Ohrfeigen für Selenskyj


Sind sie in der Lage, den Präsidenten wieder nüchtern zu machen und zu entscheidenden Veränderungen zu bewegen?

Die wiederholte Niederlage bei der Ernennung von Jurij Witrenko zum Energieminister [Ex-Manager von Naftohas Ukrajini, derzeit geschäftsführender Energieminister. Zweimal scheiterte die Abstimmung zu seiner Ernennung als Energieminister und Vizeregierungschef. A.d.R.] ist nicht nur eine öffentliche Ohrfeige für Selenskyj vonseiten der Oligarchen, sondern demonstriert auch eine gewisse Stärke des Systems. Währenddessen positionieren sich diejenigen, derentwegen dieser Kampf stattfindet, im besten Falle als Beobachter am Rand, die mit dem schmutzigen Gezänk da oben nichts zu tun haben. Andere ähneln eher einem aufgeheizten Publikum auf den Tribünen des Kolosseums, wo Gladiatorenkämpfe stattfinden oder die ersten Christen an Löwen verfüttert werden. Als ob sie nicht sehen würden, dass es um ihre Zukunft geht. Und jede Ohrfeige für den Präsidenten ruft mit der Zeit nicht nur eine reale Verarmung hervor, sondern auch Hoffnungslosigkeit, im Hinblick auf ein würdiges Leben ihrer Kinder.

Es entsteht der Eindruck, dass nicht nur die Oligarchen, sondern auch die Bürger selbst dem Aufbau einer Ordnung und der Einführung einer Vorrangstellung von Gesetzen entgegenarbeiten. Dass auch gewöhnliche Bürger Widerstand gegen Reformen leisten und die Wirtschaft nicht aus dem Schatten herausholen wollen. Denn dann müssten sich alle an das Gesetz halten: Steuern zahlen, von Verdientem leben und sich auf der Karriereleiter nicht dank familiärer Verbindungen weiterbewegen, sondern entsprechend erworbener Kenntnisse und Qualifikationen. All das mündet in einem Alles-oder-Nichts-Spiel. Man muss vollkommen unklug sein, um nicht zu verstehen, dass der winzige, leicht verbrecherische „Erfolg“ einzelner Bauern-Figuren für die Eröffnung nötig ist, um das große Stehlen zu rechtfertigen. Dass selbst eine im Stillen geklaute Kleinigkeit sie für immer an die Verbrecherseite bindet und sie zwingt, nach den Regeln der Verbrecherbande zu spielen.

Obwohl es schon Sonderlinge gibt. Das sind in erster Linie diejenigen, die sich dank ihres Intellekts und ihrer Qualifikationen in irgendeinem fortschrittlichen Land in der Welt selbst verwirklichen können. Sie können Kapital für Start-Ups erwirtschaften oder verdienen es dank Manager-Talent. Und auf wundersame Weise (deshalb rufen sie Erstaunen hervor) haben sie kein Interesse daran, stumpfsinnig in der Ukraine zu stehlen und das Gestohlene außer Landes in Sicherheit zu bringen. Diese Individuen sind für das System am gefährlichsten. Denn sie sind fast unverletzbar. Sie haben keine Achilles-Ferse in Gestalt korrupter Verbindungen, sie kann man nicht mit Akten voller kompromittierendem Material drankriegen. Bei ihnen wirkt das Prinzip nicht, das Kutschma noch eingeführt hat: kein kompromittierendes Material – keine Karriere. Kutschma war ein reichlich effektiver Herrscher, auch dank der Akten mit penibel gesammelten Belastungsbeweisen.

Sobald in unserer Zeit Spieler außerhalb des Systems erscheinen, versucht das System sie umgehend öffentlich zu vernichten. Damit sie kein Beispiel zum Nachfolgen abgeben. Man muss sie nicht physisch vernichten, vielmehr moralisch erniedrigen. Damit niemand auch nur in diese Richtung schauen möchte. Im Fall von Jurij Witrenko hieß das zum Beispiel, ihm zweimal Misstrauen in der Werchowna Rada auszusprechen. Ihn dem einen oder dem anderen oligarchischen Lager zuzuschreiben. Frühere Verdienste zu entwerten. Als ob sie damit allein ein Signal an alle jungen Patrioten senden: Man darf sich nicht mit der Ukraine verbünden. Besser ist es, sie zu verraten, eine geheime Absprache mit Gasprom einzugehen, Millionen Dollar zu nehmen und ruhig ein sattes Leben in warmen Gegenden zu genießen.

