Keine Illusionen. Warum der „Oppositionsblock“ in die Werchowna Rada einzieht



Während man in der Zentralen Wahlkommission (ZWK) die Auszählungen beendet, versuchen die Ukrainer die unangenehme Nachricht zu verdauen. Der Oppositionsblock ist nicht einfach nur in die Werchowna Rada eingezogen, sondern stellte sich in einigen Oblasten sogar als der Hauptsympathieträger heraus. Und das nicht nur in den Oblasten von Donezk und Luhansk, sondern auch in den Oblasten von Charkiw, Dnipropetrowsk und Saporishshja. Nach Angaben von nationalen und internationalen Wahlumfragen sammelte die unerwünschte „Opposition“ auch noch so viele Stimmen – ein bisschen weniger als 8 Prozent. In der ZWK dagegen nennt man eine noch höhere Ziffer: Der Oppositionsblock nimmt den vierten Platz nach der Volksfront (Narodnyj Front), dem Block von Petro Poroschenko und der Selbsthilfe (Samopomitsch) ein.

„Das waren Fälschungen!“, rechtfertigen Optimisten diese Wähler. Natürlich, diese Variante ist nicht ausgeschlossen, besonders nicht in der frontnahen Zone, wo bis jetzt Gesetzlichkeit und Ordnung noch nicht wiederhergestellt sind. Zum Beispiel wurde in Slowjansk im Vorfeld der Wahlen die Wahlkreiskommission eingenommen oder im Wahlkreis Rubishnyj wurden leere Stimmzettel aus dem Büro eines Kandidaten beschlagnahmt usw. Bis jetzt befinden sich einige Wahlkreise teilweise in okkupiertem Gebiet, wo beliebige Machenschaften möglich sind. Von Wählerstimmenkauf und anderen für die Ukraine traditionellen Dingen ganz zu schweigen. Währenddessen wählten, nach den letzten Daten der ZWK, fast anderthalb Millionen Mitbürger den Oppositionsblock. So viel zu fälschen gelang nicht einmal in Zeiten der vollständigen Macht Janukowytschs. Doch das Problem sind nicht nur die Machenschaften.

Noch im Sommer verbreitete sich in der Gesellschaft der Gedanke, dass der Krieg die Ukrainer vereinte. Dnipropetrowsk wurde zur östlichen „Banderstadt“ (Bezug auf Stepan Bandera, A.d.Ü.), Mariupol zur ukrainischen Bastion im Donbass, und Odessa und Charkiw widerriefen schließlich ihre prorussischen Sentiments. Betrachtet man die puren Fakten, ähnelt das der Wahrheit. So oder so, der „russische Frühling“ ist vorbei. Sogar Lenin wurde in Charkiw abgerissen zum Übel für Kernes (Hennadij A. Kernes; Bürgermeister von Charkiw, A.d.Ü.). Hier ist er – der ruhmreiche Sieg der Ukraine! Aber aus irgendeinem Grund haben in Mariupol über 50 Prozent der Wähler, im Charkiwer Raum über 30 Prozent und im Dnipropetrowsker Raum fast 25 Prozent für den Oppositionsblock abgestimmt. Und in der Oblast Odessa gewannen die Ex-Regionalen (ehemalige Mitglieder der Partei der Regionen A.d.Ü) fünf von elf Wahlkreisen.

Diese Werte sind nicht angenehm, aber keineswegs absurd. Absurd ist höchstens der Glaube der Ukrainer an den magischen Einfluss des Krieges. Es ist unbestreitbar, der Krieg brachte tektonische Veränderungen – aber man sollte sie nicht überbewerten. Es ist verlockend zu denken, dass der Separatismus den Raum Dnipropetrowsk ausgelassen hat, denn die dortigen Einwohner wurden wie neu geboren und zu aufrichtigen Patrioten. Und wirklich stimmten dort ungewöhnlich viele Leute für proukrainische Parteien. Für den Block von Petro Poroschenko, die Volksfront, die Selbsthilfe und die Radikale Partei von Oleh Ljaschko gaben fast 580.000 Wähler ihre Stimmen ab. Aber wohin mit den 400.000 Stimmen, die für den Oppositionsblock, die Starke Ukraine (Sylna Ukrajina) und die KPU (Kommunistische Partei der Ukraine) abgegeben wurden?

Die Wahrheit liegt darin, dass im Frühling im Süden und Osten Ausnahmezustand herrschte – der Sieg der Ukraine war dort ganz und gar nicht garantiert. Dieser patriotischen Bekehrung des Dnipropetrowsker Raums haben wir zu danken, nicht der so wunderbaren Wiedergeburt seiner Bewohner, sowie den Fähigkeiten des Teams von Kolomojskyj (Ihor W. Kolomojskyj; Verwaltungsoberhaupt des Dnipropetrowsker Oblast, A.d.Ü.). Und wenn er nicht seine Einflussmöglichkeiten auf Kernes gefunden hätte, wer weiß, ob dann nicht Charkiw Hauptstadt einer weiteren „Volksrepublik“ geworden wäre. Und keiner weiß, unter welchen Flaggen in Mariupol demonstriert würde, wenn es nicht mit ukrainischem Militär überhäuft worden wäre.

