Der Feind meines Feindes: Was einte Poroschenko und Putin gegen die Ukraine?


Bereits seit zweieinhalb Jahren regiert Präsident Wolodymyr Selenskyj. Das ist eine ausreichende Zeit, um zu überprüfen und sich davon zu überzeugen, was sich davon bewahrheitete und was nicht, was ihm die patriotische Öffentlichkeit zuschrieb und womit vertrauensselige Bürger verängstigt wurden. Und verängstigt wurden sie mit Putin und damit, dass wenn Poroschenko nicht noch einmal gewählt würde, dann würde Russland angreifen. Als ob die Ukraine sich zu dieser Zeit in einem Zustand stabilen Friedens mit der Russischen Föderation befunden und sich nicht gegen hinterhältige, hybride Attacken verteidigt hätte. Doch insoweit der alternative Kandidat zu Poroschenko triumphal den erfahrenen Staatsbaumeister besiegte, so bekam Selenskyj das meiste ab. Für die patriotische Gemeinschaft wurde er zur Verkörperung des größten Feindes, durch den die Ukraine sogleich die staatliche Unabhängigkeit zu verlieren drohte.

Zum Glück erwies sich die Propaganda gegen Selenskyj nur bei den treuen Anhängern von Petro Poroschenko als effektiver, die ehrlich an die reinen Absichten ihres politischen Idols und blind den absurdesten Vorwürfen an die Adresse Selenskyjs glaubten. Zum ernstesten dieser Vorwürfe wurde, dass er, sobald er Präsident der Ukraine geworden ist, unverzüglich gegenüber Putin kapituliert und das Land unter das Joch Russlands bringt. Dabei war die national-patriotische Elite fest von der Unvermeidbarkeit eines derartigen Szenarios überzeugt.

Genauso von der anderen Seite der politischen Flanke – vonseiten der Oppositionsplattform für das Leben, funktionierte die gleiche Technologie der Vorstellung Selenskyjs als prorussischem Projekt, das eins in eins mit den Leuten von Medwedtschuk-Bojko geht. Die ständig bei Putin „zu Gast“ waren und vom schnellen Zusammenbruch der von Washington protegierten Regierung schwadronierten. So gerieten Selenskyj und seine schnell zusammengezimmerte politische Kraft unter einen Schwall von Angriffen seitens Russlands, der Patrioten und der Oppositionsplattform.

Ja und für die Ukraine ergab sich keine bessere Situation. Einerseits wurde die Ukraine von einer oligarchischen Klicke regiert, die um nichts in der Welt ihren Monopolstatus verlieren wollte. Die keine wirklichen Reformen und die Integration des Staates in das westliche System zulassen konnte, da das dem Tod gleichkäme. Denn dieses System würde unter den Bedingungen einer europäischen Antikorruptions- und Antimonopolgesetzgebung und ebenfalls der Kontrolle und Transparenz von Finanzoperationen innerhalb kurzer Zeit seine Existenz einstellen. Und die Oligarchen selbst würden entweder ehrbare Geschäftsmänner werden oder ins Gefängnis umziehen.

Am wenigsten interessiert an dieser Perspektive war der Oligarchenpräsident Poroschenko. Wenngleich er auch die Ukraine in die EU integrieren wollte, so derart, dass das Clan- und Oligarchensystem, das er zu dieser Zeit anführen sollte, nirgendwohin verschwand. Eben damit kann man die ständigen Versuche der Sabotage verschiedenster Änderungen an der Antikorruptionsgesetzgebung der Ukraine erklären. Man sollte auch die politische und geschäftliche Biografie Poroschenkos nicht vergessen. Insofern er einer der Schöpfer dieses verderbten Systems war, einschließlich der Sozialdemokratischen Partei der Ukraine (vereinte), der Partei der Regionen und der schmutzigen Arbeit in den Regierungen der „Regionalen“. So stellt bis heute eine dunkle Seite seine Zusammenarbeit mit Russland dar. Die offene und die geheime.

Es wäre unfair in dieser Geschichte nur über die Figur Poroschenkos zu reden. Nicht weniger wichtig in diesem kleptokratischen System der Ukraine ist die Figur der politisch langlebigen Julija Tymoschenko. Bei der es sich nicht nur lohnt an das gemeinsam mit Lasarenko [Pawlo Lasarenko, ukrainischer Ministerpräsident von 1996-1997. A.d.Ü.] geschaffene „Gasgeschäft“ zu erinnern, sondern auch an den Knebelvertrag für die Ukraine mit Gasprom über zehn Jahre.[gemeint ist der Gasliefervertrag von 2009, A.d.Ü.] Dabei muss man sich unweigerlich daran erinnern, dass das Hauptwort beim Gasgeschäft bei den Russen blieb. Und das heißt, dass der Kreml Julija Wolodymyriwna [Tymoschenko] an das Heiligste des Heiligen ließ – an die Bereicherung aus der Gasmarge. Interessant ist, womit sie für diese Liebkosung zahlte?

