Zehn Dinge, die Sie über ukrainische Märchenerzählungen nicht wussten
Warum braucht unser Aschenputtel keine Prinzen und was haben Meister Yoda und die Ukraine gemeinsam?
Am Vorabend des Kinderfestes „Tag des Ukrainischen Superhelden“, das in Kyjiw am 21. und 22. Mai stattfindet, berichtet die Ukrajinska Prawda – Schyttja über einige Besonderheiten ukrainischer Märchen.
Unsere Führerin in der Welt der Märchenfiguren ist die Dozentin des Lehrstuhls für Volkskunde des Instituts für Philologie der Kyjiwer Schewtschenko-Universität Olesja Naumowska.
Olesja ist Expertin für Folklore der Völker der Welt, sie hat ungefähr 60 wissenschaftliche Veröffentlichungen und Lehrbücher zur Folkloristik vorgelegt.
Prinzessinnen als solche
In den Märchen der gesamten Welt gibt es den Konflikt zwischen der Stiefmutter und dem Waisenkind, die ukrainischen Märchen zu diesem Thema unterscheiden sich grundlegend von anderen.
Sie erinnern sich: In den westeuropäischen Märchen erhebt sich stets der Konflikt zwischen der schönen Stiefmutter und dem schönen Waisenkind, was auch Thema von Aschenputtel und Schneewittchen ist. Der Schönheit, dem Hauptzug des Helden – eines reichen Mannes – musste / sollte ein schönes Gesicht und eine schlanke Taille gefallen.
Im Westen ist „auf der Welt lieber und schöner zu sein“ eine Frage des Überlebens, die Frauen hatten kein Recht auf Eigentum, ohne einen wunderschönen Prinzen und Helden, lange und glücklich zu leben, war folglich unmöglich.
In der Ukraine ist es anders: nach dem üblichen Recht gab es bei uns doch das Mutterrecht, das heißt, das Erbe wurde über die mütterliche Linie weitergegeben und lief nur auf Seite der Frauen: Kein Ehemann konnte darauf Anspruch erheben.
Diese Tradition begann zu Urzeiten und hat sich bis in die Kosakenzeit fortgesetzt.
Was schätze man an der ukrainischen Frau viel mehr als nur Schönheit?
Antwort geben erneut die Märchen: Für die wichtigste Tugend der Mädchen hielt man den Fleiß.
Die Fähigkeit, das Land zu bearbeiten und einen Lebensstandard herbeizubringen, häusliche Behaglichkeit zu schaffen, genau das gab den Schlüssel zu Ehe und so auch den Heldinnen der Märchen. Eben darum besiegte das ukrainische Aschenputtel, die Tochter des Großvaters, immer die böse Stiefmutter und ihre faule Tochter.
Illja Muromez gehört uns
Das älteste Genre des Heldenepos des ukrainischen Volkes waren Sagen.
Für die ukrainische Herkunft spricht erstens die Zeit der Entstehung in der Periode der Errichtung der Kyjiwer Rus.
Zweitens der Ort, wo die Handlungen der Sagen stattfinden: es sind Kyjiw, Tschernihiw und so weiter.
So kommt in der Sage der Held Illja Muromez von Zuhause nach Kyjiw immer nur „vom Morgengottesdienst bis zur Mittagszeit“. Kein Wunder, denn sein Haus liegt doch völlig in der Nähe, es ist das Städtchen Muromsk im Gebiet Tschernihiw – nach anderer Überlieferung die gleichnamige Insel unweit von Kyjiw.
Ein anderer Held, Kyrylo Koschumjaka, lebt von Anfang an in Kyjiw.
Wie kam es, dass wir diese Superhelden vor allem im Zusammenhang russischer Märchen kennen? Die Sache ist die, dass es bei den Ukrainern trotz gut entwickelter mündlicher Volkskunst keine Traditionen gab, die Texte der Märchen und Legenden niederzuschreiben. Die Geschichten wurden von Mund zu Mund weitergegeben, auf diese Weise gelangten sie schließlich zu den nördlichen Nachbarn, die sie eifrig sich aneigneten und auf eigene Weise umdeuteten.
Und Koschtschij, der Unsterbliche auch
In dem ukrainischen Märchen über Iwan Witer ist der zentrale Gegenheld die schreckliche Schlange Kosolok, den im Duell zu überwinden niemandem gelungen ist.
