Am 2. Juni 2016 hat das ukrainische Parlament die Änderungen der Verfassung und ein Gesetz „über das Gerichtswesen sowie den Status von Richtern” verabschiedet. Damit wurde die lange versprochene und vor allem lange erwartete Justizreform in der Ukraine auf den Weg gebracht. Die Akten sollen das gesamte Justizsystem in der Ukraine verändern und die Korruption in den Justizbehörden verhindern.
Die Verfassungsänderungen und das neue Gesetz sind Ende September 2016 in Kraft getreten.
Über die Reform und die möglichen Änderungen im Justizsystem wurde in der Ukraine in der Vergangenheit viel gesprochen. Viele Organisationen befürworteten einen absoluten Neuanfang, d.h. die Entlassung sämtlicher Richter und die Neubesetzung der Posten. Die Forderung wurde durch die Reform zwar nicht erfüllt, die Richter sollen jedoch überprüft und ggf. auch entlassen werden (siehe Punkt 4).
Die wesentlichen Inhalte der Justizreform kann man in folgende Punkte zusammenfassen:
1. Das bis jetzt existierende 4-Gerichtsinstanzen-System (Amtsgericht, Berufungsgericht, Fachgericht, Oberstes Gericht) wurde durch das 3-Instanzen-System ersetzt: Amtsgericht, Berufungsgericht, Oberstes Gericht. Das soll das Verfahren beschleunigen und den Parteien eine schnellere endgültige Entscheidung gewährleisten.
2. Die umstrittenen, als korrupt geltenden Kassationsgerichte wurden abgeschafft. Neue Kassationsinstanz wird das Oberste Gericht, das wie folgt verändert wird: Es wird aus insgesamt 5 „Kammern” bestehen: Verwaltungs-, Wirtschafts-, Zivil- und Strafkammer sowie die Große Kammer des Obersten Gerichts. Die Besetzung des Obersten Gerichts soll innerhalb eines Monats seit Inkrafttreten der Änderungen abgeschlossen sein, d.h. bis spätestens 2 Oktober 2016.
Die Richter sollen im Konkursverfahren ausgewählt werden. Im Obersten Gericht können nicht nur Richter, sondern auch Juristen, die noch keine Erfahrung in der Gerichtsbarkeit haben, als solche berufen werden, wenn sie exzellente Erfahrung in der Rechtswissenschaft nachweisen können (z.B. Rechtsanwälte, Jura-Professoren, etc.)
3. Es sollen zwei neue Gerichte geschaffen werden: Das Höhere Antikorruptionsgericht und das Höhere Gericht für Fragen des intellektuellen Eigentums. Das Höhere Antikorruptionsgericht soll für die Fälle zuständig sein, die vom Nationalen Antikorruptionsbüro zur Entscheidung weitergeleitet werden.
4. Sehr viele Änderungen betreffen die Ernennung der Richter. In Zukunft werden weder der Präsident noch das Parlament am Besetzungs- und Entlassungsprozess der Richter beteiligt sein.
Bisher wurden die Richter zunächst durch den Präsidenten für fünf Jahre berufen. Danach wurden sie durch die Werchowna Rada (das Parlament) für unbegrenzte Zeit ernannt. Jetzt wird die „Probezeit” aufgehoben und die Richter werden durch den Präsidenten auf Antrag des Höheren Justizrats ernannt. Der Präsident kann der Ernennung jedoch nicht widersprechen. Die Funktion des Präsidenten wird daher rein formal sein und sich nur auf die Unterzeichnung der Ernennungsurkunde begrenzen.
5. Alle Richter werden in den Konkursverfahren ausgewählt. Für die Auswahl der Richter wird die „Höhere Kommission für die Richterqualifikation” zuständig sein. Als Hilfsorgan wird eine neue Organisation gebildet – der „Bürgerliche Integritätsrat”. Diese Organisation soll aus Anwälten, Journalisten und Gelehrten zusammengesetzt werden und für die Beurteilung der professionellen Ethik der Richterkandidaten zuständig sein. Ferner soll der Rat sämtliche Informationen zur Integrität der Richter sammeln, auswerten und die Ergebnisse der Höheren Kommission für die Richterqualifikation” vorlegen.
6. Es ist geplant, die gesammelten Informationen über die Richter offen zugänglich zu machen. Auf der Website der „Höheren Kommission für die Richterqualifikation” sollen alle gesammelten Informationen, auch die Ergebnisse des Bürgerlichen Integritätsrates, der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen.
7. Richter dürfen nicht jünger als 30 Jahre sein und nicht älter als 65 (früher nicht jünger als 25 Jahre alt). Sie müssen mindestens fünf Jahre Berufsausbildung nachweisen (zuvor waren es drei Jahre.
