlament verabschiedete und vom Volk nicht gebilligte Verfassung bewusst des benötigten Maßes an Unterstützung beraubt.

Dies ist eine unmittelbare und unvermeidliche Folge der verächtlichen Behandlung des grundlegenden Postulats, welches bereits im Artikel 28 der französischen Verfassung vom 1793 erwähnt wurde: “Das Volk behält sich immer das Recht vor, seine Verfassung zu überarbeiten, umzuschreiben und zu ändern“

Der Hauptvorteil dessen, dass dieses Recht eingehalten wird, ist die Möglichkeit der Menschen zu einem handelnden aktiven Subjekt für den Bau ihres Vaterlandes zu werden. Nur auf diese Art und Weise erhält die verteilte, desillusionierte und orientierungslose Bevölkerung eine reelle Chance, den Aufstieg auf das Podest der vollwertigen politischen Nationen zu beginnen

Jeder Willensäußerung des Volkes geht dessen vorherige und umfassende Information über die möglichen Optionen der bevorstehenden Wahl voraus.

Sun Yat-sen (1866-1925), der chinesische Politiker, einer der wenigen in der Geschichte dieses alten Landes, der zum Titel „Vater der Nation“ für würdig befunden wurde, hat behauptet, dass “die Regierung das Volk lehren und ihm dabei helfen soll, das politische Wissen zu erlangen, das für das Geltendmachen seines Wahlrechts, für das Recht zur Amtsenthebung, für das Recht der gesetzgeberische Initiative und des Referendums notwendig ist“

Daher wird jedes Referendum nur dann legitim, wenn nur gut informierte, kompetente Menschen, die wissen, was sie wollen, daran teilnehmen

In diesem Zusammenhang ist es angebracht, ein Beispiel aus der Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten aufzuführen.

Um die Unterstützung des größten US-Bundesstaats zu erhalten, haben die drei prominenten amerikanischen Staatsmänner – James Madison (1751-1836), Alexander Hamilton (1755-1804) und John Jay (1745-1829) – in den Zeitungen von New York unter dem gemeinsamen Pseudonym “Publius” in der Zeit von Oktober 1787 bis Mai 1788 einen Zyklus aus 85 Artikeln veröffentlicht, der den wichtigen Bestimmungen des kommenden Grundgesetzes des gesamten föderalen Staates gewidmet waren

In diesen Artikeln haben die Autoren eine philosophische Rechtfertigung einer neuen Verfassung, ihrer grundlegenden Normen und Prinzipien aufgeführt. Dies ist ein klassisches Beispiel dafür, dass die Politiker die Meinung ihrer Bürger respektieren.

Auf dieser Weise wird eine Rechtskultur gebildet. Deren hohes Niveau ist die einzige Garantie für die zivilisierte Zukunft des Volkes. In ihre Schaffung muss beständig Seele, Kraft, Zeit und Geld eingebracht werden. Dann wird die Willensäußerung der ganzen Nation auf keinen Fall zur mechanischen Bewilligung einer heimlich ausgearbeiteten Variante der Verfassung werden.

Die Willensäußerung der Nation soll eine bewusste Wahl zwischen allen möglichen und jedenfalls alternativen Elementen der verfassungsmäßigen Ordnung beinhalten.

Das beinhaltet sowohl die Methode der Verabschiedung der Verfassung, als auch die Form der Regierung, als auch das staatliche System und Methode der Bildung der Regierungszweige sowie lokalen Regierungen, als auch die Hauptrichtung der Außenpolitik des Staates, die Staatsangehörigkeit und die Amtssprache.

Dementsprechend sollten unter den Fragen, die zum Volksentscheid gestellt werden, unserer Ansicht nach, folgende sein:

Soll jetzige Verfassung der Ukraine geändert werden?

Wer sollte die Verfassung verabschieden und ändern: das Volk, das Parlament oder ein durch das Volk gewählter Rat?

