Wie Roma in Kiew und Transkarpatien leben
Um zu erfahren, wovon und wie die Roma in Kiew leben, begaben wir uns in ihr Lager auf. Später sind wir mehr als einmal dorthin zurückgekehrt. Um mit Menschen zu sprechen, die längst Freunde geworden sind, mit den Kindern zu spielen, die notwendigsten Dinge mitzubringen. Und anschließend sind wir nach Transkarpatien gefahren, um uns anzusehen, wie die Roma dort leben. Wir wurden wie gern gesehene Gäste empfangen und angehalten, erneut zu Besuch zu kommen.
Das Romalager befindet sich auf einem verlassenen sowjetischen Schrottplatz. Seine Bewohner verdingen sich mit dem, was sie an Metall ausgraben und abliefern. Ein Kilogramm Metall kostet 1 UAH und 30 Kopeken, ein Kilogramm Kupfer 37 UAH (ca. 3,36 Euro). Pro Tag können bis zu 100 Kilogramm ausgegraben werden. Einmal die Woche kommt ein Auto und holt das Altmetall ab. Wir kamen genau zu diesem „Abnahmetag“ an: Die Roma bringen alles zum Eingang des Lagers, was sie innerhalb einer Woche zutage fördern konnten: alte Kabel, Eisenteile.
Das Metall wird direkt neben den sogenannten Wohnzelten ausgegraben, die aus Holz und anderen Behelfsmitteln bestehen und mit einer Folie bedeckt sind. In ein solches „Haus“ von zwei mal vier Metern Größe passt lediglich ein Bett, alles Andere wird auf dem Boden aufbewahrt. Es gibt hier weder Wasser noch Elektrizität. Einige Kilometer vom Lager entfernt befindet sich eine Zementfabrik. Dort dürfen sich die Roma mit Wasser versorgen und waschen.
Obgleich alle im Lager lebenden Roma aus Transkarpatien sind, bezeichnen sich einige als Ukrainer, andere als Ungarn und wieder andere als Zigeuner. Ebenso differieren auch die Sprachen, die gesprochen werden. Viele Kinder können weder Ukrainisch, noch Russisch, da die Erwachsenen in aller Regel nicht in diesen Sprachen kommunizieren.
Früher gab es viele Kinder im Lager. Wir sind einige Male speziell ins Lager gefahren, um für diese eine Art „Festtag“ zu veranstalten: um mit ihnen zu spielen, ihnen Süßigkeiten mitzubringen, zu tanzen. Aber jetzt sind nur wenige Kinder übrig geblieben, fast alle sind nach Hause, nach Transkarpatien zurückgekehrt, da das Schuljahr begonnen hat.
Joseph, ein junger, 26-jähriger Mann, ist nicht zum ersten Mal nach Kiew gekommen, um sich etwas dazuzuverdienen.
„Im letzten Jahr habe ich als Bauarbeiter hier gearbeitet. Ich habe in Kiew Freunde, die mich anrufen, wenn es Arbeit gibt.”
Er stammt, wie viele andere Roma im Lager auch, aus dem Dorf Russkie Komarowzy, das nicht weit von Uschhorod entfernt ist. Joseph sagt, dass die Arbeit in Kiew ihm erlaubt habe, das Haus seiner neuen Frau zu renovieren.
„Als ich sie geheiratet hatte, stand das Haus ihrer Familie leer und verwahrloste. Im letzten Jahr bin ich zur Arbeit nach Kiew gekommen, und anschließend habe ich das Haus renoviert. Wenngleich es auch solche Tage gibt, an denen wir fast nichts finden. Das ist immer unterschiedlich.”
Lena – die Frau Josephs – kommt hinzu. Sie war mit anderen Frauen aus dem Lager in einen nahe gelegenen Laden gegangen, um etwas Essen zu kaufen. Lena ist im 6. Monat schwanger, aber die Kiewer Ärzte wollen sie nicht behandeln und keine Sonographie durchführen – wegen der fehlenden Niederlassungserlaubnis in der Hauptstadt.
