Wer ist dieses „wir“? - Eine Anatomie eingebildeter Gemeinschaften
Dieser Tage versuchte Wassyl Rassewytsch zu verstehen, wer denn nun diese Ukrainer sind und er durchkreuzte die ganze Tiefe einiger sehr komplizierter Probleme. Die endgültigen Resultate seiner Untersuchung nicht abwartend, stellen wir die Frage noch breiter: Wer ist dieses „wir“ und wie ist die Anatomie eingebildeter Gemeinschaften?
„Ich schlage folgende Definition der Nation vor: Sie ist eine imaginierte Gesellschaft – das heißt imaginiert hinsichtlich ethnischer Homogenität und Souveränität. Sie ist deswegen imaginiert, weil selbst die Vertreter der kleinsten Nationen den Großteil ihrer Landsleute niemals kennen werden, weil sie sie nie treffen werden und nicht einmal irgendetwas über sie erfahren werden und jeder in seiner Vorstellung ein anderes Bild ihrer Gemeinsamkeiten hat“, schrieb der verstorbene Benedikt Anderson.
Nach Anderson betrifft das eigentlich nicht nur die Nation: „Jegliche Gemeinschaft, die größer ist als eine Bevölkerung, deren Mitglieder unmittelbar untereinander in Kontakt treten, ist imaginiert (und möglicherweise sogar diese). Genauso imaginiert ist die Arbeiterklasse, die weltweite Frauenbewegung, die Transgender-Gemeinschaft, der Kiewer Fahrradclub oder die Fanszene von Karpaty L`viv. Imagination, das ist verständlich, ist kein Ausweis von Falschheit, aber eine Art, auf die sich diese oder andere Gemeinschaft erschaffen lässt und dank der sie bestehen bleibt.
Wie Herr Rassewytsch überzeugend bekundet hat, sind die objektiven Anzeichen der Zugehörigkeit zu einer Nation schwankend. Es reicht, das Auge auf die Ereignisse der letzten paar Jahre zu richten, um sich davon zu überzeugen. Wir haben genügend ethische Ukrainer gesehen, die sich aufführten, als seien sie Karikaturen der Moskali/Moskowiter. Und wir haben genügend Juden gesehen, die wie Wunder des ukrainischen Patriotismus erschienen. Darüber, wie viele Freiwillige der ATO russisch – also die „Sprache des Besatzers“ sprechen, wollen wir gar nicht reden.
Das gleiche betrifft auch alle anderen Gemeinschaften. Der Fabrikantensohn Friedrich Engels wurde zum Apostel der proletarischen Revolution und die verarmten Massen in der heutigen Ukraine deklarieren sich selbst als Teil der Mittelschicht, womit sie die objektive Wirklichkeit auf den Arm nehmen. Gehört etwa ein Mann zur LGBT-Gemeinschaft, der seine homosexuellen Gefühle für eine krankhafte Deformation seiner heterosexuellen Existenz hält? Reicht es aus, zwei Fußballspiele gesehen zu haben, um sich als Fan eines Klubs bezeichnen zu können? Und wenn nicht zwei Spiele, wie viele dann?
Kurz gesagt, in Fragen der Identität zerbrechen sich nicht nur ein Dutzend Teufel ihre Beine. Daher ist das einzige verlässliche Indiz, das zur Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft führt, das Gefühl, sich für den Teil einer Gemeinschaft zu halten. Genau dieses Gefühl ist die wesentliche Voraussetzung für die Existenz imaginierter Gemeinschaften. Hier erinnert man sich der treffenden Bemerkung von Steton-Watson, welcher in seinem Buch Anderson wie folgt auslegt: „Ich kann nur sagen, das eine Nation existiert, wenn eine bedeutende Anzahl von Menschen einer Gemeinschaft glaubt, dass sie eine Nation formt oder sich so verhält, als ob sie sie bereits geformt habe. Und das, wir erinnern uns, betrifft jede Art von imaginierter Gesellschaft.
