Privatisierung oder Konfiszierung?
Zufällig ist mir ein Artikel in die Hände gefallen, der einen reizvollen Titel trägt: „Diebstahl als nationale Tradition“. In diesem Artikel ging es darum, wie die Regierung von Monaco mithilfe von zwei-drei Gesetzen den ureigenen Drang zum Diebstahl deutlich vermindern konnten und das miserable Fleckchen Küste sich wie durch Zauberhand in eine wirtschaftlich aufblühende Region mit politischer Freiheit und persönlicher Sicherheit seiner Bewohner entwickelte.
So entstand eine neue Tradition: Die Verwandlung düsterer Vergangenheit in lichte Zukunft. Im Laufe der Zeit wurde diese Tradition als „westliche Rechtstradition“ bezeichnet.
Vor diesem Hintergrund erscheint die nationale ukrainische Tradition – die erstmals in tollkühnen Kosaken Gestalt annahm, die in der Steppe umherirrenden Einzelgängern ihr Eigentum abnahmen – als starker Kontrast.
Daraufhin nahm diese Tradition im ganzen Volk Gestalt an, das unter der nachdrücklichen Losung „Stehle das Gestohlene!“ ohne mit der Wimper zu zucken ganze soziale Schichten ihres Eigentums beraubte.
Ihren Höhepunkt erreichte diese Tradition in der Gestalt ganzer sozialer Schichten, die unter dem Schutz der Losung über die Rechte einer Nation auf Selbstbestimmung, mit Bedacht ein ganzes Volk seines Eigentums beraubten.
Auf den ersten Blick ist das ein Paradox. Doch lassen wir uns Zeit mit den Schlussfolgerungen. Nicht zufällig sagte der geniale deutsche Philosoph Georg Friedrich Hegel: „Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig“ (In: Grundlinien der Philosophie des Rechts).
Für das ukrainische Volk hatte alles in der Tat sehr vernünftig begonnen. Doch für das ukrainische Volk endete auch alles so, wie es immer endet. Darüber wird man sich schnell bewusst, wenn man einen Blick in die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine vom 16. Juli 1990 wirft. In Artikel 6 erfahren wir beispielsweise, dass „das ukrainische Volk das alleinige Recht auf Eigentum, Nutzung und Verwaltung des nationalen Reichtums der Ukraine [hat]. Das Land, sein Inneres, der Luftraum, Wasser- und andere Ressourcen, die sich innerhalb der Grenzen der Ukrainischen SSR befinden, Rohstoffe ihres Festlandsockels und der wirtschaftlichen Seezone, das gesamte wirtschaftliche und technisch-wissenschaftliche Potenzial, das auf dem Territorium der Ukraine geschaffen wird, sind Eigentum ihres Volkes, materielle Grundlage der Souveränität der Republik und sie werden genutzt mit dem Ziel der Versorgung materieller und geistiger Bedürfnisse ihrer Bürger.“
Ungeachtet der Bezeichnung als Unabhängigkeitserklärung, legte dieses Dokument zugleich den Grundstein für die Verfassung des entstehenden Staates. An der Deklaration wurden alle Gesetze ausgerichtet. Und so kam es, dass am 3. August 1990 auf dieser Grundlage das Gesetz der USSR zur „Wirtschaftlichen Souveränität der Ukrainischen SSR“ verabschiedet wurde, das besagte, dass die „Grundlage der wirtschaftlichen Souveränität der Ukrainischen SSR das Eigentum ihres Volkes am nationalen Reichtum“ bildet. Weiter heißt es: „Zum Eigentum des ukrainischen Volkes gehören grundlegende Produktionsmittel in der Industrie, im Baugewerbe, in der Volkswirtschaft, im Transport, sowie die Infrastruktur, Banken, Kreditanstalten und das Vermögen von Handels-, Kommunal- und andren Unternehmen, genauso wie der Wohnraumfonds und weiteres Eigentum auf dem Territorium der Ukraine“.
So sah es bei uns im Jahr 1990 aus. Und nun lassen Sie uns einmal in die Ukrainische Verfassung aus dem Jahr 1996 blicken.
Artikel 13 dieses bedeutenden Dokumentes besagt Folgendes: „Das Land, sein Inneres, der Luftraum, Wasser- und andere Ressourcen, die sich innerhalb der Grenzen der Ukraine befinden, Rohstoffe ihres Festlandsockels und der wirtschaftlichen Seezone sind Rechtsobjekte des Ukrainischen Volkes. Im Namen des Ukrainischen Volkes werden seine Eigentumsrechte von den staatlichen und regionalen Regierungsorganen im Rahmen der gegebenen Verfassung getragen“.
Ich hoffe, dass der Leser auf die wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden grundlegenden Dokumenten aufmerksam geworden ist? Vor diesem Hintergrund würde ich gerne einige rhetorische Fragen an die Begründer der Verfassung stellen.
1. Im Laufe des historischen Marathons von 1990 bis 1996 ist unterwegs etwas verloren gegangen, wie in dem Kinderspiel „Ene Mene Muh, und raus bist du!“
Und das ist der Satz: „Grundlegende Produktionsmittel in der Industrie, im Baugewerbe, in der Volkswirtschaft, im Transport, sowie die Infrastruktur, Banken, Kreditanstalten und das Vermögen von Handels-, Kommunal- und andren Unternehmen“, nicht mehr und nicht weniger. Mich würde interessieren, wohin das alles bis 1996 verschwunden ist?
Daher lautet meine erste Frage: Wann und auf welcher Grundlage hat sich das ukrainische Volk von einem solch bedeutenden Teil seines nationalen Reichtums losgesagt?