Etwa 15 Meter entfernt spielt ein Mann Gitarre, um ihn herum haben sich Zuhörer gesammelt. Hier werden vor allem religiöse Lieder gesungen. Der Mann mit der Gitarre ist Boris. Er ist auch aus Russkie Komarowzy. Er war gekommen, um für seine Familie etwas Geld zu verdienen. Er sagt, er werde schon bald wieder zurückkehren, er lädt uns ein, ihn in Transkarpatien zu besuchen.
„Wir haben dort unsere eigene Kirche, kommen Sie uns besuchen.” Boris schließen sich auch andere Roma an:
„Ja, kommen Sie uns besuchen!”
Wir beschlossen, die Einladung anzunehmen. Bereits nach einigen Wochen steigen wir im Dorf Serednje zwischen Mukatschewe und Uschhorod aus der Marschrutka. Uns eilt Eduard entgegen – ein dunkelhaariger, brünetter Mann. Er lächelt freundlich und schüttelt uns die Hände.
Eduard ist der hiesige Pastor der Baptistenkirche. Wir hatten ihn nicht darüber in Kenntnis gesetzt, dass wir kommen würden, kannten ihn noch nicht. Eduards Telefonnummer hatte uns sein Schwiegervater, den wir im Kiewer Lager getroffen hatten, gegeben. Eduard ist ebenfalls Roma. Wir hatten ihn erst eine halbe Stunde vor unserer Ankunft angerufen und ihn gebeten, uns in das Lager in Russkie Komarowzy zu fahren.
„Was möchten Sie sehen?”, fragt uns Eduard.
Wir antworten, dass wir die Roma kannten, die wegen Arbeit nach Kiew gekommen waren, und dass wir sie jetzt besuchen wollten.
Russkie Komarowzy ist ein großes Dorf. Wir müssen zur Partisanen-Straße. Das ist die letzte Straße des Dorfes, nach dieser endet das Dorf. Wir steigen aus dem Auto. Auf dem Asphalt spielen einige Jungs Fußball.
„Das ist ihre Lieblingsbeschäftigung. Unsere Jugendmannschaft ist in Transkarpatien auf dem ersten Platz”, sagt Eduard.
Wir betreten einen Hof. Kinder unterschiedlichen Alters laufen aus dem Haus heraus. Und auch die Erwachsenen kommen heraus. Die Frauen tragen die Jüngsten auf ihren Armen.
„Shenja”, stellt sich ein Mann um die Fünfzig vor. Er hat fünf Kinder und 15 Enkelkinder. Sie wohnen alle zusammen.
Hinterm Haus ist ein unfertiges Gebäude zu sehen. Eduard erklärt, dass dies ein Gebetshaus sei.
„Wir können es bereits jetzt nutzen. Früher mussten wir in Shenjas Haus unsere Versammlungen anhalten. Es passen nicht alle in Shenjas Haus. Es kommt vor, dass 50 Menschen zum Gottesdienst kommen. Im Winter natürlich mehr, da viele im Sommer wegen der Arbeit weg sind.”
„Hier gibt es überhaupt keine Arbeit”, ergreift Shenja das Wort, „daher fahren viele von uns auch nach Kiew.”
„Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?”, übersetzt Shenja seine Frau Lisa in die russische Sprache. Untereinander sprechen die Komarowzy-Roma „ungarisch”. Ukrainisch und Russisch verstehen nicht alle. Im Dorf gibt es zwei Schulen: eine mit ungarischer Unterrichtssprache, die andere mit ukrainischer.
„Zigeuner möchte niemand unterrichten, wir wollen eine eigene Schule bei der Kirche bauen. Wir werden die Lehrerin bitten, unsere Kindern zu unterrichten. Wir wollen das nachmittags machen, um die Dorfschule nicht zu stören, damit sie nicht sagen können, dass wir unsere Kinder nicht in die Schule lassen. Und was haben sie davon, wenn sie dorthin gehen? Ihr Wissen ist gleich Null.”
„Warum?”, fragen wir.
„Ich kann von meinen Erfahrungen erzählen. Ich sitze an der hintersten Schulbank, ich werde nie irgendetwas gefragt. Ich saß die Unterrichtsstunde ab und dann bin ich abgehauen. Aber wenn wir die Lehrerin darum bitten, wird sie unterrichten.”