Was ist für das Land besser: eine einheitliche oder föderale Form der Regierung?

Was ist für das Land besser: eine präsidiale, eine (gemischte) semi-präsdiale oder eine parlamentarische Republik?

Was ist für das Land besser: Mehrheitswahlrecht, Verhältniswahlrecht oder ein gemischtes Wahlsystem?

Was braucht die Ukraine: eine Amtssprache – Ukrainisch, zwei – Ukrainisch und Russisch, oder alle Sprachen der Ethnien, die in der Ukraine leben?

Was ist für das Land besser: Einfache oder doppelte Staatsbürgerschaft?

Was ist für das Justizsystem des Landes besser: regelmäßige Wahlen der örtlichen Richter durch die Bürger für eine Amtszeit von fünf Jahren mit dem Amtsenthebungsrecht oder deren Ernennung durch den Staat für eine unbegrenzte Amtszeit?

Was ist für das Land besser: Gewährung des Rechts auf Schwurgerichtsverfahren in allen Kategorien von Fällen (Straf-, Zivil-, Wirtschafts-, Verwaltungsfällen) oder nur im Rahmen der Fälle, die vom Gesetzgeber bestimmt sind?

Was ist für das Land besser: regelmäßige Wahlen der Staatsanwälte und Polizeichefs in den Städten und Kreisen durch die Bürger für eine Amtszeit von fünf Jahren mit einem Amtsenthebungsrecht oder deren Ernennung durch den Staat?

Was ist für das Land besser: regelmäßige Wahlen der Leiter der lokalen Staatsverwaltungen durch die Bürger mit einem Amtsenthebungsrecht oder deren Ernennung durch den Staat?

Welche Richtung in der Außenpolitik ist vorteilhafter: Der Beitritt des Landes in einen Föderationsstaat – in die Europäische Union, die Gründung eines föderalen Staates zusammen mit Russland und Weißrussland, oder Erwerb des Status der dauernden Neutralität (wie z. B. in der Schweiz) als souveräner Staat?

Es besteht kein Zweifel daran, dass keine Generation das Recht dazu hat, für ihre Nachkommen das Schicksal vorzugeben. Daher sollte ein solches Referendum mindestens einmal alle 10 Jahre abgehalten werden.

Dieser Ansatz entspricht voll und ganz dem Inhalt des Gründungsrecht des Volkes. Derjenige, der seine Hand auf dieses Recht anhebt, riskiert früher oder später unter den Füßen der Menschenmenge zu sterben.

Wenn es den Menschen noch einmal verweigert wird, ihr Gründungsrecht auszuüben, dann wird man mit einer traurigen Prophezeiung des deutschen Schriftstellers Gabriel Laub (1928-1998) leben müssen. In dieser Prophezeiung geht es darum, dass “jegliche Macht wirklich vom Volk ausgeht, aber niemals zu ihm zurückkehrt…“

Abschließend möchten wir noch bemerken, dass eben wegen der aktuellen Ausweglosigkeit des heutigen Daseins wieder über eine Diktatur zu sprechen begonnen wurde.

Es bedarf jedoch nicht der Diktatur. Streng genommen war sie immer da gewesen. Es war die ewige Tyrannei der Habgier, der allgegenwärtigen Rohheit und der absoluten Machtlosigkeit – eine giftige Mischung, die das Leben vieler Generationen vergiftet hat.

Der Ukraine fehlt es an Rechtskultur, der Kultur der Achtung vor der Würde, vor der Freiheit und den Rechten des Menschen. Ob diese Kultur sich jemals auf dieser Erde behaupten wird, hängt ausschließlich von uns ab.

Montag, den 14.12.2009 // Michael Baimuratow, Oleg Dolshenkow, Juri Melnik, Alexander Mutschnik, Alex Orlowskij, Georgij Tsyrfa

Quelle: Ukrajinska Prawda

Übersetzerin:   Ilona Stoyenko  — Wörter: 1341

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