Deutschland statt Polen: Wie sich die Migrationsrichtung der Ukrainer zwei Jahre nach der Visafreiheit ändert


Die Visafreiheit mit der EU wird zwei Jahre alt. Die Ukrainer fahren häufiger nach Europa, aber nicht „auf einen Kaffee“ nach Wien, wie es Pjotr Poroschenko [Petro Poroschenko] formulierte, sondern zum Geldverdienen.

Und es scheint, als ob der Ex-Präsident einer von Wenigen wäre, die die Visafreiheit fast als die wichtigste Errungenschaft in der Zeit der Unabhängigkeit betrachten, die ihm jedoch nicht zum Wahlsieg verholfen hat und die er schon für die Parlamentswahlen nutzt.

Die Mehrheit der Ukrainer hat in diesen zwei Jahren nicht ein Mal die Visafreiheit genutzt. Die Menschen haben einfach kein Geld, um „durch Europa“ zu reisen. Selbst eine bescheidene Reise von zwei bis drei Tagen kostet mindestens 500 Euro, was anderthalbmal höher als ein mittleres Gehalt in der Ukraine ist.

Übrigens sind dennoch Millionen Ukrainer ins Ausland gefahren, auf der Suche nach Arbeit.

Nach Polen zur „Ernte“

Ohne Arbeitsvisum, mit dem biometrischen Reisepass, kann man nur in Polen arbeiten und nur ein halbes Jahr. Dorthin strömen die Arbeitskräfte – die Ernte einbringen und Häuser bauen für 700 bis 800 Dollar im Monat. Dort sind schon etwa zwei Millionen unserer Arbeiter.

Im zweiten Jahr der Visafreiheit reisten nach Angaben der staatlichen ukrainischen Grenzbehörde mehr als zwei Millionen Ukrainer mit dem biometrischen Reisepass nach Europa, was viermal so viel ist wie im ersten Jahr.

Die meisten davon, mehr als eine Million Menschen, überquerten die Grenze nach Polen.

Tatsächlich wird nach Prognosen im kommenden Jahr mindestens ein Viertel unserer Arbeitskräfte von Polen nach Deutschland ziehen, wo man verspricht, den Arbeitsaufenthalt für Bürger aus Nicht-EU-Ländern zu vereinfachen. Ausländern wird dann ein Arbeitsvisum nach im vereinfachten Verfahren erteilt.

„Nach der Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes im Jahr 2020 könnten 20-25 Prozent der Ukrainer, die in Polen arbeiten, nach Deutschland gehen. Das dauert etwa vier Jahre“, erklärte Jakub Growjez, Berater der Abteilung für wirtschaftliche Analysen der Polnischen Nationalbank gegenüber obserwatorfinansowy.

Und obwohl Europa an billigen Arbeitskräften sehr interessiert ist (was ein Grund dafür war, warum man für uns die „Schengen-Regeln“ geändert hat), wird der Zug der Migranten für ukrainische Reisende an den Grenzen behindert. Hinzu kommt, dass nach Angaben von Eurostat im letzten Jahr der Anteil der illegalen Ukrainer um mehr als elf Prozent gestiegen ist.

Warum die Einreise verweigert wird

Nach Angaben der Europäischen Grenzagentur Frontex nimmt die Ukraine im zweiten Jahr in Folge den ersten Platz bei der Anzahl der Einreiseverweigerungen in die Staaten der EU und des Schengen-Raums ein.

Im letzten Jahr stieg nach Angaben von Frontex der Anteil der Zurückweisungen wegen unzureichender Dokumente oder Geld um ganze 55 Prozent, fast 58.000 Zurückweisungen, was 20.000 mehr sind als im Jahr 2017 (für die erste Hälfte 2019 gibt es noch keine Zahlen).

Im Übrigen fand der Großteil der Zurückweisungen, etwa 53.000, an der polnischen Landgrenze statt.

Inhaber biometrischer Pässe beklagen sich über Einreiseverweigerungen an der Grenze und über „Befragungen mit Erpichtheit“ bei den Grenzkontrollen. Mal reicht das Bargeld nicht aus, mal wird die Hotelbuchung nicht akzeptiert.

„Ich fuhr geschäftlich nach Warschau, wollte dort vor Ort eine Wohnung suchen, hatte eine Karte dabei und nicht mehr als 50 Euro in bar. Der polnische Grenzbeamte forderte mich auf, eine Hotelbuchung und Bargeld vorzulegen. 50 Euro, sagte er, seien nicht genug für die Reise. Das reiche nur für einen Tag. Ich begann zu schimpfen, weil ich nicht zum ersten Mal in Polen war und nie Probleme hatte. Nach langen Diskussionen wurde ich dennoch abgewiesen“, erzählte und Wladimir Fedif, Mitarbeiter einer Möbelfirma in Lwiw.

