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Die „Tuschki“ und der Niedergang der ukrainischen repräsentativen Demokratie

In den vergangenen Wochen ist der Begriff „Tuschki“ (frischgerupfte oder -gehäutete Körper kleiner Tiere) in der Ukraine populär geworden. So bezeichnet man neuerdings einige ehemalige Mitglieder der Fraktionen von NUNS („Unsere Ukraine – Nationale Selbstverteidigung“) und BJuT (Block von Julia Timoschenko).

Obwohl über die Listen dieser beiden politischen Blöcke in die Werchowna Rada gewählt, haben die „Tuschki“ ihre Fraktionen verlassen und sich stattdessen der PR (Partei der Regionen), den Kommunisten sowie dem Litwin-Block angeschlossen. Die genannten Fraktionen wären ohne die Unterstützung der „Tuschki“ nicht in der Lage gewesen, eine eigene Regierung zu bilden. Nur dank der Stimmen von Parlamentsmitgliedern, die ihre einstigen politischen Weggefährten verraten hatten, wurde dies möglich.

Unter anderen Umständen wären diese Abgeordneten politisch tot gewesen. Aber die neue Koalition hat den „Tuschki“ das politische Leben verlängert, als Gegenleistung für das Zustandekommen der Regierung Nikolaj Asarows.

Das Problem der Überläufer wird heute im ukrainischen Fernsehen aktiv, ja aggressiv debattiert. Vor allem diskutieren Politiker und Experten die Verfassungsmäßigkeit der Beteiligung der „Tuschki“ am Regierungswechsel. Es geht hier um den Paragraphen 83 der ukrainischen Konstitution und die spätere Präzisierung des Inhaltes dieses Artikels durch das Verfassungsgericht. Beide Dokumente – der Verfassungsartikel und das Gerichtsurteil – besagen, dass nur ein Zusammenschluss von Fraktionen als solchen eine Regierung legalisieren kann.

Wenn dem so ist, dann ist die neue Regierung verfassungswidrig. Und die Wahl der Regierung Asarow in der Abstimmung vom 11. März könnte man einen Staatsstreich nennen, die Handlungen der neuen Regierung wären illegal. Nach den Worten eines Politologen, der die Kabinettswahl am 11. März kommentierte, sollte man die Mitglieder der neuen Regierung, in der es keine einzige Frau gibt, mit „Herr“ und nicht mit „Minister“ ansprechen.

Neben der juristischen werfen die „Tuschki“ noch ein andere Frage auf: Kann man die jetzige Regierung der Ukraine als demokratisch bezeichnen? Hier geht es weniger um die Legalität, als die Legitimität der neuen Regierung.

Vom Standpunkt der Anzahl der Koalitionsmitglieder scheint sie legitim. Bei einer minimal nötigen Zahl von 226 „Ja“-Stimmen unterschrieben 235 Abgeordnete die Koalitionsvereinbarung. Bei der Parlamentsabstimmung über die von Wiktor Janukowytsch vorgeschlagene neue Regierung erhielt Premierminister Asarow 242 Stimmen und sein Kabinett 240. Alles in Butter? Nicht ganz. Der Grund – das ukrainische Wahlsystem.

Zum Ersten ist das politische System der Ukraine – wie das vieler anderer Staaten auch – ein repräsentativ- und nicht „rein“ demokratisches. „Demokratie“ bedeutet eigentlich Macht des Volkes. In Wirklichkeit bestätigt in den real existierenden Demokratien aber nicht das Volk Gesetze und Regierungen. Diese Aufgabe erfüllen Repräsentanten des Volkes – die Parlamentsmitglieder. Die Abgeordneten werden gewählt, um den Willen des Volkes oder, genauer gesagt, den Willen jener Wähler, die sie ins Parlament entsandt haben, zu verwirklichen.

Zum Zweiten wird in der Ukraine nach dem Verhältniswahlrecht mittels geschlossener Listen gewählt. Das ist natürlich kein optimales System. Allerdings kann kein Wahlsystem der Welt in puncto perfekte Konvertierung von Wählerpräferenzen in entsprechende Parlamentsvertretung als „ideal“ bezeichnet werden.

Zum Dritten wählen daher die ukrainischen Wähler – in Übereinstimmung mit diesem Wahlsystem – nicht einzelne Abgeordnete ins Parlament. Kein einziger Parlamentarier kann als vollwertiger, sich selbst genügender Vertreter des Volkswillens bezeichnet werden. Denn die Wähler haben nicht für ihn gestimmt, sondern für die Partei oder den Block, in deren Bestand er ins Parlament delegiert wurde.

