Arsenij Jazenjuk: "Idiotensicherung"
Als “Idiotensicherung” bezeichnen Techniker Maßnahmen, die zufällige oder vorsätzliche Einmischungen von außen in die Arbeit eines beliebigen schwierigen Mechanismus verhüten. Falls bei irgendeinem neugierigen Heimwerker, mit Dreiklassenabschluss und einem Schraubendreher in den Händen, plötzlich die Begierde aufkommt einen Gegenstand aufzubrechen, beispielsweise ein Teleskop und an dessen Linsen herumzuspielen, um dessen Sicht zu verbessern, dann sollten die Chancen für einen solchen Eingriff auf ein Minimum reduziert sein – der Bastler muss lange mit dem schwierigen Schnapper kämpfen, der es nicht gestattet in das Innere des Geräts vorzudringen. Mit der einfachsten Form einer “Idiotensicherung” sind wir jeden Tag konfrontiert. Am Computer arbeitend, können sie keine Datei oder irgendein Programm ändern, oder den Computer herunterfahren, ohne das die Maschine nicht höflich fragte: “Sind Sie sich sicher beim Vollzug dieser Handlung?”. Und nur danach, nachdem sie ihre Absicht bestätigen, setzt die Maschine diese um. Ungefähr so, um kein Idiot zu sein – denke zweimal und mache es erst danach.
Die Verfassung – das ist ein schwieriger Mechanismus, der die Hauptbereiche des Lebens im Staat regelt. Sie legt die Rechte und Pflichten ihrer Bürger und der Amtsträger fest, formt das System der “Checks and Balances” zwischen den Machtflügeln. Tatsächlich sollte bei diesem Mechanismus ein zuverlässiges System des Schutzes vor inkompetenter oder vorsätzlicher Einmischung vorhanden sein. Wie die kürzlichen Ereignisse zeigten, funktioniert in unserer Verfassung die “Idiotensicherung” praktisch nicht.
Denn was geschah vor kurzem? Die Führer der zwei größten Parlamentsparteien, sich hinter Losungen der Rettung des Vaterlandes unter den Bedingungen der Weltkrise verbergend, nahmen sich einen Verfassungsumsturz vor. Sie sind dazu übergegangen, da die Prozedur der Verfassungsänderung heute faktisch vollständig an die Werchowna Rada und ihrer Hauptspieler abgegeben wurde. Denn sogar die Richter des Verfassungsgerichtes, welche eine Expertise des Entwurfes des “Grundgesetzes” durchführen müssen, sind Geiseln von Parlamentsintrigen. In dieser Situation sind für den Verfassungsprozess die unwahrscheinlichsten Dinge möglich.
Wofür stand die eine Norm des Entwurfes, die in die Medien durchgesickert ist, und ein neues System der Wahl der Werchowna Rada betraf! Uns, den Bürgern der Ukraine, wurde vorgeschlagen, zweimal für Parteilisten zu stimmen. Man schlug uns vor, nach der ersten Tour aus den in die Rada gelangten Parteien nur für zwei, welche die meisten Stimmen erzielten, zu stimmen. In der ersten Runde waren alle Parteien gleich, doch in der zweiten wurden “zwei” gleicher als die anderen! Die Gewinnerpartei der zweiten Tour hätte die Mehrheit im Parlament erhalten – 226 Plätze, und alle übrigen wären automatisch zur Opposition gezählt worden. Von der Sache her, wäre eines der Hauptprinzipien des Parlamentarismus verletzt worden – die proportionale Vertretung der Bürger im hauptgesetzgebenden Organ des Landes wäre zu einem leeren Wort geworden. Und wie gefällt ihnen die Norm, dass der Vorsitzende der Partei der Parlamentsmehrheit automatisch auf den Posten des Premiers gestellt wird? Und wie könnte es auch anders sein, denn der Sieger erhält alles!