Jedoch ist das eine Geschichte längst vergangener Tage. Julija Tymoschenko sitzt auch in unserer Zeit nicht untätig herum. Sie versuchte mit allen Kräften die Landreform und die Einführung eines freien Bodenmarktes in der Ukraine zu verhindern. Dabei begriff sie ausgezeichnet, dass ihre Position der Idee der Eurointegration der Ukraine komplett zuwiderläuft und keinerlei ernsthafte westliche Investitionen in die ukrainische Wirtschaft zulässt. Sie stoppte auch nicht vor der Erpressung der Regierung Selenskyjs, als diese Stimmen für den Staatshaushalt zusammenkratzen musste. Über Erpressung erreichte sie die Übergabe der Staatlichen Lebensmittel- und Getreidegesellschaft unter ihre Kontrolle und sie schwieg, als ihr Vertreter wegen Korruption und gigantischem Diebstahl festgenommen wurde.

Zu derartigen ukrainischen Politikern, wie Julija Tymoschenko, Petro Poroschenko und ihren Teams haben die Russen schon seit langem Tonnen an tödlichem kompromittierendem Material. Doch nicht nur darauf muss die Aufmerksamkeit gelenkt werden. Die genannten Politiker, aus dem sozusagen patriotischen Segment begreifen selbst sehr gut, dass es ihnen nicht mehr gelingt, ruhig davonzukommen. Dass das Wesen ihrer jetzigen politischen Tätigkeit auf den Kampf um ihre Existenz in Freiheit hinausläuft. Denn wenn in der Ukraine eine wirkliche Justizreform stattfände, dann müssten sie sich früher oder später verantworten. Und daher sind sie daran interessiert, dass Selenskyj scheitert. Dass ihm nichts gelingt. Ihnen ist es gleich, dass dieses Scheitern die Bürger der Ukraine schmerzhaft treffen wird. Egal, dass das nicht mehr nur eine tiefe Enttäuschung von der Ukraine seitens der westlichen Demokratien sein wird. Dass es das Land in Chaos stürzen und ihm auf Jahrzehnte eine Entwicklungsperspektive nehmen würde.

Daher organisierten sie Proteste während des Besuchs Selenskyjs in Paris zu den Verhandlungen im Normandie-Format.[Gemeint ist das Gipfeltreffen am 9. Dezember 2019 in Paris zwischen Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj unter Vermittlung von Angela Merkel und Emmanuel Macron. A.d.Ü.] Faktisch halfen sie Putin, dass er Witze über einen Aufstand gegen Selenskyj in Kyjiw reißen konnte und dass Selenskyj nirgendwohin zurückkehren könne. Der Generalstaatsanwalt aus der Poroschenko-Zeit und dessen politischer Mitstreiter, Jurij Luzenko, ging zu einer beispiellosen Zusammenarbeit mit [Rudy] Giuliani über, dabei versuchend sich bei Trump eine Unantastbarkeit herauszuhandeln. Er tat es auf Kosten der Ukraine, diese und nicht Russland dessen beschuldigend, dass sie sich angeblich in die amerikanischen Wahlen eingemischt hat. Damit der Ukraine einen Stolperdraht zwischen den Demokraten und den Republikanern in den USA stellend. Und als das nicht gelang und Biden gewann, stürzten sie sich darauf zu schreien, dass mit Selenskyj in den USA niemand reden möchte. Doch auch das misslang.

Danach gab es den zu nichts führenden Skandal mit den „Wagnerleuten“. Die Hoffnung, dass Amerika danach in der Ukraine keinen zuverlässigen Partner sieht. Die Besudelung der Ergebnisse des Besuchs von Selenskyj in den USA. Dabei einstimmig mit den schmutzigsten russischen Propagandisten. Und dazu den Versuch einer wirklichen Sabotage über die Initiative des Abgeordneten von Poroschenkos Europäischer Solidarität, Olexij Hontscharenko, der versuchte einen Appell der Werchowna Rada an den Kongress der USA über die Partnerschaft der Ukraine außerhalb der Nato [ähnlich wie Afghanistan, A.d.Ü.] durchzudrücken. Der zum Glück scheiterte und zur offensichtlichen Schande für die politische Kraft des fünften Präsidenten wurde. Es scheint so, als ob derartige persönliche Attacken auf Präsident Selenskyj unter dem Deckmantel der Kritik seitens der Opposition auch weiterhin wirkungslos enden werden. Seinerseits wird das zum schrittweisen Sinken der Popularität der politischen Kraft selbst führen. Und die Synchronität der Handlungen der ukrainischen Opposition und der russischen Propaganda verursacht ein kritisches Absinken der Unterstützung der Opposition durch die ukrainischen Wähler.

