Im Februar 2015 machte eine Sensation in der Ukraine Schlagzeilen: am Postplatz (Poschtowa Ploschtscha) in Kyjiw hatte man einzigartige archäologische Funde freigelegt. (Bürgermeister Witalij) Klytschko schrieb damals auf seiner Facebook-Seite: „Wer seine Geschichte nicht bewahrt, hat keine Zukunft. Dieser einmalige Fund muss eindeutig bewahrt werden“. Man hatte sogar vor, unter dem Platz ein Museum zu machen. Nun sind diese Ideen begraben – den Artefakten droht ihre Zerstörung.
Manch einer erinnert sich vielleicht an den Slogan „Ukraine ohne Kutschma“. Die Regierung musste damals dringend aus dem Majdan eine umzäunte Baugrube machen. Alles unter dem Vorwand, den Platz zu renovieren und das „erste professionelle Einkaufzentrum“ namens “Globus“ zu bauen. Hastig wurde in drei Schichten gebaut und wie immer „behinderten“ Archäologen die Bauarbeiten.
Das Ergebnis dieses Konflikts war dramatisch: in einer dunklen Julinacht zerstörte ein Bagger das Ljadski-Tor und die während des Baus ausgegrabenen Blockbauten des Jaroslaw-Walls unwiederbringlich. Der Baggerfahrer nannte als Motivation für seinen Vandalenakt seinen Klassenhass auf die Jungs und Mädels in Jeans und Handschuhen, die da täglich vor Ort herumgruben. Bis heute wurde niemand strafrechtlich verfolgt. Die Archäologen waren sich sicher, dass der Täter nicht aus eigener Initiative gehandelt hatte.
Diese Geschichte kann sich jeden Augenblick vor unseren Augen wiederholen. Die Stadt bereitet sich auf den Eurovision Songcontest vor und versucht alle unfertigen Objekte an jenen Plätzen in Ordnung zu bringen, an denen die Party steigen soll. Einer davon ist der Post-Platz. Und wieder behindern Archäologen die Bauarbeiten. Diesmal steht ein mittelalterliches Kyjiwer Stadtviertel aus Holz auf dem Spiel.
Der Point of no Return
Anfang 2015 hatten die Kyjiwer Archäologen Glück: Während des Baus eines unterirdischen Einkaufszentrums am Post-Platz gelang es ihnen, einige historische Eichenbalken unter dem Bagger herauszuziehen. Die Funde waren eine wissenschaftliche Sensation, die die Ansichten der Wissenschaftler über das mittelalterliche Podil (Unterstadt am Dnipro) etwas veränderten.
Was als Museum gedacht war: freigelegte Stücke des historischen Kyjiw liegen am Bauplatz herum.Die Bodenschichten zeugen davon, dass hier schon zu vorfürstlichen Zeiten reges Treiben herrschte. Es gibt Grund zur Annahme, dass die Stadt hier ihre Anfänge nahm und nach denselben militärdemokratischen Grundsätzen (gleich große Flurstücke, gleichberechtigter Zugang zum Wasser) aufgebaut war, wie auch die ersten Städte in Nordeuropa, vor allem in Schweden.
Bürgermeister Klytschko zeigte Interesse an den Artefakten und die Bauarbeiten wurden für gewisse Zeit angehalten. Das wiederum zeigte Wirkung. Zuerst fand man in der Baugrube Überreste von Zäunen aus dem 12. Jahrhundert, dann Brückenreste, Umrisse von Gutshäusern, Teile von Hydrotechnik- und Befestigungsanlagen, die auf verschiedene Jahrhunderte datiert wurden, und sogar eine Grabstätte. Außerdem wurden zahlreiche kleine Artefakte ausgegraben: Münzen, Medaillen, Schmuck und Scherben von Keramikgeschirr. Der stellvertretende Direktor des Archäologie-Zentrums in Kyjiw, Jurij Kuchartschuk, ist sich sicher: Wenn man den Forschern erlauben würde tiefer zu graben, würden noch weitere Entdeckungen warten. Aber diese Erlaubnis haben sie nicht, weil dem zukünftigen Einkaufszentrum dann der Baustopp droht.
Schon jetzt könnte man hier jedoch das Stadtviertel des 12. Jahrhunderts rekonstruieren. Genau daran arbeiteten die Archäologen im Prinzip. 2016 schrieb die Stadtverwaltung die Musealisierung öffentlich aus, die das Archäologie-Zentrum gewann. Im neuen Einkaufszentrum sollte auch ein unterirdisches Museum entstehen, wie es solche in Europa bereits gibt. Durch Glas sollten die Leute im Einkaufszentrum die erhaltenen Teile des historischen Kyjiw sehen können. So stellten sich das die Archäologen vor. Eine Zeit lang herrschte Friede und Einklang zwischen ihnen und den Bauherren.