8. Um die Korruption zu bekämpfen, soll das Amt des Richters attraktiver werden. Es wird beabsichtigt, die besten Juristen auch außerhalb des Gerichtsorgans zu gewinnen. Das Gesetz sieht eine spürbare Erhöhung der Richtergehälter vor. Danach soll das Gehalt des Richters in der ersten Instanz 30 Mindesteinkommen betragen, 50 Mindesteinkommen am Berufungsgericht betragen und 75 Mindesteinkommen sollen Richter am Obersten Gericht verdienen (ein Mindesteinkommen beträgt z.Z. 1.450 UHA, 1 Euro = 29 UAH). Hinzu kommen außerdem noch verschiedene Zulagen. Die Gehälter der alten Richter werden nur nach erfolgreicher Ablage der Eignungsprüfung angehoben
9. Die bisherigen Richter werden überprüft, d.h. sie werden einer Eignungsprüfung unterzogen. In der Prüfung sollen die Kompetenz und die ethischen Grundsätze der Richter überprüft werden. Die „alten” Richter sollen auch die Herkunft ihres Vermögens nachweisen. Richter, die bei der Eignungsprüfung durchfallen oder die Herkunft des Vermögens nicht nachweisen können, werden sofort entlassen.
Die Pflicht für einen Nachweis der Herkunft des Vermögens wurde durch das Gesetz neu eingeführt. Bis jetzt war das kein Grund für eine Amtsenthebung der Richter.
10. Neu ist auch die Pflicht der Richter, ihre familiären Bindungen offenzulegen. Alle Richter werden künftig verpflichtet, Auskunft über persönliche oder familiäre Bindungen zu den Personen offenzulegen, die in anderen Staatsorganen tätig sind (z.B. Staatsanwaltschaft, höherer Staatsdienst, Justiz). Die Falschaussagen werden mit Einleitung eines Disziplinarverfahrens bestraft. Mit der Regelung sollen Clan-ähnliche Strukturen in den Justizorganen verhindert und Interessenkonflikte vermieden werden.
11. Die Immunität der Richter wurde deutlich eingeschränkt. Das Gesetz sieht vor, dass Richter in zwei Fällen verhaftet werden können: Richter, die bei der Begehung einer Straftat oder unmittelbar danach gefasst werden, werden wie alle anderen Bürger nach allgemeinen Regeln des Strafvollzugs festgenommen. In allen anderen Fällen können Richter, die Verwaltungs- oder Strafverbrechen begangen haben, erst nach der Erlaubnis des Höheren Justizrats (später ab 2019 Höherer Rat der Gerechtigkeit) verhaftet werden.
12. Sehr viele Befugnisse, die früher dem Präsidenten, dem Parlament oder dem Höheren Justizrat vorbehalten waren, sind an den „Höheren Rat der Gerechtigkeit“ übergegangen. Er wird die Entscheidungen über die Ernennung der Richter nach vorheriger Empfehlung der „Höheren Richter Qualifikationskommission” treffen und beantragt die Ernennung bei den Präsidenten (siehe Punkt 4). Außerdem ist der Rat für die Disziplinarverfahren zuständig sowie für die Erhebung der Immunität der Richter (sehe Punkt 10). Zu beachten ist, dass der Rat der Gerechtigkeit erst 2019 gegründet wird. Bis dahin arbeitet noch der Höhere Justizrat, der aber ab sofort mit den Befugnissen des Rates der Gerechtigkeit ausgestattet ist.
13. Einige Änderungen gibt es bei der Vollstreckung von Urteilen. Neben den staatlichen Vollzugsbehörden soll es künftig auch private Vollzugsbeamte geben. Das soll die Korruption eindämmen und die Effizienz bei der Vollstreckung von Urteilen erhöhen.
14. Die Änderungen in der Verfassung der Ukraine garantieren dem ukrainischen Bürger das Recht, sich an das Verfassungsgericht mit einer Verfassungsklage zu wenden. Das kann nur dann passieren, wenn der Gerichtsweg ausgeschöpft ist und der Bürger behauptet, dass das für die Endentscheidung angewandte Gesetz mit der Verfassung der Ukraine nicht übereinstimmt.
16. Einige Änderungen betreffen die Anwaltsvertretung vor Gericht. Bis jetzt konnte jeder Jurist ohne Zulassung als Rechtsanwalt die Mandanten vor Gericht vertreten (mit Ausnahme von Strafsachen). In Zukunft sollen nur qualifizierte Rechtsanwälte (d.h. nur mit Zulassung) die Vertretung der Mandanten (juristische und natürliche Personen) übernehmen. Es gibt Ausnahmen, wie z.B. Sozial- oder Arbeitsrechtsstreitigkeiten. Es sollen folgende Übergangszeiten gelten: ab 2017 Rechtsanwaltsvertretung vor dem Obersten Gericht, ab 2018 Rechtsanwaltsvertretung vor dem Berufungsgericht und ab 2019 vor den Gerichten der ersten Instanz.
Fazit:
Die Justizreform ist ein vielversprechender Anfang. Viele Details müssen noch durch weitere Gesetzgebungsakte präzisiert werden und die Durchführung der Reform ist auf mehrere Jahre ausgelegt. Nichts passiert sofort. Die ukrainische Regierung ist sich aber bewusst, dass ein Zuwachs an internationalen Investitionen nur möglich ist, wenn die Rechtssicherheit durch gute, unabhängige Gerichte gewährleistet ist. Die Gerichtsreform ist daher ein guter erster und notwendiger Schritt in die richtige Richtung.
Dr. Beata Pankowska-Lier, LL.M., Rechtsanwältin
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