„Wir wollen nicht, dass unsere Kinder Analphabeten bleiben. Es ist schwer, wenn man nicht lesen und schreiben kann. Ich bin bereits 42 Jahre, ich zwinge mich selbst zu lernen. Das ist schwer, das Gedächtnis ist nicht mehr dasselbe”, fährt Shenja fort.
Lisa bringt dampfenden und sehr leckeren Kaffee.
„Komarowzy-Kaffee”, lächelt Shenja, „sehr stark. Mir genügt einer für zwei Tage.”
In Komarowzy gibt es etwa 200 Roma-Häuser. In einem Haus leben in aller Regel zwei-drei Generationen. Wir machen uns zu Boris, den wir einige Wochen vorher in Kiew getroffen hatten, auf. Er ist vor Kurzem nach Hause zurückgekehrt.
Boris lebt zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern. Der älteste, Tommi, ist achtzehn Jahre alt und hat bereits ein eigenes Kind, eine zweimonatige Tochter. Sie ist in Kiew zur Welt gekommen. Direkt nach der Geburt der Tochter ist Tommi nach Hause zurückgekehrt. So, sagen sie, sei es ruhiger.
Wir fallen von der Schwelle direkt in die Küche. Im Inneren ist ein kleiner Tisch zu sehen, in einer Ecke eine Gasflasche. Der Boden wird von Linoleumstücken bedeckt. Links befindet sich ein Raum mit einem Sofa, das beinahe den gesamten Raum füllt. Auf diesem wurden gleichmäßig Kuscheltiere aufgestellt, an der Wand hängen einige Fotos. Der zweite Raum ist lediglich durch einen Vorhang abgetrennt, der an einem kleinen Bogen aufgehängt wurde. So wird der Wohnraum zwischen der älteren und jüngeren Generation getrennt.
„Und im Winter, frieren Sie nicht?”, fragen wir interessiert den Hausherrn.
„Wir haben einen Kanonenofen. Der wärmt auch uns.”
Wir kehren ins Dorf Serednje zurück. Hier befindet sich ein weiteres Lager. Um zu diesem zu gelangen, muss man das gesamte Dorf durchqueren und dann noch etwa fünf Kilometer durch den Wald fahren. Dann ein Schild „Seredneje. Mikrorayon Iwanowka”. Genau hier leben auch die Roma.
Die Mikrorayon zählt etwa tausend Einwohner und drei Kirchen. Eduard ist der Pastor in einer der drei.
„Und wie sind Sie Pastor geworden?”
„Nachdem ich in Kiew gedient hatte, bin ich hierher, nach Hause zurückgekehrt. Ich schnappte mir ein paar Freunde und wir machten uns erneut nach Kiew auf. Wir hielten uns neben dem Bahnhof auf. Wir haben Dinge gemacht, über die selbst zu sprechen jetzt peinlich ist. haben Geld gestohlen, auch Uhren, wenn sie uns gefielen. Wenn ich Geld hatte, trank ich viel. Dann begannen aus Mukatschewe Prediger zu uns zu kommen, um zu erzählen. Aber ich mochte sie nicht, lachte ihretwegen, gab ihnen sogar Schimpfwörter. Dann einmal, nachdem ich einige Tage durchgesoffen hatte, hat es mein Herz erwischt. Ich musste auf die Intensivstation. Dort besuchten mich diese Leute, die predigten. Und ich sagte, dass wenn es Gott geben sollte und er auch mich retten sollte, ich ihm mein Leben lang dienen werde. Also…”
…Wir fahren zurück nach Mukatschewe. Am Ortseingang hält die Polizei Eduards Auto an. Er ergreift eilig die erforderlichen Dokumente. Es ist erkennbar, dass derartiges ziemlich oft passiert. Der Polizist versucht noch nicht einmal, seine abschätzige Haltung zu verbergen, begutachtet das Fahrzeug und die Dokumente mit Misstrauen.
„Kommen Sie mit mir”, wendet er sich an Eduard.
Er kehrt nach einigen Minuten zurück. Er sei zehn km/h zu schnell gewesen. Das Schild hätten sie erst vor Kurzem aufgestellt.
Nach einer Pause fügt er brüsk hinzu: „Nur weil ich Roma bin, kann man mich jetzt anschreien und beschimpfen?”
19. September 2013 // Walentina Tschabanowa
Quelle: Lb.ua