Sag dich nicht davon los, woran du hängst



Am dunkelsten ist es vor dem Morgengrauen. Und ich weiß, dass dieses noch in diesem Jahrzehnt beginnt.

Ich möchte weggehen. Irgendwann dorthin, in den Westen, den Millionen anpackenden, arbeitsliebenden, unternehmerischen, klugen folgend. Den Millionen hinterher, die hofften und sogar kämpften, doch müde wurden. Denjenigen, die ihr eigenes don-quijotsches Windmühlchen vorzogen. Denjenigen, die Geld hierher schickten und jetzt ihre Kinder nahmen und davon segelten, die Alten und die Phrase zurücklassend: „Es gibt nur ein Leben und es geht in eine Richtung.“

Ich möchte weg von der nicht zustande gekommenen Unabhängigkeit. Denn, zurückblickend, verlässt mich nicht der Gedanke, dass die politische Klasse den unabhängigen ukrainischen Staat nur für ein Ziel genutzt hat – ihn auszurauben. Wir haben Territorien verloren, schrumpften demografisch, haben Medizin, Bildung und Industrie fast zur Strecke gebracht, die Wissenschaft gekillt. Dafür glänzten wir in den Ratings von Forbes. Doch sogar diese Zeit ist vorbei, denn wir verloren Territorien, schrumpften demografisch, haben Medizin, Bildung und Industrie fast zur Strecke gebracht, die Wissenschaft gekillt.

In den sechsundzwanzig Jahren haben nur wenige begriffen, dass „Minderwertigkeit“ nicht nur in Beziehung auf Russland gilt, auf den Westen ebenso. Die Regierung hat kein hartes „Ja“ und hartes „Nein“ zu sagen gelernt, wenn die Rede von den nationalen Interessen geht. Sie ist bereit diese Interessen auf jedem Markt zu tauschen, damit sie bloß nicht dabei gestört wird, sich zu bereichern.

Ich möchte weg vom Präsidenten, der unter dem Zeichen „Gierige Waage“ geboren wurde. Vom Präsidenten, der keine Entwicklungstrends vorgibt und keine strategischen Entscheidungen trifft. Diese aus dem Grund nicht treffend, weil er die Kopeken des Halts bei der einen oder anderen Variante abwägt.

Ich möchte weg von den Oligarchen, die Krokodilstränen aufgrund der niedrigen Kapitalisierung ihres Business im unzivilisierten Land vergießen und unabänderlich während der Wahlen die Sieger des Castings der Schufte finanzieren. Ich möchte einfach nur weg von der Dummheit.

Ich fürchte die Wähler, die mir die fünf Jahre normalen Lebens stehlen und ihre für 200 Hrywnja eintauschen. Ich möchte weg von den Einwohnern der Städte, die bereit sind „den Schlüssel ihrer Wohnung“ einem Oma-Hochstapler mit Dutzenden Jahren Gefängnishintergrund und unabänderlicher Trauer unter den Fingernägeln anzuvertrauen. Und von den Dorfwählern, die bereit sind ihre Stimme einem Menschen zu geben, der im Morgenrot der 1990er nicht mit Mistgabeln, sondern einem Journalistenausweis mit Drogen handelnde Apotheker nötigte (gemeint ist Oleh Ljaschko, Führer der Radikalen Partei, deren Markenzeichen eine Mistgabel ist, A.d.Ü.).

Ich habe gesehen, wie ein Teil der Volontäre sich verkaufte und ein Vermögen machte. Doch ich möchte weg, um nicht zu sehen, wie die übrigen ehrlichen endgültig von fremdem Leid, Blut, Schmerz und Tränen verrückt werden.

Ich möchte nicht sehen, wie die Unternehmensräuber und Erpresser, sich mit Ideologie, Ärmelaufnähern ausstattend, in Korps und Wachfirmen drängend, ungestraft Firmen, Banken und ihnen nicht gefallende Bürger ausnehmen. Die Regierungsmentoren haben ihnen nicht erklärt, dass Patriotismus nicht zu nehmen ist, sondern zu geben.

Ich habe 45 Jahre aus dem Fenster auf den Wald von Holossijiw (Stadtteil von Kyjiw, A.d.Ü.) geschaut und möchte nicht sehen, wie er verdeckt und getötet wird von dreizehn 27-etagigen Blöcken, errichtet mit Hilfestellung von käuflichen Geheimdienstlern, die aus dem Untersuchungsgefängnis einen separatistischen Geschäftsmann für Hunderte Wohnungen freilassen. Ja, wenn sie wenigstens nur käuflich wären …. Daran, dass sie mich abhören, bin ich in zwei Dutzend Jahren bereits gewöhnt. Doch wenn ich auf dem Tisch des Präsidenten die Zusammenfassung meiner Telefongespräche sehe, wann das Rotkäppchen mit dem Flugzeug-Teppich nach Winterfell (Burg in Game of Thrones, A.d.Ü.) fliegt, dann erschaudere ich vor dem Kompetenzniveau meiner Aufpasser. Nicht um mich fürchte ich. Um das Land. Um den Präsidenten, der mit intellektuell unverdauten Produkten gefüttert wird.