Angesichts drohender Niederlage beschließt Iwan Witer listig vorzugehen: mit Hilfe einer Schlangenfrau findet er heraus, wo die Seele Kosoloks liegt. Und es kommt heraus, dass sie auf offenem Feld liegt, wo sie unter einem großen Stein in einem Kasten verborgen ist.
Im Kasten ist ein Hase, im Hasen eine Ente, in der Ente ein Ei, welches er öffnet, und Iwan besiegt die Schlange. Ein bekanntes Szenario? Natürlich.
Für die ukrainische Herkunft spricht die Tatsache, dass nach Ansicht der Forscher das Sujet des Märchens über Iwan Witer, das in ihrer jetzigen Form viele thematische Schichten verschiedener Epochen enthält, zunächst in archaischen Zeiten entstanden ist und daher Kosolok bedeutend älter ist als der russische Koschtschij, der Unsterbliche. (russ. Koschtschej A.d.R.)
Sieben Helden, die es nur in ukrainischen Märchen gibt
Die Märchenthemen auf der gesamten Welt haben oft gemeinsame Motive und ähnliche Helden. Gleichwohl gibt es Charaktere, die man nur in den ukrainischen Märchen antrifft.
So das siebenjährige Mädchen, ein Kind, das immer nur sieben Jahre alt ist, das den Vater vor dem Ruin bewahrt, indem es ein ums andere Mal für ihn extrem schwere Rätsel des Herrn löst.
Herr Kozkyj ist ein alter Kater, den sein Eigentümer in den Wald gebracht hat, um ihn sterben zu lassen, dabei verhielt sich die listige Katze nicht schlecht, brachte alle Waldtiere um den Verstand, und nahm sich einen Pfifferling zur Frau.
Bei uns gibt es ausgesprochen gruselige Charaktere: Die Oma Eisennase, die Mutter des Teufels, eine schreckliche Hexe mit einer eisernen Nase, so lang, dass sie bis zum Boden ragt, und außerdem der Stutenkopf, der die Fähigkeit hat zu fliegen und für Fleiß einen mit einem riesigen Schatz belohnen oder einen für Faulheit auffressen kann.
Ebenfalls authentisch ukrainische Helden sind Iwassyk-Telessyk, ein kleiner Junge, der vor einer Schlange auf den Flügeln eines Schwans entkam und Kotyhoroschko, der mit der Schlange auf eigene Weise zurechtkam, mit einem schweren Keulenschlag.
Ein weiterer interessanter Charakter ist Wydymo-Newydymo / Sichtbar-Unsichtbar. Ein unsichtbarer magischer Helfer, der einem armen Mann hilft unter einem grausamen Herrn zu überleben.
Märchen sind Wanderer
Einige ukrainische Märchen sind in andere Länder gewandert.
Kotyhoroschko zum Beispiel hat sich ins benachbarte Weißrussland „bewegt“, das Märchen „Über den Schlangenprinz und die treue Ehefrau“ ist in Litauen als „Egle die Königin der Schlangen“ bekannt.
Es gibt aber Beispiele für weitaus breitere Rezeption: So ist die ukrainische Krywenka-Ente in Japan unter dem Namen „Schurawka“ bekannt, „Über den reichen und den armen Bruder“ in Vietnam als Karamblola“, das Märchen „Warum das Meer salzig ist“ aber mit demselben Namen und Thema auf den Philippinen.Der einheimische „Meister Yoda“
Ukrainische Märchen sind auf wunderbare Weise verflochten nicht nur mit Märchen anderer Völker der Welt, sondern auch mit der Popkultur.
So beispielsweise Och, ein Charakter eines gleichnamigen Märchens: klein, grün, sehr intelligent und mit Zauberkraft ausgestattet.
Außerdem ist er ein Lehrer, der sich einen Kerl zu Lehre nimmt, aus dem er mithilfe sehr brutaler oder sogar gewaltsamer Methoden einen genauso mächtigen Zauberer macht, wie er es selber ist.
Es ist nicht klar, ob George Lucas, als er sich den Meister Yoda sich ausdachte, vom ukrainischen Och wusste, er wurde jedoch ihm sehr ähnlich.
Nicht hundertprozentig Schlechte
Was besonders ukrainischen Mrelärchen unterscheidet, ist das absolute Fehlen hundertprozentig negativer Charaktere. Die Forscher erklären diese Tatsache mit dem archaischen Ursprung der Mehrzahl der Märchenthemen, die noch lange vor dem Aufkommen des Christentums und seiner eindeutigen Aufteilung von gut und böse entstanden.