„Aber warum wurden die Regionalen in den frontnahen Gebieten des Donbass gewählt – sie haben doch den Krieg dorthin gebracht!“, wundern sich die Ukrainer. Über Undankbarkeit und Stumpfsinn der „Luhandoner“ (Luhandon ist eine verächtliche Bezeichnung für die Separatistenrepubliken von Luhansk und Donezk, A.d.Ü.) zu philosophieren ist angenehm, denn diese Beschäftigung steigert den Selbstwert. Allerdings lohnt es nicht sich Illusionen hinzugeben. Im Laufe der letzten Monate führte die Aufklärungsarbeit mit der dortigen Bevölkerung hauptsächlich zu nervigen Beschimpfungen der von Kyjiw aus geleiteten Führungskräfte. Die Folgen der jahrelangen Propaganda von Kreml und „Regionalen“ korrigiert man nicht mit solchen „Alphabetisierungskampagnen“. Deswegen stehen sie den ukrainischen politischen Kräften auch jetzt noch mit Vorsicht gegenüber, während sie sich nach den Zeiten vor dem Majdan sehnen. Und wer genau den Krieg auf ihren Hof gebracht hat, ist für sie nicht so offensichtlich wie für uns.

Auch lohnt es sich nicht, sich selbst mit patriotischen Aktionen in frontnahen Städten zu betrügen. Eine Demonstration unter gelb-blauer Fahne in Mariupol – das ist ein wunderbares und rührendes Schaubild. Aber anhand einiger Tausend Demonstranten über die Stimmung einer fast eine halbe Million Einwohner zählenden Stadt zu urteilen, ist kaum möglich. Das prorussisch ausgerichtete Element sank in Mariupol, Slowjansk und anderen Städten auf den Grund, ging aber nicht verloren. Sie sind nicht darauf erpicht, ihre Überzeugungen öffentlich zu demonstrieren, doch in der Kabine des Wahllokals ist es ganz einfach. Eine tatsächliche Demokratie sieht die Möglichkeit vor, auch eine antidemokratische Partei zu wählen, auch wenn das unsinnig erscheint. Umso mehr, als der Oppositionsblock, nebst allen Versprechen der neuen Regierung, bei den Wahlen gelandet ist und nicht vor Gericht.

Auf eine schnelle Bekehrung des Südens und des Ostens zu hoffen lohnt nicht. Nicht einmal meisterhafte Propaganda und die Schocktherapie des Krieges sind fähig, in wenigen Monaten das Bewusstsein von Millionen Menschen umzuprogrammieren. Die Galizier lebten vier Jahrzehnte im sowjetischen Staat, während sie in der Hosentasche heimlich die Finger gekreuzt hielten. Sie gingen zu Demonstrationen unter roten Flaggen, traten in die Partei ein und in den Komsomol (Lenin’scher kommunistischer Jugendverband, A.d.Ü.) – nach außen waren sie gewöhnliche sowjetische Bürger. Kaum war jedoch die UdSSR zerfallen, ergriff Galizien eine Welle der „Entsowjetisierung“, als ob es diese vierzig Jahre nie gegeben hätte. Etwas Ähnliches geschieht offensichtlich gerade jetzt auf jener Uferseite des Dnipro. Die Anzahl der aufrichtigen Patrioten ist tatsächlich gestiegen und die politische Situation wendete sich zum Nutzen für die Ukraine, auch wenn prorussische Stimmungen dennoch weit verbreitet sind.

Wenn man sich keine Illusionen macht, ist der Durchmarsch des Oppositionsblocks eigentlich kein sonderlich großes Unglück, geschweige denn eine Katastrophe. Verglichen mit den Wahlergebnissen von 2012 haben die prorussischen Kräfte einen erheblichen Teil Sympathien verloren, sogar in ihren Basisregionen. Die national-demokratischen Politiker haben sich mehr als zehn Jahre erfolglos einen Weg gen Osten gebahnt, doch nun haben sie auch dort ziemlich spürbare Unterstützung erhalten. Selbst für die eindeutig galizische Selbsthilfe stimmten dort 10.000 Menschen. Das heißt, wenn Kyjiw sich daran macht, diese Regionen zu beherrschen, hat es bereits eine Gruppe lokaler Befürworter zu seiner Verfügung.

Was die Perspektiven des Oppositionsblocks angeht, so erscheinen sie eher zweifelhaft. Während sie kein ernsthaftes Gewicht in der Werchowna Rada haben, riskieren die Ex-Regionalen, zu Prügelknaben zu werden – und das im wortwörtlichen Sinne. Vor ihnen liegen vier Jahre (eigentlich fünf Jahre, A.d.R.) der Kraftlosigkeit und öffentlicher Demütigungen. Auf jeden Fall werden die proukrainischen Abgeordneten alle Möglichkeiten haben, dem Oppositionsblock ein fröhliches Leben zu bereiten. Und wir sehen mit Vergnügen dabei zu.

29. Oktober 2014 // Anatolij Rubljow

Quelle: Zaxid.net

Übersetzerin:   Annegret Becker  — Wörter: 1176

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