Die zweite “der gleicheren” Parteien würde ebenfalls nicht im Anhang landen – ohne sie könnte man keinen Präsidenten im Parlament wählen (für ihn sollte zwei Drittel der Abgeordneten stimmen). Und das bedeutet, dass man in der Verfassung leere Spalten für die obersten Amtsträger hätte lassen können und die “gleicheren” Abgeordneten hätten die Namen ihrer Vorsitzenden eingeschrieben. Und solch “transparente Anmerkungen” gab es im PRiBJUTowskem Entwurf (PR=Partei der Regionen, BJuT=Block Julia Timoschenko) Entwurf für das “Grundgesetz” des Landes nicht wenige. Wo kann man Parteientscheidungen und Akte des Präsidenten, der Werchowna Rada und des Ministerkabinetts anfechten? Nur in einem Gericht des Landes – dem Berufungsgericht der Stadt Kiew! Warum nicht gleich in die Verfassung Parteiquoten der “gleicheren” Parteien eintragen, nach denen dorthin Richter entsandt werden?! Wofür kann man einem beliebigen Fernsehsender im Lande die Lizenz entziehen? Für “Desinformation der Gesellschaft”! Warum nicht gleich die Namen der Sender eintragen, die um eine “Desinformation” zu vermeiden, in zuverlässige Hände der “gleicheren” Parteigenossen übergeben werden sollten?! Und Beispiele dieser Art gibt es viele. Das ist nicht das “Grundgesetz” des Landes, sondern irgendein Ehe-Vertrag zwischen BJuT und der Partei der Regionen! Und wenn eine große PRiBJuTowsker Koalition zustande käme und eine Neuredaktion beschlossen würde, dann müssten wir, die Bürger der Ukraine, die Bedingungen dieses Vertrages erfüllen. Dabei, schickten sich die Abgeordneten an, diesen Vertrag ohne unsere Zustimmung einzurichten, nachträglich – einfach die eigenen Vollmachten um wenigstens zwei Jahre verlängernd. Faktisch wären in die Verfassung die Namen der Premierin, des Präsidenten und von vierhunderfünfzig Abgeordneten eingetragen worden. Eine solche Verfassungsreform kann man nur mit Diebstahl vergleichen – man wollte uns das Land nehmen! Es klappte nicht. Doch für lange?
Hier ist der rechte Zeitpunkt, um es richtig zu stellen – ich bin nicht prinzipiell gegen die Möglichkeit von Änderungen der existierenden Verfassung. Die Möglichkeit mit der Zeit das “Grundgesetz” des Landes zu ändern, ist eines der Hauptprinzipien der weltweiten Verfassungsrechte. Eine Verfassung schaffend, haben ihre Autoren ausgezeichnet verstanden, dass nichts in der Welt ewig ist. Im §28 der 1793er Verfassung von Frankreich stand geschrieben: “Das Volk behält sich das Recht der Revision, der Umgestaltung und der Änderungen seiner Verfassung vor. Nicht eine Generation kann die zukünftigen Generationen ihren Gesetzen unterordnen”.
Doch alle Änderungen sollten klar am Gegenstand ihrer Entsprechung gegenüber den Interessen der Gesellschaft geprüft, abgewogen und abgesichert werden und denen einzelner Parteien oder ihrer Sponsoren. Und natürlich können Änderungen in der Verfassung nicht augenblicklichen politischen Konjunkturen zuliebe oder entsprechend den Umfragewerten der größten Teilnehmer des Wahlprozesses eingebracht werden. Man darf das “Grundgesetz” nicht jedes Mal vor den nächsten Präsidentschaftswahlen ändern – das Land braucht Verfassungsstabilität! Unsere Verfassung braucht eine zuverlässige “Idiotensicherung”.
Jeder Jurastudent, der die Vorlesung des Verfassungsrechts ausländischer Staaten hört, bestätigt, dass es in diesen sogar einen besonderen Terminus gibt – “die Härte/Unabänderlichkeit der niedergeschriebenen Verfassung”. Diese ist bedingt – es ist alles Rechtswissenschaft und keine Festigkeitslehre – doch hinreichend bezeichnend. Ich erinnere mich fast aufs Wort: “Zu den harten/unveränderlichen Verfassungen gehören diejenigen, die vom Parlament ein und derselben Legislaturperiode mit einer qualifizierten Mehrheit in einer Kammer oder Kammern geändert werden und Verfassungen, die durch wiederholte Abstimmung in einer bestimmten Frist geändert werden, doch vom Parlament der gleichen Legislaturperiode. Zu diesen Verfassungen kann man das deutsche Grundgesetz zählen, welches durch die Entscheidung einer 2/3 Mehrheit in jeder der beiden gesetzgebenden Versammlungen geändert werden kann”.
Und hier noch: “Falls eine Bestätigung der Änderungen bei einem Referendum oder einer Abstimmung im Parlament der nächsten Legislaturperiode oder eine Bestätigung der Änderungen durch Organe der Förderationssubjekte oder Anwendung irgendwelcher anderer Prozeduren, welche die eingebrachten Änderungen ratifizieren, erforderlich sind, dann kann man diese Verfassungen zu den besonders harten zählen”. Besonders hart sind die Verfassungen des modernen Japans (1947) und Dänemarks (1953) – in diesen wurde bislang noch nicht eine Korrektur eingebracht. Hierzu kann man ebenfalls die Verfassungen Frankreichs, Irlands und der USA zählen. In die amerikanische, die als klassisch in der modernen Auffassung von Verfassung gilt, wurden in ihrer mehr als 200-jährigen Geschichte insgesamt 27 Zusätze eingetragen. Die ersten zehn – sind die berühmten “Bill of Rights”.