So erscheint beispielsweise in den Märchen die sehr beliebte goldschaffende Schlange als eine ritterliche Adlige: sie gewährt dem Helden, der gekommen ist, mit ihr zu kämpfen, einen Aufschub und stellt immer die Frage: „Werden wir kämpfen oder Frieden schließen?“, gibt ihm das Vorrecht auf den ersten Schlag und so weiter.
In den alten ukrainischen Märchen konnte das Böse einerseits brutal, andererseits behilflich sein. Elfen beispielsweise können Böses tun, wenn man nicht ihre Rätsel beantwortet: das heißt sie strafen wegen des Fehlens von Verstand.
Der Wassermann kann den nach unten ziehen, der unter dem Mühlrad schwimmt, was man nicht tun darf.
Der Wassermann sendet ewigen Schlaf denen, die in der Mittagszeit arbeiten, wenn die Sonne am stärksten brütet. Das heißt die vermeintlich bösen Märchenhelden strafen zur Reglementierung des Verhaltens.
Ausgesprochen negative Merkmale erscheinen bei ähnlichen Charakteren erst im Laufe der Zeit. Beispielsweise war bei den Ukrainern der Wolfskult verbreitet: seit archaischen Zeiten verehrten die Menschen ihn als Totem-Gottheit.
Ihm zu Ehre zogen die Männer des Stammes Häute (Felle) über und versuchten das Wolfsrudel nachzuahmen und heulten zum Mond.
Mit dem Aufkommen des Christentums wurden die heidnischen Götter und Totem-Tiere dämonisiert, und damit wurden auch die Wolfsfell-Menschen (Menschen in Wolfsfellen, die die Gottheit verehren und niemandem etwas zu Leide taten) verwandelt sich in Wolfsmenschen, eindeutig negative Mörder-Charaktere.
Ukrainische „Avatare“
Wie man weiß bedeutet das Wort „Avatar“ die Verkörperung einer Gottheit in anderen Erscheinungsformen. Im Hinduismus wird der Begriff meist mit Vishnu und seinen zehn Haupt-Avataren verbunden, von denen die beliebtesten Krishna und Rama sind.
Avatare spiegeln unterschiedliche Eigenschaften und Manifestationen der einen Gottheit. In den ukrainischen Märchen gibt es sehr ähnlich Wesen. Sie sind schwer zu zählen: es sind Charaktere wie Wernydub, Wernyhora, der, der isst und nie satt wird, Pyjwoda, Cholod und so weiter.
Sie alle vereint eine gemeinsame Eigenschaft: sie sind tatsächlich in der Lage nur eine bestimmte Funktion zu erfüllen, die für den zentralen Helden wichtig ist, irgendwelche Hindernisse zu überwinden.
Diese Funktionen können alle möglichen sein: die Fähigkeit, jede Menge an Flüssigkeit zu absorbieren (wie bei Pyjwody), die Fähigkeit, Musikinstrumente so zu spielen, dass niemand aufhören kann tanzen (Musyka).
Aber diese Charaktere vollführen ihre Superkräfte nicht für sich, sondern für den zentralen Superhelden: das heißt faktisch sind sie seine „Hände und Füße“, Avatare.
Nicht verschreckende gruselige Märchen
In den Vorzeiten dienten Märchen anderen Zwecken als jetzt: sie unterhielten nicht in dem Maße, wie sie die Welt in all ihren Erscheinungen erklärten, einschließlich der dunkelsten und schwersten.
Gerade deshalb sind in den Märchen in den alltäglichen Dingen viele Symbole verborgen, die eine religiös-sakrale Bedeutung haben.
So kann beispielsweise ein gewöhnlicher Wald, in dem der zentrale Held läuft, in Wirklichkeit Symbol für die Unterwelt sein: Gerade in der Unterwelt nämlich müssen mythische Helden ihre ersten Prüfungen durchstehen.
Das Handtuch, das immer wieder in verschiedenen Märchen auftaucht, ist ein Symbol für den Weg und mehr noch des Todes: Auf Tüchern nämlich senkte man den Leichnam ins Grab.