Für die Ukrainer ist es irgendwie bedeutungslos, dass die medialen Lakaien der Oligarchen den nächsten Witrenko „entthronen“. Dass die ominösesten prorussischen Kräfte im Parlament gegen ihn losgehen. Dass nicht einmal die pseudo-liberale Holos [dt.: Stimme; A.d.Ü.] und die quasi patriotische PES [Partei Europäische Solidarität, Wahlverein von Ex-Präsident Petro Poroschenko, A.d.R.] dafür stimmen, dass die Ukraine eine Chance bekommt, sich aus der oligarchischen Schlinge zu ziehen. Die einen unter dem Vorwand, dass sie eine schreckliche Opposition seien und in Personalfragen generell nicht abstimmen. Folgt daraus, dass die Republikanische Partei in den USA, wenn sie Kandidaten aus der Demokratischen Partei an die Macht wählt, nicht oppositionell genug ist? Dass die ausdruckslose „Stimme“ die prinzipientreueste auf dem Planeten ist und ihre Position nicht verändert, selbst wenn eine tödliche Bedrohung über der Ukraine schwebt. Es ist nur interessant, wer diese „prinzipientreue“ Position der Partei definiert, deren Stimme sich ferner eher in ein Piepsen verwandelt.

Die anderen also, PES, leben nach dem Prinzip „je schlechter, desto besser“. Hauptsache, Selenskyj gelingt nichts. Für sie ist das wichtigste, dass die Ohrfeigen für Selenskyj maximal laut schallen und quälen. Die Aktivisten dieser politischen Gruppierung haben schon vergessen, dass sie vor noch gar nicht allzu langer Zeit Selenskyj beschuldigt haben, er sei eine Marionette des Oligarchen [Ihor] Kolomojskyj. Und jetzt, da Selenskyj einen unversöhnlichen Kampf mit ebenjenem Kolomojskyj demonstriert und versucht, sich dank Witrenko zu stärken, reiben sich diese „Staatsleute“ zusammen mit Medwedtschuk [führende Figur der prorussischen Oppositionsplattform, A.d.R.] die Hände und freuen sich, dass der Präsident nichts zustande kriegt. Das Prinzip ist bekannt: Ohne uns zumindest in den Abgrund.

Man kann diese Aktivisten noch verstehen. Selenskyj ist ihr größter Feind. Denn er gewann, enthob sie der Macht und erniedrigte sogar sein Geschlecht. Am schwersten ist es allerdings, die ukrainische Gesellschaft zu verstehen. Sie hat sich in mehrere Kategorien und Gruppen zerschlagen, die sich so benehmen, als ob die Ukraine über unerschöpfliche Lebensressourcen verfügt. Als ginge es nicht um die Realität, sondern um eine Art virtuelles Computerspiel. Als hätten die Mitspieler je zehn Leben und wenn man verliert, kann alles von vorn losgehen. Diese Vorstellung ist der am weitesten verbreitete Fehler, denn das System weiß, dass es nur wenige hochklassige Spezialisten gibt, die fähig wären, gegen es anzukämpfen. Deshalb erzeugt es auch mit Hilfe seiner medialen Ressourcen den Eindruck, dass es keine unersetzbaren Menschen gibt. Sodass, wenn Selenskyj scheitert, als Ersatz für ihn qualifiziertere und kompetentere Politiker und Regierungsbeamte kommen werden. Und das nur zum Nutzen der Ukraine. Ja, zum Nutzen der oligarchischen Ukraine.

In der Oligarchen-Küche wurden nicht erst einmal leicht verdauliche Speisen für die breite Masse zubereitet. Erinnert man sich an verschiedene Wahlzusammenstellungen, sieht man, wie die jetzige politische Elite jedes Mal nicht nur die deklarierten Ideale verraten hat, sondern in erster Linie – „die Ukraine rettend“ – ihre Wähler. Und jedes Mal war es keine Politik, sondern eine Technologie des Wählerbetrugs. Erinnern wir uns, wie leicht es den Regierungsbonzen fiel, nahe Bürger zu „spalten“ über der Rhetorik des „Kommunisten“ Symonenko. Denken wir an Olexandr Moros und seine sozialistischen „Küken“, nach dem Vorbild von Jurij Luzenko. An die „Kaniwer Vier“ [Oppositionsbündnis 1999, A.d.R.], die Sozialdemokratische Partei (vereinigte) [früherer Wahlverein von Medwedtschuk, A.d.R.] – die Mutter buchstäblich aller politischen Kehrtwenden. Denken wir an Asarow [gemeint ist Ex-Ministerpräsident Mykola Asarow, A.d.R.] im orangenen Schal auf der Bühne des Majdan. Gedenken wir der Worte, die Olexandr Sintschenko vor seinem Tod über Petro Poroschenko sprach. Denjenigen, der die guten Absichten des Präsidenten Juschtschenko faktisch zunichtemachte und das System Kutschma wiederbelebte. Erinnern wir uns an die Segnung von Firtasch, dem Interessenvertreter Putins in der Ukraine, zur Verteidigung des fünften Präsidenten des Systems.

