Posttotalitärer Tunnel
Ich war sicher, dass sich in meinem Land vieles zum Besseren wendet, wenn vor allem zwei Berufsgruppen zum Hauptaugenmerk der neuen Regierung und der ukrainischen Gesellschaft werden: die Lehrer und die Juristen. Eben sie und die nicht Physiker, Ärzte, Agronomen oder Ingenieure. Die plötzlich zerfallende totalitäre UdSSR erlaubte uns, die schwächsten Stellen unseres staatlichen und gesellschaftlichen Lebens selbstständig auszumachen. Freiheit und Demokratie, die sozusagen vom Himmel gefallen waren, sollten keimen und zum Fundament ebensolcher Systeme werden. Kompetente und von den strengen Schemata der „wissenschaftlichen sowjetischen Pädagogik“ freie Lehrer würden die Bürger eines zivilisierten europäischen Landes ausbilden. Juristen, die zeitgenössische Rechtsvorstellungen erhalten sollten, würden das Parlament und die juristischen Fakultäten ausfüllen und letztlich einen Rechtsstaat formen.
Es hat nicht geklappt. Wir wollten das nicht. Verschiedene gesellschaftliche Tribünen und Fernsehkanäle wurden mit Politologen ausgefüllt, schlecht ausgebildete Vertreter des umgangssprachlichen marxistisch-leninistischen Genres schmiedeten sich augenblicklich zu Kommentatoren der Demokratie. Die Universitäten, Fachinstitute und sogar Fachschulen lieferten sich einen Wettkampf im Eröffnen von Politologie-Instituten. So war es. Doch ich, der ich das alles beobachte, träumte weiterhin meinen Traum von Lehrern und Juristen. Und das in einer Zeit, als kleine Kinder den Erwachsenen erzählten, dass sie Prostituierte und verwegene Banditen werden wollten.
Manchmal schien mir: meinem Land, dem neuen Staat wird die Stunde der Erleuchtung kommen! Ich freute mich aufrichtig, als in Kiew die Ukrainische Rechtsstiftung gegründet wurde (gemeint ist die mit finanzieller Unterstützung von George Soros 1992 gegründete gemeinnützige Stiftung – A.d.Ü.). Schon nach kurzer Zeit würden unsere Universitätsbibliotheken die besten Ausgaben der zeitgenössischen Rechtsliteratur in Übersetzung erhalten, nicht in marxistischer Darstellung, sondern auf echter Rechtstheorie basierend, Texte zur Rechtsphilosophie, zur juristischen Ethik, Rechtsgeschichte, Bioethik etc. Ich wusste: es gibt diese Bücher, diese Texte. Ihre Autoren sind bereit, in die Ukraine zu kommen, Vorlesungen zu halten, sich mit unseren Studierenden zu unterhalten, unseren Professoren zu helfen, die nie Zugang zum weltweit verbreiteten System der Rechtswissenschaften bekommen hatten. Es war mir ein großes Anliegen, in einem Rechtsstaat zu leben, das bekenne ich.
Die Ukrainische Rechtsstiftung entpuppte sich als Seifenblase, die die Millionen des Wohltäters George Soros ohne jeglichen Nutzen verschlang. Vom persönlichen Nutzen der Teilnehmer des Gelages natürlich ganz abgesehen. Niemand wurde bestraft, diejenigen, die an der Affäre teilhatten und heute noch leben, erinnern nie an ihren Misserfolg. Ich möchte nicht verbergen, dass mich das damals sehr schmerzte, physisch schmerzte. Während ich Gelder ausländischer Geldgeber für Übersetzungen dutzender Fachbücher zur Psychologie und Psychiatrie ins Russisch und Ukrainische ausgab, beging ich eine schwere Sünde: ich verwendete Gelder, die für Ausgaben aus dem Bereich der Psychiatrie bestimmt waren teilweise für die Übersetzung und die Herausgabe von Büchern zur Rechtsthematik. Ich riskierte. Die Stiftungen, die unter meiner Verantwortung spezielle Zuwendungen gewährten, hätten mich durchaus der Vertragsverletzung beschuldigen und bestrafen können. Sie straften nicht, sie taten, als bemerkten sie nichts. Und ich fuhr mit meinem Fahrer im vor Altersschwäche auseinanderfallenden Auto die juristische Klassik aus, vergab sie an Bibliotheken, Universitäten, versendete sie mit der Post… Woher nahm ich das Geld dafür? Ja, ebenfalls aus den speziell psychiatrischen Zuwendungen.