Selbst in einem gewöhnlichen Haus gibt es Jenseits-„Portale“ – Fenster und Schornstein: Gerade durch sie kann eine unreine Kraft in die Wohnung eindringen, denn die Türen sind für sie verschlossen.
Was haben Schlange und Stiefmutter gemeinsam?
Die Welt der Märchen ist eine Welt endloser Veränderung und Transformationen, die die Veränderungen in der Gesellschaft und das menschliche Denken widerspiegeln.
Besonders deutlich wird dies in ukrainischen Märchen am Beispiel der Transformationen des zentralen Übeltäters.
Der erste von ihnen, der in archaischen Zeiten auftauchte, war die Schlange in ihrer chthonischen Erscheinungsform.
Im Verlaufe der Zeit aber nahm sie anthropomorphe Züge an, und obwohl man sie Schlange nannte, erscheint sie bereits als Mensch. Das spiegelt den Prozess des schrittweisen Rückzugs magischen Denkens aus der Gesellschaft.
Mit dem Aufkommen des Christentums wurde die Schlange als „Übeltäter Nr 1“ ersetzt durch den Teufel. Näher zu unseren Zeiten dann, als das magische Denken dem Rationalen zu weichen begann, wurden auch heroisch-wunderhafte Märchen weniger populär als die den Gesellschaftsaufbau widergebenden, die am meisten zitierte Übeltäterin wurde die Stiefmutter, ein Charakter, an dem es bereits nichts Wunderhaftes gab, der aber faktisch dieselbe Funktion erfüllte wie die alte Schlange.
Der Tag des Ukrainischen Superhelden, der vom 21. bis 22. Mai im Kyjiwer Einkaufszentrum Domosfera stattfinden wird (Stolytschne Chaussee 101), bedeutet einen ganzen Haufen spannender Aktivitäten, die darauf zielen, Bekanntschaft mit den Helden ukrainischer Märchen zu schließen. Der Eintritt ist kostenlos.
Im Programm sind verschiedene thematische Meisterkurse und Vorlesungen für Kinder und Erwachsene geplant, ein Quiz zu Motiven ukrainischer Märchen, Legenden und Sagen, Filmvorführungen, Puppentheater und vieles mehr. Auf Anfrage kann man sich mit den Veranstaltungen auf Facebook verbinden.
19. Mai 2016 // Walentyna Ismajlowa
Quelle: Ukrajinska Prawda
Literaturhinweise des Übersetzers – zum Teil leider nur noch antiquarisch erhältlich:
Ukrainische Volksmärchen. Hg. von Petro V. Lintur. Akademie-Verlag, Berlin 1972, 2. Aufl. 1981.
Ukrainische Volksmärchen. Hg. / Übers. Jona Gruber. Kyjiw, Dnipro, 1975.
Märchen aus der Ukraine. Bohdan Georg Mykytiuk. Düsseldorf, Diederichs, 1979.
Das Wunder des Steinberges: ukrainische Volksmärchen aus den grünen karpaten. Kyjiw, Dnipro, 1987.
Die fliegende Truhe: Zaubermärchen aus der Ukraine. Übers. aus dem Russischen von Liselotte Remané. Berlin, Volk und Welt, 1990.
Ukrainische Volksmärchen. Erzählt von Elvira Morgenstern. Passau, Schuster, 2014.
Lesja Voronjuk, [Ukrainische Superhelden]. Comic. Vgl. https://www.facebook.com/ukrainskisuperheroi/
online-Auswahl: http://www.maerchen-welt.net/ukrainische-volksmaerchen/
ukrainische Märchenbände sind bei A-Ba-Ba-Ha-La-Ma-Ha erschienen. 100 kazok. Bände 1-3. Kyjiw 2005 ff.
V. Vojtovyč, Ukraïns’ka mifolohija. Lybyd, Kyiv, 2002.
Enzyklopädie des Märchens. 15 Bde., Berlin u.a., de Gruyter, 1977-2015, darin:
Oleksandra Bricyna, Art. Ukraine, in: Enzyklopädie des Märchens 13 (2010) 1139-1147.
Vladimir Propp, Morphologie des Märchens. München, Hanser, 1972 = Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975. 2. Aufl. 1982.
Ders., Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens. München, Hanser, 1987.
Olena Kuprina, Märchentransformationen: Figurenanalysen zu russischen und ukrainischen Volks- und Kunstmärchen. München, Sagner, 2010 (Slavistische Beiträge 476).