Ein Teil der Ausgrabungen. Klytschko könnte sie noch retten.Dann aber war es damit vorbei. Der erste Vorbote dafür waren die Gelder für die Musealisierung, die die Stadtverwaltung nach der öffentlichen Ausschreibung bereitstellen sollte, dies jedoch nicht tat. Mychajlo Sahajdak, der Direktor des Archäologie-Zentrums, wurde nicht länger zu den Arbeitstreffen eingeladen und der Investor (so wurde das Unternehmen, das das Einkaufszentrum baut, im Rathaus genannt) stoppte schließlich die Finanzierung der Ausgrabungen. Nach ukrainischer Rechtslage finanziert nämlich der Bauträger eine solche archäologische Arbeit. Seit mehreren Monaten erhalten die Archäologen nun kein Gehalt mehr.
Maksym Wakuljuk, der Leiter der Ausgrabungen, springt über die Frühlingspfützen, zeigt uns die einzigartigen Holzbalken und erzählt, wie sie hier zerfallen, und dass für ihre Rettung kein Geld da ist.
All das ist aber erst die Hälfte des Trauerspiels. Fast zwei Jahren wartete man im Archäologie-Zentrum auf den Bauplan. Von diesem Plan waren die Ausmaße des Museums und der vorgesehene Platz für die Säle, die Technikräume, etc. abhängig. Anfang April 2017 trafen diese lang erwarteten Papiere endlich im Zentrum ein und versetzten die Archäologen in Angst und Schrecken: Im Plan war nur ein kleiner Saal ohne Rücksicht auf die Lage der Funde als Museum vorgesehen.
Die Ausgrabungen am Post-PlatzDas bedeutet, dass diese archäologischen Stätten, die sich über beinahe tausend Quadratmeter erstrecken, abgetragen werden. Von einer Rekonstruktion ist keine Rede mehr. Im besten Fall werden einige Bruchstücke in einen Raum mit der Aufschrift „Museum historischer Straßen“ gebracht. Es ist also nicht nur ein Bauplan, sondern der Plan zur Zerstörung der Errungenschaften der mittelalterlichen Kyjiwer – ihrer Mühen, ihrer Knochen und ihres Gedächtnisses.
Das Institut für Archäologie an der Akademie der Wissenschaften der Ukraine reagierte augenblicklich und forderte einen sofortigen Baustopp, da hier ihrer Expertise zufolge Stätten von weltweiter Bedeutung bedroht würden. Dieser Forderung wurde nicht nachgegeben, im Gegenteil – die Bauarbeiten wurden beschleunigt. Gestoppt wurden sie nur dort, wo der Wagen der Archäologen steht. Warum plötzlich diese Eile? Offizielle Stellungsnahmen gibt es in diesem Zusammenhang nicht, aber aus der Stadtverwaltung hört man folgende inoffizielle Erklärung: „Es ist doch jedem klar: der Eurovision Songcontest steht vor der Tür und der Post-Platz ist einer jener Orte, an dem Veranstaltungen geplant sind. Anfang Mai muss dort alles glänzen.“ Im Klartext heißt das, dass der obere Teil des Einkaufszentrums so schnell wie möglich fertig werden soll.
Sahajdak befürchtet, dass unter dem Deckmantel von Sicherheitsbedenken die gesamte Ausgrabung unter einer Platte verschwinden wird, um den Bau voranzutreiben. Er hat schon zu Sowjetzeiten Arbeitserfahrung mit Bauherren gemacht und weiß, wovon er spricht. Der Archäologe führt uns über das Gelände und zeigt uns Löcher und technische Vorkehrungen für die künftige Platte. Sein Gefühl sagt ihm, dass der Point of no Return die letzten Apriltage sind.
Unsichtbarer Staat
Das Problem des historischen Kyjiw liegt darin, dass es nicht sichtbar ist. Ein Durchschnittsbürger oder Besucher der Hauptstadt weiß wohl kaum, wo die Stadt von Wolodymyr des Großen aufhört und die von Jaroslaw des Weisen beginnt, wo sich die Gruft der Monomachs befindet oder an welcher Stelle der legendäre Nebenfluss Potschajna in den Dnipro mündete.
Deshalb fällt es uns wahrscheinlich schwer, uns als Erben dieses großen osteuropäischen Staates zu fühlen. Die Kyjiwer Rus ist für die meisten von uns ein Mix aus karikaturhaft folkloristischen Bildern, Kindermärchen und trockenen Texten in den Geschichtsbüchern. Wir nehmen diese Leute, denen wir das Christentum, erste Grundrechte, die Sprache und das Land verdanken, nicht als unsere Vorfahren wahr. Und das ist zumindest undankbar.