Es ist schwer zu sagen, ob Poroschenko und Tymoschenko irgendwie ihre Handlungen mit den Russen koordiniert haben. Doch den vorherigen geheimen Verbindungen nach zu urteilen, kann man das nicht ausschließen. Jedoch das für sie das Auftauchen des außersystemischen Selenskyjs auf der politischen Bühne schmerzhaft ist, ist offensichtlich. Poroschenko versucht um jeden Preis beinahe jedes Ansinnen Selenskyjs zu blockieren. Er attackiert seine inländischen und ausländischen Initiativen. Und wenn das nicht gelingt, dann versucht er über seine propagandistischen Medien die Bürger zu desinformieren, praktisch alles beschmutzend, was vom amtierenden Präsidenten ausgeht. Selenskyj wurde für ihn zum persönlichen Feind deswegen, weil er ihn aus dem Präsidentensessel stieß. Daher zielen all seine Handlungen nicht auf die Kontrolle der Regierungshandlungen ab, was als Funktion der Opposition vorgesehen ist, sondern darauf, dass er sich den höchsten Sessel zurückholt oder sich zumindest vor der Verantwortung für das während seiner Präsidentschaft verübte schützt.

Doch welches Interesse hat Russland daran, fragen Sie sich? Tatsächlich ist Russland äußerst daran interessiert, dass in der Ukraine das Clan- und Oligarchensystem weiter regiert. Das Fehlen von Änderungen und Reformen in der Ukraine ist eine Garantie dafür, dass sie auch weiterhin im Orbit Russlands bleibt. Keinen Beitritt der Ukraine zur Nato und keine intensive und partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den USA zulassen. Erfolge der Ukraine sind der endgültige Verlust der Kontrolle über sie durch Russland. Ein Vorwärtskommen der Ukraine über Reformen, wäre ein Beispiel zur Nachahmung für die Bürger Russlands. Und hier treffen die Interessen Putins, Poroschenkos und ihres Compagnons Medwedtschuk zusammen. Ziel und Natur der Interessen sind verschiedene. Der eine möchte die Ukraine nicht aus seinen Krallen lassen. Der andere wünscht ihr nichts Gutes, wenn er nicht ihr Präsident ist. Poroschenko und Putin sehen Selenskyj als Feind und Bedrohung an und der Feind meines Feindes ist mein Verbündeter.

Daher sehen wir eine gemeinsame schmutzige Hetzkampagne gegen den ukrainischen Präsidenten seitens der russischen Regierung und der von ihr kontrollierten Medien zusammen mit der ukrainischen Opposition. Gleich, wie sie sich nennt: patriotisch oder die Interessen der Großwirtschaft (Oligarchen) verteidigend oder dazu aufrufend freundschaftliche Beziehungen zum Aggressorland herzustellen. Ihre Interessen befinden sich auf einer anderen Ebene, wo das wichtigste ihre Macht und ihr Kapital sind.

Daher werden die Patrioten, wenn sie sogar jetzt den politischen Kurs der Ukraine nicht unterstützen wollen, sich vor allem selbst zu Marginalisierung und Vergessen verurteilen. Auf ihre Art wird es niemals mehr werden. Und im Fall einer erfolgreichen Entwicklung der Dinge in der Ukraine werden sie sich im besten Falle wegducken und im schlechtesten sich vor der Gesellschaft verantworten müssen. Es ist die Zeit gekommen, die politischen Methusalems in Rente zu schicken. Doch sie nicht einfach ziehen lassen, um das Leben in den iberischen Villen zu genießen, die sie für gestohlenes Geld gekauft haben. Sie ziehen lassen und dabei ihre Beziehungen zu den Rechtsschutzorganen zu intensivieren, die in ruhiger Atmosphäre die Knäuelchen ihres Geschäftserfolgs zurück bis zum Jahr 1990 auseinandernehmen sollten. Denn das unbestrafte Böse ist sehr lebendig.

Und zum Abschluss. Unter den derzeitigen politischen Umständen braucht die ukrainische Gesellschaft wirklich eine echte Opposition. Keine prorussische und keine oligarchische. Und keine pseudopatriotische, die sich auf die persönliche Abneigung Poroschenkos gegen Selenskyj stützt.

10. September 2021 // Wassyl Rassewytsch

Quelle: Zaxid.net

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1700

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