Ich möchte weg von der allgegenwärtigen und alles rechtfertigenden Phrase: „Nun, Sie wissen ja in welchem Land wir leben.“ Weg von Lügen und Verfälschung, PR mit Arbeit verwechselnd; einen politisch aktiven Geschäftsmann mit dem Präsidenten; die Zahl der Hausdurchsuchungen mit effektiver Regierung; die Verdachtsverkündung mit einem Gerichtsurteil; das Urteil eines käuflichen Gerichts mit der Wahrheit; Hysterie mit Diktatur; Schwätzer mit Reformern …

Ich bin müde Geld für die Zeitung zu erbetteln. In die Redaktionsbuchhaltung aus dem Haus alles schleppend, was ich konnte, bereits in den 2000er Jahren war ich es leid eine lavierende Bettlerin zu sein, die nicht in die Gefangenschaft des einheimischen Business geraten wollte. Ich bin müde davon nicht zu schreiben, denn ich muss Geld für die Auszahlung der Armutslöhne und -honorare auftreiben, für die Aufrechterhaltung eines unklar für wen nötigen Platzes, auf dem denkende Leute kluge, systematische, gesellschaftlich wichtige und staatlicherseits anwendbare Texte veröffentlichen.

Ich möchte weglaufen. Aber! Ja, Sie haben recht, ich bleibe.

Denn am dunkelsten ist es vor dem Morgengrauen. Und ich weiß, dass es noch in diesem Jahrzehnt anbricht. Fragen Sie nicht woher. Ich weiß es einfach und das ist alles.

Ich gehe nicht weg, denn meine bereits gebeugten Eltern sollen an den Gräbern ihrer Mütter und Väter sitzen können, wenn sie mit ihnen reden wollen.

Denn meine Kinder brauchen eine Heimat und sie sollen für diese nötig sein. Sogar wenn sie keine Bauarbeiter oder Verkäufer sind, sondern gerade nutzlose Biochemiker, die das menschliche Gehirn untersuchen. Eben jenes Organ, das nicht hinter den Informationsströmen und den Funktionen der Gadgets und nicht einmal hinter der Nummerierung der iPhones hinterherkommt.

Denn, die schamlosen Händler vergessend, gehe ich nicht weg von der unverhofften Freude der bedauerlich runzligen alten Frauen. Wer kauft dann bei ihnen das unnötige Kilogramm Quark, die zerdrückten Himbeeren, die ungewaschenen Kartoffeln?

Denn beinahe in einem halben Hundert Länder gewesen seiend, habe ich weder Charkiw, noch die Schazker Seen, die Universität von Tscherniwzi, die Festung von Kamjanez-Podilskyj gesehen und gerade erst die Nummerierung der Fontänen-Stationen (in Odessa, A.d.Ü.) begriffen. Ich, die Insektenkundlerin der Hügel von Petschersk (Regierungsviertel in Kyjiw, A.d.Ü.), habe das eigene Land noch nicht gesehen.

Ich gehe nicht weg von Ljubomyr Husar (kürzlich verstorbener ehemaliger Vorsteher der Griechisch-Katholischen Kirche der Ukraine, A.d.Ü.), der aus der wohlhabenden Welt hierher kam, um unser Land besser zu machen, der zurückkehrte, um zu bleiben. Von Lessja Lytwynowa (Volontärin): Sie braucht mich nicht, aber ich brauche sie. Von Witalij Schabunin: Er hat so einen schönen Haken! (NGO-Mann, der vor Kurzem einem ihn belästigen Journalisten mit der Faust ins Gesicht schlug, A.d.Ü.). Von den Alten – Konstrukteuren, die sich daran erinnern, dass Militärisch-Industrieller-Komplex nicht nur Schmiergeld bedeutet. Von den durch ein Wunder ganz gebliebenen verarmten Schullehrern, deren Schüler Medaillen von weltweiten Wettbewerben heimbringen. Von einigen Tausend klugen studentischen Augen: Möge wenigstens die Hälfte von ihnen im Land bleiben.

Ich gehe nicht von denen weg, die nicht aufgegeben haben. Die reifen, klüger und stärker werden. Von denjenigen, die von eigenen Fehlern lernen. Von denjenigen, die bereit sein werden, aber nicht denken, dass sie schon bereit sind, wenn der Ukraine die nächste Chance zufällt, eine andere zu werden. Ich möchte diesen Tag erreichen. Ich möchte daran teilhaben. Ich möchte schlussendlich mich darüber freuen, dass es gelungen ist.

Ich weiß, dass alle vortrefflich ohne mich auskommen werden. Doch ich gehe nicht weg. Ich kann dort niemanden lieben. An niemanden glauben. Mir für niemanden das Herz zerreißen. Soll es hier zerreißen.

19. August 2017 // Julija Mostowa, Chefredakteurin des Dserkalo Tyschnja / Serkalo Nedeli. Ihr Ehemann Anatolij Hryzenko war von 2005 — 2007 Verteidigungsminister.

Quelle: Dserkalo Tyschnja

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1209

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