Da verstand ich: „meine“ Bücher stören die normale Physiologie der Ausbildung ukrainischer Juristen. Sie sind falsch, gefährlich, bilden bei den Studierenden „abstrakte Vorstellungen über das Recht“ heraus. Doch voller Naivität fuhr ich fort, das Vernünftige, Gute, Ewige zu säen… Es kam soweit, dass ich eines Tages dem Leiter der Steuerbehörde Nikolaj Asarow hunderte Exemplare des großartigen Zweibänders „Internationales Öffentliches Recht“ in Übersetzung aus dem Französischen für seine Steuerakademie brachte. Stellen Sie sich vor, Asarow und Melnik (dem Rektor dieser Akademie)!
Aber im ukrainischen Parlament wurden weiterhin keine Bücher gelesen. Obwohl ich ihre Bibliothek mit meinen Ausgaben gefüllt hatte. Die Abgeordneten nahmen ihr Grundwissen und ihre Vorstellungen aus den Zeitungen und aus teuren Illustrierten.
Heute lebe ich einfacher. Ausländische Geldgeber geben keine Zuwendungen mehr für die Herausgabe von wissenschaftlicher Literatur und Lehrwerken. Und unsere ukrainischen geben nach wie vor keine. In den Jahren der Regierungszeit von Wiktor Juschtschenko und seinen hochpatriotischen Freunden, erkannte ich als ganz und gar nicht mehr junger Bürger, dass es unehrliche Leute, die Haushalts- und andere Gelder stehlen, nicht nur in den Reihen der Kommunisten, der Regionalen (hier ist die Partei der Regionen von Wiktor Janukowitsch gemeint A.d.Ü.) und anderen christlichen Demokraten gibt, sondern auch unter den neuukrainischen Nationaldemokraten. Nachdem mir das bewusst geworden war, hörte ich auf, mich mit Bitten um die Finanzierung von Übersetzungen der besten Exemplare der Rechtsliteratur ins Ukrainische an sie zu wenden. Diese Lehren von Juschtschtschenko & Co habe ich bestimmt und für immer gelernt. Genau deshalb verstehe ich nicht, warum nur diejenigen, „die Mittäter des verbrecherischen Regimes Janukowitschs waren“, auf den Scheiterhaufen der Lustration auf Ukrainisch gebracht werden sollen. Als ob die uralte Institution der Korruption in der Ukraine unter Kutschma und Juschtschenko nicht tätig gewesen sei. Wie sie das auch jetzt tut, indem sie intensiv und effektiv Budgetgelder und ausländische Darlehen zum Wohl der englischen, der Schweizer und der amerikanischen Schulen und Universitäten „zersägt“, wo die Kinder unserer hochpositionierten „Säger“ (so wird auf Russisch auch eine bestimmte Insektenart genannt A.d.Ü.) die Lebensfertigkeiten einer zivilisierten Gesellschaft erwerben.
Was steht an? Wahlen. Wo aus vieler Art Plagen die kleinste gefunden werden und das Ungeziefer mit der eigenen Stimme d.h. mit dem Wahlzettel beglückt werden muss, um die Reihen der ukrainischen Gesetzgeber aufzufrischen. Wo die junge anrüchige Schöpfung Jegor Sobolew die Chance hat, den anrüchigen Politiker Sergej Kiwalow abzulösen. Ich versichere Ihnen, meine Damen und Herren, das Rechtsbewusstsein unserer gesetzgeberischen Versammlung wird durch dieses revolutionäre Ereignis nicht verändert werden. Ach, lange, sehr lange muss man in der Ukraine leben, um das Licht des europäischen Bewusstseins am Ende unseres posttotalitären Tunnels zu erblicken. Doch, um lange zu leben, ist Morgengymnastik unerlässlich. Zu sowjetischer Zeit war das leichter, weil das Radio morgens dazu motivierte… Jetzt, in den Jahren des antisowjetischen Sportindividualismus ist das Sache des Individuums, nicht des Kollektivs. Schlecht und passiv machten wir in den Jahren der UdSSR unsere Gymnastikübungen und bekamen so den heiß ersehnten Sieg des Kommunismus nicht zu Gesicht. Lassen Sie uns wenigstens diese Chance nutzen, lassen Sie uns den vollen und unerschütterlichen Sieg des europäischen Sozialismus in unserem Land erleben. Also, es lebe der Sport!
13. Oktober 2014 // Semjon Glusman – Arzt, Mitglied des Kollegiums des Staatlichen Dienstes für Strafvollzug der Ukraine
Quelle: Lewyj Bereg