Jedes Mal wand sich das System heraus und wickelte die ukrainischen Bürger leicht um den Finger. Mit der Wahl von Selenskyj, der von außerhalb des Systems kam, entstand eine kleine Hoffnung: dass es endlich gelingt, die sich gegenseitig ernährenden Oligarchen zurückzudrängen. Am Anfang noch Kolomojskyjs Informationen und – leider – auch seine personelle Hilfe zu nutzen, um dann, sich dem Oligarchen [Rinat] Achmetow widersetzend, mit ersterem fertig zu werden. Als nächstes sollte die Reihe an Achmetow selbst kommen. Doch dieser Plan war nur unter der Bedingung des ständigen Kontakts zwischen dem Präsidenten und seinen Wählern möglich. Ohne etwas zu verdecken, aber Fehler zuzugeben und die Ursachen von Misserfolgen zu erklären. Denn die Kraft von Selenskyj bestand in seiner massenhaften Unterstützung.

Die Arbeit nach dem Prinzip „wartet nur, ihr werdet noch staunen“ hat mit uns nichts mehr zu tun. Niemand hat einen detaillierten Plan für den Kampf gegen das System gefordert. Es wäre nicht nötig gewesen, taktische und strategische Überlegungen preiszugeben. Doch es wäre notwendig gewesen, für die misslungenen Personalentscheidungen Verantwortung zu tragen, genauso für diejenigen, die er ins Parlament und generell in die Regierung gebracht hat. Indem er die aus den eigenen Reihen verteidigte, sank Selenskyj leider immer tiefer in den Sumpf aus oligarchischen Intrigen. Ihn quälte der Personalhunger. Allerdings öffnete er sich auch so nicht für den Zulauf von frischem Blut. Und seine ehrlichen Schritte gaben die oligarchischen Medien einfach als Unentschlossenheit, Schwäche und Angst aus.

Der Versuch, keinen Schmutz auf andere zu werfen, zum Beispiel nach dem offensichtlichen Verrat von [Parlamentschef Dmytro] Rasumkow, führte allmählich zum Verlust seines Einflusses auf die eigene Fraktion. Der Wunsch, nicht öffentlich zuzugeben, dass es in der Werchowna Rada von Kolomojskyj, Achmetow und [Innenminister Arsen] Awakow gekaufte Abgeordnetengruppen gibt, führte dazu, dass ihn das Parlament ein ums andere Mal ins Gesicht schlug und ihn den Leuten als willenlosen Pechvogel vorführte.

Zu alledem ist die Situation äußerst gefährlich, wenn ganze Zweige der staatlichen Verwaltung in privaten Händen liegen und nicht vom Staat kontrolliert werden. Der einzige Ausweg aus dieser Falle könnte sein, zwecks Unterstützung an seine Wähler zu appellieren und zur Überwindung der Angst vor dem Widerstand gegen die „zeitlosen“ Kader aufzurufen.

Die Politik der neuen US-Regierung könnte eine verlässliche Unterstützung für Selenskyj werden. Zumindest, sofern das Herz der ukrainischen Oligarchen und ihrer Bediensteten in den Händen der Finanzaufsicht des amerikanischen Finanzministeriums liegt. Aber auch diese Hilfe sollte man nicht vergeuden. Denn wenn Selenskyj in dieser Richtung genauso schlaff handelt wie in dem Fall, als er den Abgeordneten Dubinskyj [gemeint ist der Abgeordnete und Ex-Journalist Olexandr Dubinskyj, gegen den die USA wegen angeblicher Einmischung in die US-Wahlen Sanktionen erlassen haben und der daraufhin aus der Fraktion geworfen wurde. A.d.R.] aus der Fraktion ausschloss, dann ist die Hoffnung auf einen Sieg gering.

Ich hoffe, dass die erhaltenen Ohrfeigen den Präsidenten Selenskyj wieder nüchtern machen und ihn zu entscheidenden Veränderungen bewegen. Denn es wäre unter keinen Umständen wünschenswert, dass dem System die Wiederholung des Experiments mit der Kröte gelingt, die gekocht wurde, indem man die Wassertemperatur nur allmählich bis zum Siedepunkt erhöhte.

29. Januar 2020 // Wassyl Rassewytsch

Quelle: Zaxid.net

Übersetzerin:   Annegret Becker  — Wörter: 1673

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