Also, wenn die Grundlage großer Gemeinschaften in ihrer Einbildung liegt, dann ist sie auf Information gegründet. Es ist das gleiche Sujet wie Jewshan-Sillja (Poem von Mykola Woronyj, A.d.R.), nur das an Stelle eines Büschels Gras ein Korpus sakraler Texte und Kunstwerke tritt. Ebenso eine große Rolle spielen Gruppenpraktiken und so weiter, aber die entscheidende Rolle bleibt doch die Information. Die gesamte Information über eine Gemeinschaft ergründend, stellen wir sie uns vor – und uns selbst in ihr. Imaginierte Gesellschaften sind daher immer ein zweiseitiger Prozess. Auf der einen Seite konstruieren sich die Mitglieder ihre Gesellschaft fortwährend für sich selbst. Auf der anderen Seite konstruiert ein gemeinsames Bild ihrer Mitglieder ihre Gestalt nach außen hin.
Und hier erscheint die unscharfe, sich verändernde Natur von Gemeinschaften. Nehmen wir die Roma als Beispiel. Es ist klar, dass auch diese Gemeinschaft zu den imaginierten zählt. Freilich ist sie nicht besonders aktiv, Informationen über sich nach außen zu tragen und ihre Wahrnehmung durch andere zu beeinflussen. Daher ist in der ukrainischen Gesellschaft das Bild des umherstreunenden Roma sehr verbreitet, der lediglich bettelt, stiehlt und Drogen verkauft. Wie sich die Roma selbst wahrnehmen, davon hat ein Großteil der Ukrainer keine Vorstellung.
Ein kontrastierendes Beispiel – die Krimtataren, die Informationen über ihre Gemeinschaft aktiv verbreiten. Neben der sympathischen Jamala haben sie eine ganze Reihe anderer Autoritäten und Repräsentanten, die bei den Ukrainern ein positives Bild über die Tataren erzeugen. Allerdings kennt die Geschichte eine ganze Reihe von Beispielen, wo die Information über diese Gemeinschaft oder andere Gemeinschaften sich ins völlige Gegenteil verkehrte – erinnern wir nur an die tragische Geschichte eben der Krimtataren.
Das Bild, das sie nach außen abgibt, ist für die Existenz einer Gemeinschaft nicht weniger wichtig als das, als was sie ihren Mitgliedern erscheint. Ihr Bild formt sich aus durch ihre Mitglieder. Wie viele Ukrainer haben sich zu Russen „umschreiben“ lassen, um in den Augen der städtischen Snobs keine Dörfler oder Kolchosentrottel zu sein? Wie viele Juden versuchten in der Geschichte, sich vollständig in eine antisemitische Umgebung zu assimilieren? Nicht zuletzt, wie viele Menschen, die von Herkunft Roma sind, bevorzugen, nicht mit ihren wandernden Landsleuten verglichen zu werden? Und alles das, wir wiederholen es noch einmal, betrifft nicht nur die Nation.
Auf diese Weise hängt die Zugehörigkeit zu einer geschlossenen Gemeinschaft stark (und in entscheidendem Maß) von Informationsprozessen sowohl in ihrem Inneren als auch nach außen hin, ab. In diesem Sinne ist die imaginierte Gemeinschaft ein konstruierter Begriff in der Art, dass bestimmte Informationsprozesse die Hoheit erlangen. Dadurch sind Gemeinschaften wandelbar und unbeständig, ihr Bild ändert sich im Laufe der Epochen und Bedingungen – sowohl für Menschen außerhalb dieser Gemeinschaften als auch für deren Mitglieder selbst. Dabei kann die Evolution der Einbildungen über sich selbst auf der gleichen, windigen Flugbahn erfolgen, welche von Zeit zu Zeit manche Gesellschaften zur Entdeckung ihrer selbst führt.
Das einzige, auf das man sich mehr oder weniger verlassen kann, ist, dass das Schicksal der Mitglieder einer Gesellschaft von ihr abhängt – besonders, wenn wir über ganze Gesellschaften oder große soziale Gruppen sprechen. Genau aus diesem Schicksal, wie aus einem Rahmen, biegen politische Führer verschiedene Ideen, wobei sie die Gemeinschaften jeweils auf ihre aktuellen Bedürfnisse ausrichten. Daher ist die kollektive Identität immer eine Art Überraschung, die man manchmal sogar sich selbst nur sehr schwierig erklären kann.
1. September 2016 // Maksym Wichrow
Quelle: Zaxid.net