Ukrainische Grenzbeamte bestätigen, dass sich die polnischen Kollegen mäkeliger gegenüber den Ukrainern verhalten.

„Über Polen reisen viele illegale Arbeiter nach Europa. Die Regierung hat sie angewiesen aus ihrer Sicht verdächtige Personen auszusieben, um die Statistik nicht zu verschlechtern. Zum Grund für eine Zurückweisung kann das Fehlen einer Hotelbuchung und Bargeld werden, sowie dass die Person nach Meinung der Grenzbeamten die Ziele des Besuchs nicht ausreichend belegen kann. Letzteres ist die häufigste Ursache für eine Einreiseverweigerung. Und etwas zu beweisen ist schwierig – also einfach umkehren und das war’s“, erzählte ein Mitarbeiter der Grenzbrigade Mosstyska im Gebiet Lwiw gegenüber Strana.

Übrigens begann man sich in letzter Zeit an der polnischen Grenze insgesamt strenger gegenüber den Ukrainern zu verhalten. Erneut, wie schon in den 90ern, begann man dort verstärkte Kontrollen einzuführen, sowohl bei Autofahrern als auch bei Zugpassagieren.

„Erstens zeigen die polnischen Grenzbeamten so ihr Verhältnis zu den Ukrainern, indem sie versuchen, dem Innenministerium einen informativen Grund zu liefern, Diskussionen auf zentralen Plattformen zu beginnen. Zweitens signalisieren sie ihrer Regierung die Notwendigkeit von Lohnsteigerungen, Erhöhung von Sozialstandards sowie irgendwelcher weiterer Forderungen, deren Erfüllung sich verzögert oder abgelehnt wird. Das ist ein sogenannter „italienischer Streik“, wenn der Widerstand durch langsamere Überprüfung von Dokumenten und zusätzliche Kontrollen gezeigt wird“, erklärt und Irina Wereschtschuk, Präsidentin des Zentrums für baltische und Schwarzmeer-Forschung.

„Warum man am häufigsten an der polnischen Landgrenze zurückschickt? Das kommt daher, dass man dort gerne das Vorweisen von Bargeld fordert und Bankkarten nicht als Geldmittel anerkannt werden, obwohl das nach dem Schengener Abkommen der EU erlaubt ist. Die gleiche Situation herrscht übrigens in Zypern. Rückweisungen sind häufig unbegründet.

Deshalb muss man gleich im Voraus eine Bescheinigung der Bank über Bargeld und Geldbewegungen auf der Karte in englischer Sprache mitnehmen, oder noch besser, mindestens 500 Euro Bargeld (nach der Rechnung 50 Euro pro Tag, das ist mehr als für die Bezahlung der Unterkunft und das Rückfahrt-Ticket)“, sagte Dmitrij Korobko „Strana“, Mitarbeiter einer Touristenagentur in Lwiw.

Nach Angaben von Frontex ist die Hauptursache für die Einreiseverweigerung in die EU das Fehlen von Dokumenten, die das Ziel der Reise und die Unterkunft
nachweisen (22.700 Abweisungen) und eben dieses Fehlen von ausreichenden Mitteln zur Versorgung (15.600 Abweisungen).

Wird die Visafreiheit zurückgenommen?

Übriges merken europäische Beamte regelmäßig an, so wie man die Visafreiheit eingeführt hat, kann man sie auch wieder zurücknehmen. Den entsprechenden Mechanismus zum Einfrieren der Visafreiheit wurde bestätigt, bevor man sie der Ukraine gab.

Und theoretisch bleibt dieses Risiko bestehen.

Über die Gefahr des Verlusts der Visafreiheit spricht Transparency International, eine anerkannte internationale Organisation zur Korruptionsbekämpfung, in einer Erklärung.

Der Grund ist eine Änderung eines Artikels im Strafkodex über die ungesetzliche Bereicherung unter Poroschenko, die im Westen neue Fragen über den Betrug unter ukrainischen Beamten, vor allem vor dem Hintergrund großer Korruptionsskandale in der letzten Regierung aufwirft.

Wo doch die Visa für Europa unter anderem unter der Bedingung der Einführung des Artikels über ungesetzliche Bereicherung in den Strafkodex abgeschafft wurden.