Das bedeutet nicht, dass Mitglieder einer Fraktion immer gleich handeln und abstimmen müssen. Nichtsdestoweniger sieht das Verhältniswahlsystem im Lichte demokratischer Theorie als auch Praxis vor, dass die Parlamentarier für den Zeitraum der Legislaturperiode in ihren Fraktionen verbleiben. Andernfalls haben Wahlen nach dem Proportionalprinzip keinen Sinn. Die anfänglichen Proportionen der gewählten Volksvertretung müssen für den gesamten Zeitraum der Arbeit der Deputierten erhalten bleiben.

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Viertens folgt daraus, dass es den Abgeordneten, die mittels Liste einer Partei oder eines Blocks gewählt wurden, zwar erlaubt bleibt, ihre eigene Meinung zum Ausdruck zu bringen. Aber sie können ihre Fraktion in der Zeit zwischen den Wahlen nicht verlassen und hierbei Mitglieder des Parlaments bleiben.

Das ist keine Beschränkung ihrer Rechte. Politiker haben das Recht, so zu reden und zu handeln, wie sie es für nötig halten. Aber solange sie Abgeordnete sind, ist es ihre Pflicht, vor allem jene Aufgaben zu erfüllen, die das vom Wähler verliehene Mandat vorsieht. Zuallererst betrifft dies die Erhaltung einer adäquaten Repräsentation des Volkswillens in der Werchowna Rada. Die nach dem Verhältniswahlsystem bestimmten Abgeordneten haben kein direktes Mandat. Sie sind nicht persönlich ins gesetzgebende Organ gewählt worden.

In einem System proportionaler Vertretung ist die Hauptaufgabe des Abgeordneten bezüglich seiner Parlamentsarbeit vorherbestimmt. Er hat sein Mandat mithilfe einer Partei oder eines Blocks gewonnen, für den die Wahlberechtigten gestimmt haben. Im Moment, in dem er seine Partei oder seinen Block verlässt, verliert demnach dieses Mandat seine Gültigkeit. Damit verliert er den Grund für seinen Verbleib im Parlament.

Und er hat natürlich kein Recht, gerade solche Fraktionen zu unterstützen, welche in Opposition zu dem Block oder der Partei stehen, die ihn ins Parlament gebracht hat. Derartige Handlungen stellen eine skandalöse Missachtung des Wählerwillens dar.

Die Ukraine ist im Ergebnis heute weniger demokratisch als noch bis zum 11. März dieses Jahres – dem Tag, an dem die „Tuschki“ die Partei der Regionen in die Regierung gehievt haben. Da eine kritische Zahl von Abgeordneten jene Verpflichtungen, welche ihnen seinerzeit vom Wähler übertragen wurden, nicht mehr erfüllt, haben die Parlamentswahlen des Jahres 2007 zu einem erheblichen Maß an Sinn verloren. Wenn Wahlen keinen Einfluss auf die Machtverteilung mehr haben, ist der betreffende Staat keine Demokratie im europäischen Sinne mehr.

Wenn eine Koalition, welche eine bestimmte Regierung an die Macht bringt, nicht dem Wählerwillen entspricht – warum führt man dann überhaupt Wahlen durch? Die Logik der repräsentativen Demokratie geht verloren. Um an die Macht zu kommen, hat sich die Partei der Regionen der Stimmen von Abgeordneten bedient, die vom Volk eigentlich ins Parlament delegiert wurden, um eben diese Partei nicht an die Macht kommen zu lassen.

Außerdem haben Janukowytsch und Co. noch einen weiteren Bonus erhalten – ihre Zusammenarbeit mit den „Tuschki“ untergräbt die Wählerbasis der „Orangen“. Die Wähler von NUNS und BJuT werden sich nun fragen: Warum haben wir für einen Block gestimmt, dessen Mitglieder Überläufer sind? Warum für die „Orangen“ stimmen, wenn sie danach für die „Blauweißen“ arbeiten? Warum dann überhaupt wählen gehen?

Es bleibt zu hoffen, dass das Verfassungsgericht diesen Fehler berichtigt, bevor die Ukraine in den Ratings von Organisationen wie „Freedom House“ absinkt. Im schlimmsten Falle könnte das Europäische Parlament seine kürzliche Äußerung über die Perspektive einer künftigen ukrainischen EU-Mitgliedschaft wieder zurückziehen. Wenn das politische System der Ukraine nicht einmal den elementarsten Kopenhagener Kriterien für einen EU-Beitritt entspricht, hat es wenig Sinn, sie zu den Ländern mit einer europäischen Zukunft zu zählen.

Der Artikel erschien zuerst in der Ukrajinska Prawda und bei der Übersetzung ins Deutsche half Stefan Mahnke.

Autor:    — Wörter: 1101

Dr. Andreas Umland (1967) ist seit 2010 Dozent am Fachbereich Politikwissenschaft der Kyjiwer Mohyla-Akademie (NaUKMA) und seit 2021 Analyst am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) des Schwedischen Instituts für Internationale Beziehungen (UI).

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