Offensichtlich ist, dass für unser Land, welches sich zu bilden fortsetzt, mit seinem unvollendetem politischen System, bei markant ausgedrückten dekorativem Charakter der politischen Parteien, die Härte und Beständigkeit der Verfassung ersichtlich unzureichend ist. Leider ist unsere Verfassung eine “knetbare”. Worin ist unser Mechanismus der Änderungen des “Grundgesetzes” unvollendet? Er hängt ganz und gar von der Rada und ihren Parteien ab, deren dominierenden. Unsere Parlamentsparteien sind bislang mehr Geschäftsprojekte, denn ideologische Organisationen mit ernsthaften demokratischen Traditionen. Bei den Führern dieser Parteien und ihren Investoren gibt es immer die Versuchung, die von den Wählern erhaltene Macht, gelinde gesagt, nicht ihrer Bestimmung gemäß zu nutzen. Im Kleinen heißt das, ein Stück vom Haushalt “absägen”, ein “benötigtes” Gesetz zur Unterstützung des eigenen Geschäfts durchbringen. Und falls im Großen, dann die Verfassung ändern. Oder diese nicht ändern, wenn es für die Abgeordneten vorteilhaft ist. Erinnern sie sich an das Verfassungsreferendum des Jahres 2000, wo wir – neben dem aufgezählten – für die Aufhebung der Abgeordnetenimmunität stimmten? Die Abgeordneten ignorierten erfolgreich die Ergebnisse unserer damaligen Willensbekundung – sie fanden nicht die nötige Stimmenmehrheit für die Einbringung der Änderung in die Verfassung.
Seinerseits habe ich fünf Mal die Frage der Aufhebung der Abgeordnetenimmunität zur Abstimmung in der Werchowna Rada gestellt. Und erst beim fünften Mal fanden sich die notwendigen 226 Stimmen, unter Einbeziehung meiner Stimme. Heute gibt es ernsthaften Grund zur Annahme, dass die für die Eintragung der entsprechenden Änderung notwendigen 300 Stimmen niemals zusammenkommen. Auf diese Weise ignorierte die Regierung das Volk und fährt fort es zu ignorieren.
Ich bin kein Techniker, ich bin Politiker, doch für mich ist offensichtlich – die “Idiotensicherung” unserer Verfassung, den Mechanismus ihrer Änderung bei Übergehung der Meinung der Bürger des Landes muss man ändern. Die neue “Idiotensicherung” unserer Verfassung sollte ein Referendum werden. Ich bin überzeugt, dass man dazu drei Thesen diskutieren muss:
- Jegliche Verfassungsänderungen sollen nur nach einer allgemeinen Volksbefragung, den Resultaten einer breiten gesellschaftlichen Diskussion, angewendet werden. – Notwendig ist es Garantien zu erreichen, dass im Fall der Durchführung eines Referendums alle beschlossenen Änderungen in den Text des “Grundgesetzes” aufgenommen werden. Politiker müssen eine persönliche Verantwortung für die Verwirklichung der während des Referendums beschlossenen Änderungen tragen. – Und weiter ist es notwendig in einem Referendum in die Verfassung eine Norm einzubringen, gemäß der die Fristen für die Durchführung aller Wahlen nur im “Grundgesetz” festgelegt werden und auf diese Weise vorgeschrieben wird, dass nicht ein Politiker, der eigenmächtig seine Befugnisse verlängern möchte, dies tun könnte.
Warum eine Volksabstimmung? Das ist die direkte Form der Volksherrschaft und von Verfassungsänderungen, die sich durch die Erfahrungen in der Welt mit dem Verfassungsrecht anbietet. Zusätzlich in unserer Situation, wo die Mehrheit der Institutionen der Macht im Lande nur für sich selbst arbeitet, kann man diese kaum als gesund und fähig zu Handlungen für die Interessen der Bürger der Ukraine bezeichnen. Das bedeutet: ein Referendum, dessen Resultate man nicht einfach abtun kann, muss man unbedingt zur Norm machen.
Warum schlage ich gerade jetzt vor, ein Referendum durchzuführen? Man muss lernen die Verfassung umzusetzen und das ist die erste Aufgabe der Bürger und Politiker. Lernen die Verfassung zu ändern, ist eine gesonderte und schwierige Aufgabe. Die Probleme in unserem Lande liegen nicht in der Verfassung, sondern in den Politikern, welche die Verfassung nicht beachten und überzeugt sind, dass man leicht das “Grundgesetz” für die Übernahme der Macht ändern kann.
Ich denke, dass wir alle genug von Geheimverhandlungen und Eheverträgen von Megaparteien haben. Ich verstehe, dass wir einen realen Mechanismus der Volksherrschaft brauchen und keinen weiteren Versuch irgendetwas im “Grundgesetz” zum Nutzen der einen oder anderen Politiker “zu drehen” benötigen. Nur eine allgemeine Volksbefragung kann für unsere Verfassung die härteste “Idiotensicherung” werden.
Arsenij Jazenjuk
Quelle: UNIAN