2. Auf unbekannte Weise hat das ukrainische Volk sein „alleiniges“ Recht auf den nationalen Reichtum der Ukraine verloren. Auch der Begriff des „nationalen Reichtums“ selbst ist verschwunden. Hinzu kommt, dass das „alleinige Recht“ bedeutet, dass es unmittelbar beim Volk liegt. Es ist ein Naturrecht und kann nicht veräußert oder geteilt werden. Es ist Grundlage der Souveränität, Fundament des würdigen Lebens und der freien Entwicklung des Volkes. Deshalb ist es auch sein alleiniges Recht. Der nationale Reichtum bedeutet ebenso seine unbedingte Zugehörigkeit zur Nation.
Hieraus ergibt sich die die zweite Frage: Wann und auf welcher Grundlage hat sich das Volk von seinem alleinigen Eigentumsrecht auf den nationalen Reichtum der Ukraine losgesagt?
3. Da dies ein Naturrecht ist, ist es grundsätzlich ein unverletzliches, unveräußerliches, überstaatliches Recht und kann daher nicht dem Staat gehören. Nur das Volk selbst hat das Recht, durch ein Referendum Entscheidungen zu treffen über die Rechte an seinem Eigentum.
Daraus folgt, dass die Einstellung der Verfassungsgründer zur Vollmacht des Staates, als Stellvertreter des Volkes über sein Eigentum zu verfügen, eine schwere Verletzung des Naturrechts und der Souveränität des Volkes sowie anderer Verfassungsgrundsätze darstellt.
Der nationale Reichtum der Ukraine gehört dem ukrainischen Volk und nicht der ukrainischen Regierung. Als staatlich wurde dieses Eigentum nur in der Form bezeichnet, als es auf keinen Fall seine Zugehörigkeit zum Volk verlieren dürfe.
Aus diesem Grund fand unter dem Anschein der Privatisierung staatlichen Eigentums in Wahrheit eine totale Konfiszierung des Volkseigentums statt. Und dies geschah zudem gegen den Willen des Volkes. Im Grunde wurde diese Handlung zum Schwindel des Jahrhunderts.
Somit kommen wir zur dritten Frage: Wer gab dem Parlament das Recht, über das Volkseigentum zu verfügen?
Da die Privatisierung sich entgegen dem Willen, den Rechten und Interessen des ukrainischen Volkes vollzogen hatte, kann man die Gesamtheit ihrer Normen ohne weiteres als Quasi-Gesetzgebung oder ungerechte Gesetzgebung bezeichnen.
Im gegebenen Artikel versteht man darunter die „Gesamtheit der Gesetze, die zwar vom Parlament unter Beachtung gültiger parlamentarischer Normen gebilligt werden, deren Einhaltung und Anwendung dennoch einen Verstoß gegen die Prinzipien der Gerechtigkeit und Hoheit des Rechts bedeuten“.
Es ist auch kein Zufall, dass der Ideologe der Privatisierung von Volkseigentum, Anatolij Tschubajs (ehemaliger russischer Premier A.d.Ü.), zugeben musste, dass „der Gerechtigkeitssinn des Volkes mit der Voucher-Privatisierung gebrochen wurde“.
Dennoch denke ich, dass etwas weit Größeres geschehen ist: Die Würde, die Freiheit und die Rechte des ukrainischen Volkes wurden damit zerschmettert.
Es scheint, dass die Verfassungsgeber der Ukraine in ihrer Einsicht über die Ungerechtigkeit der so genannten „Privatisierung“ bereits Grenzen für die Quasi-Gesetzgebung gesetzt haben.
Besonders zynisch erscheint mir, dass dieselben Personen gleichzeitig für die Quasi-Gesetzgebung der Privatisierung und für die Ukrainische Verfassung verantwortlich sind. Es würde mich auch nicht verwundern, wenn herauskäme, dass diese Personen zu den wohlhabendsten der Ukraine gehören.
Insgesamt muss man sagen, dass die Verfassung leider zu einer Rechtsform der Legalisierung der Folgen der ungerechten Privatisierung geworden ist.
Über die Quasi-Regierung habe ich bereits früher berichtet. Für die Sicherung ihrer Existenz bedarf sie ausdrücklich ihrer Quasi-Gesetzgebung. Und somit dient die Quasi-Gesetzgebung der Quasi-Regierung. Nur solch eine Regierung konnte Kraft einer solchen Gesetzgebung ihr Volk gnadenlos bestehlen und das Raubgut unter den Regierungsmitgliedern aufteilen.
Der Grund für die dermaßen bedauerlichen Zustände liegt darin, dass in der Ukraine vor dem Hintergrund der dargestellten, dominierenden „Tradition“ nicht einmal ansatzweise eine Rechtskultur existiert.
Für jedes andere Volk wäre das alles eine nationale Katastrophe. Es gibt viel Schockierendes, aber wenn man Ausrufe hört wie „Es lebe die Ukraine!“ und aus der Menge ein zustimmendes Echo ertönt, erinnert man sich immer häufiger an die unvergesslichen Worte des alten Hegel: „Was wirklich ist, das ist vernünftig“.
Aus dieser Perspektive betrachtet, existiert scheinbar die Einsicht, dass eine solche „Privatisierung“ vernünftig ist. Im Grunde ist alles, was in der Ukraine geschieht, der Wille ihres Volkes. Und bekannter Weise gilt „Vox populi vox Dei“, also „Die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes“.
„Es lebe die Ukraine!“
5. Januar 2012 // Aleksandr Muntschik, ukrainischer Jurist am Institut für Demokratie und Menschenrechte der Ukraine
Quelle: Ukrainskaja Prawda