Wenn die historische Stadt auch nicht sichtbar ist – sie existiert. Unter den Füßen der heutigen Kyjiwer liegen ohne Übertreibung meterhohe Kulturschichten und Millionen von Knochen. In Parkteichen, Abwasserbecken und Betonrinnen geht das Leben der Flüsse aus den Chroniken Lybid, Potschajna, Hlybotschyzja, Syrez, Klow und Chreschtschatyk weiter. Von Zeit zu Zeit bröckeln die Hänge des Schlossbergs, des Schtschekawyzja und von Babyn Jar und offenbaren ihre Geheimnisse: Reste von Anlagen, Gräber, Höhlen und Katakomben. Die erhaltenen Fundamente byzantinischer Kirchen und Fürstenpalästen stehen noch.
Der Fortschritt ermöglicht es, Unsichtbares sichtbar zu machen – Kirchen und Fürstenhöfe wiederaufzubauen, aus Betonrohren einen historischen Fluss ans Tageslicht zu bringen (zumindest an einigen Stellen), unterirdische Museen zu bauen und Viertel aus Holz zu rekonstruieren. Ob das teuer ist? Selbst wenn man dick aufträgt und den Palast von Fürst Wolodymyr mit authentischem Material, also Rosenquarz, wiederaufbaut, kommt das nicht teurer als der Bau eines neuen, großen Einkaufs- und Unterhaltungskomplexes. Nicht profitabel? Wenn diese Objekte den Tourismus ankurbeln, dann ist die Rendite nur eine Frage der Zeit.
Aber wenn sie sich zwischen dem Erhalt von archäologischen Denkmälern und dem Bau eines Einkaufszentrums entscheiden muss, wählt die Stadtverwaltung letzteres. So war das schon zu Sowjetzeiten.
1972 und 1973, als die blaue U-Bahn-Linie gebaut wurde, fand man unter dem Kontraktowa-Platz ein Stadtviertel aus Holz aus dem 9. Jahrhundert. Die bebaute Fläche betrug laut Archäologen circa 100 Hektar. Es waren Entdeckungen von Weltrang, die bestätigten, dass Kyjiw im frühen Mittelalter eine der größten europäischen Städte war.
Die Architekten fertigten damals erste Skizzen für ein unterirdisches Museum an, aber die Partei beschloss, dass die U-Bahn für die „sowjetischen Arbeiter“ wichtiger sei als ein Museum. In Wirklichkeit lag dieses historische Viertel natürlich nicht ausschließlich an jenen Stellen, an denen die U-Bahn gebaut wurde. Auch im Bereich des Getreidemarktes fand man vier Gutshäuser und Uferbauten neben dem Hlybotschyzja. Aber dieses Mal brauchten die Arbeiter eine moderne Markthalle.
Der Vorsitzende des Ministerrates der USSR Wolodymyr Schtscherbyzkyj und andere Mitglieder des Zentralkomitees statteten den Podiler Ausgrabungen einen Besuch ab, dachten angestrengt nach und entschieden schließlich, die Holzbalken aus dem Mittelalter ins Freilichtmuseum Pyrohowo zu bringen. Mychajlo Sahajdak erinnert sich, wie die Archäologen die Balken ausgruben, die gerade so „hervorlugten“. Wie sie versuchten, diese mit Phenolalkoholen und Zucker zu konservieren. Wie sie sie nach Pyrohowo brachten und auf eine anschließende Rekonstruktion hofften, die dann nie stattfand. „Als ich das letzte Mal dort war“, seufzt Sahajdak, „habe ich das alles in furchtbarem Zustand vorgefunden. Schwer zu glauben, dass man aus diesem Holz noch etwas machen kann.“
Der Gerechtigkeit halber muss gesagt werden, dass zu Sowjetzeiten immerhin ein kleines unterirdisches Museum existierte. Unter dem heutigen Unabhängigkeitsplatz standen in kleinen Räumlichkeiten Elemente des Ljadski-Tors, die Originalpfeiler. Dieses Mini-Museum, wie auch die Ausgrabungen, zerstörten Bauarbeiter während eines weiteren Umbaus des Platzes und der Errichtung des Einkaufszentrums „Globus“ im Jahr 2001 komplett.
Und nun das gleiche wieder: ein weiteres Einkaufszentrum und weitere Ausgrabungen.
[…]
20. April 2017 // Dmytro Fionik, Anatolij Korol
Quelle: Texty.org
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