Das ist schon das zweite beunruhigende Klingeln im letzten halben Jahr. Im Dezember vergangenen Jahres ließ die Europäische Kommission selbst in Anmerkungen durchscheinen, dass die Visafreiheit wieder abgeschafft werden könnte, als sie in ihrem Bericht die Ukraine wegen der häufigen Einreiseverweigerungen, Schmuggels und wiederum wegen des unzureichenden Kampfes gegen die Korruption ermahnte (das Antikorruptionsgericht hat seine Arbeit zum Beispiel noch nicht vollständig aufgenommen).

Der Politologe Ruslan Bortnik glaubt allerdings nicht daran, dass der Westen die Visafreiheit in nächster Zeit zurücknimmt.

„Weil es Europa wichtig ist, die Ukraine im Widerstand gegen Russland zu halten“, sagt Bortnik,

Jedoch beschloss man im Jahr 2017, als man uns nach langen Jahren Wartezeit und Verschiebung des Einführungsdatums endlich die Visafreiheit gab, gleichzeitig in der EU einen Mechanismus der Aussetzung der Visafreiheit, in dem fünf Hauptgründe genannt sind, wegen derer man die Visa wieder einführen könnte.

Einer der Hauptgründe ist eine deutliche Steigerung der Rückweisungen an der Grenze bei der Einreise in die EU oder die Erhöhung der Zahl von illegalen Einwanderern mit Pässen aus Ländern mit Visafreiheit.

Als deutlich bezeichnet man einen Anstieg ihrer Zahl um 50 Prozent oder mehr, und die Steigerung sollte dauerhaft sein und mindestens zwei Monate anhalten. Wie oben gezeigt, sind wir schon bei diesen Zahlen, oder nähern uns sicher an, und die Tendenz zur illegalen Abwanderung verstärkt sich nur angesichts der Armut und der absoluten Preissteigerungen.

In der Gesetzgebung der EU heißt es: „Die EU-Kommission wird überwachen, ob die Erfüllung der spezifischen Anforderungen bestehen bleibt, auf deren Grundlage die Bereitschaft zur Einführung der Visafreiheit bewertet wurde. Wenn der Bericht der Eurokommission zeigt, dass in einem konkreten Land mindestens eine der spezifischen Anforderungen nicht mehr erfüllt wird, sollte das Prozedere (die Vorbereitung zur Abschaffung der Visafreiheit) in Gang gesetzt werden.“

Ein weiterer Grund, aus dem die Visafreiheit abgeschafft werden könnte, ist der deutliche Anstieg der Anzahl von Asylanträgen von Bürgern. (Und wir sollten berücksichtigen, dass der Konflikt im Donbass unter dieser Regierung ziemlich ungelöst erscheint und in keinem Moment eine Zuspitzung sowie ein Szenario der massenhaften Flucht von Ukrainern in den Westen mit der Bitte um Asyl ausgeschlossen ist.)

Der dritte Grund wäre, wenn die Ukraine sich weigern würde, die Bürger zurückzunehmen, die sich illegal auf dem Territorium der EU aufhalten.

Der vierte ist eine deutliche Steigerung der Zahl schwerer Verbrechen, die von Bürgern eines „visafreien“ Landes verübt werden.

Fünftens, Rückschritte bei den Reformen.

Ausreichend für den Beginn der Abschaffung der Visafreiheit wäre die Klage eines einzigen EU – Landes, in dem eine große Zahl Illegaler oder Flüchtlinge registriert wird. Eine Entscheidung in dieser Frage wird die Europäische Kommission treffen. Die europäischen Beamten hätten einen Monat Zeit und die Situation zu untersuchen. Die Visafreiheit könnte zunächst für neun Monate aufgehoben werden und die Aufhebung danach um diesen Zeitraum verlängert.

„Insgesamt lohnt es sich zu erwähnen, dass die Ukraine bisher nicht gegen die strengen Regeln des Mechanismus der Abschaffung der Visafreiheit verstoßen hat, die rote Linie noch nicht überschritten hat, und das ist schon gut. Für Ukrainer, die in Polen arbeiten wollen, ist die visafreie Einreise bisher ausreichend. Allerdings ist das kein Verdienst Poroschenkos, wie er zu behaupten versucht, sondern all jener Politiker und Diplomaten, die im Verlauf der letzten zehn Jahre an dieser Frage gearbeitet haben“, sagt Wereschtschuk.

11. Juni 2019 // Alexandra Chartschenko

Quelle: Strana

Übersetzerin:   Anja Blume  — Wörter: 1610

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