Mit Regelverstößen, aber „für das Volk“. Wie man den Abgeordneten die Immunität nahm
Der erste Tag der zweiten Sitzungsperiode der neugewählten Rada wurde ein sehr produktiver. Die Abgeordneten der Diener des Volkes unter der Kontrolle von Präsident Wladimir Selenskij brachten eine Verfassungsänderung ein, im Detail die Abschaffung der Immunität der Parlamentarier. Mit offensichtlichen Verstößen gegen die Prozedur von Verfassungsänderungen, die es perspektivisch erlauben, den verabschiedeten Beschluss anzufechten. Mit der Immunität wurde der Marathon der Verfassungsänderungen nicht beendet. Die Diener haben bis zum späten Abend ein Präsidentengesetz nach dem anderen „abgestempelt“ und sie zur Durchsicht an das ukrainische Verfassungsgericht übersandt. Das eröffnet die Möglichkeit schon im Frühjahr eine ganze Reihe von ziemlich umstrittenen Neuerungen in der Verfassung, die die Macht des Präsidenten erweitern, gemeinsam zu beschließen. In allen Einzelheiten in der Reportage von LB.ua.
Die Warnungen der Alteingesessenen
In den letzten 20 Jahren haben die Parlament verschiedener Legislaturperioden nicht weniger als zehn Mal über die Abschaffung der Abgeordneten-Immunität beraten. Aber im letzten Schritt (nach der ersten Abstimmung mit mindestens 226 Stimmen für die Übersendung zur Expertise ans Verfassungsgericht, nach der zweiten Abstimmung in der Rada, wieder mit 226 Stimmen – Verf.) stoppte der Prozess jedes Mal, wenn die verfassungsändernde Mehrheit von 300 Ja-Stimmen notwendig war. Jede politische Kraft versprach den Wählern vor den Wahlen, einen Punkt zu setzen und die Kaste der Unantastbaren abzuschaffen. Das war schließlich eine der Schlüssel-Losungen von Selenskij und den Dienern des Volkes bei den Wahlen.
Bemerkenswert ist, dass die Diener beschlossen als Grundlage die Gesetzesinitiative Nr. 7203 aus der Feder von Pjotr Poroschenko zu nehmen. Aus pragmatischen Gründen: sie hat schon das erste Abstimmungsverfahren zur Übersendung an das Verfassungsgericht überstanden. Tatsächlich gibt es den kritischen Hinweis aus dem Jahr 2018 über die Notwendigkeit, die Empfehlung der Venedig-Kommission zu beachten, die an das „politisches System einer verwundbaren Demokratie [erinnerte], in der die vollständige Abschaffung der Immunität gefährlich für die Funktionalität und Autonomie des Parlaments werden könnte.“ Aber in der Fraktion der Diener beschloss man den Beschluss des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2015 zu wählen, in dem es diese Warnung nicht gibt.
??„Außerdem verstieß die Regierungspartei gegen alle Vorschriften der Gesetzesvorlage. Der zuständige Ausschuss der Werchowna Rada zu Fragen der Rechtsprechung tagte und traf die Vorentscheidung zur Gesetzesinitiative am 2. September, was außerhalb der Sitzungszeit und nicht durch das Gesetz vorgesehen ist. Zudem nahm die Einparteienmehrheit den Abgeordneten das in den Vorschriften zugesicherte Recht alternative Gesetzesentwürfe einzureichen, was in der Gesetzgebung zwingend vorgesehen ist. Das alles gibt den ‚Wolfshunden‘, die schon lange im Parlament arbeiten, die Möglichkeit beim Verfassungsgericht einen Antrag auf Ablehnung des Gesetzes einzubringen“, warnte die Ex-Parlamentsvize-Sprecherin und Co-Vorsitzende der Fraktion Europäische Solidarität Irina Geraschenko.
Übrigens verließ der Jurist und Abgeordnete von Vaterland Sergej Wlassenko noch einen Tag vorher geräuschvoll die Sitzung eben jenes Ausschusses. Dabei beschuldigte er die Regierungsmannschaft emotional des Verstoßes gegen das Beratungsverfahren der Gesetzesinitiative. Allerdings erklärte Wlassenko bereits am Dienstagmorgen sichtlich zurückhaltend „das Gesetz auf Beschluss der Fraktion zu unterstützen.“ Zugegeben „Es gibt Verstöße, was denjenigen in die Hände spielt, die die Änderungen zur Abschaffung der Immunität rückgängig machen wollen.“
Der Chef der Fraktion Stimme Sergej Rachmanin nannte den Änderungsvorschlag unsystematisch und erinnerte den im Saal anwesenden Präsidenten an sein Versprechen vor der Wahl, nicht nur die Immunität der Abgeordneten abzuschaffen, sondern sie auch für Richter und sich selbst zu beseitigen. Und nicht der Rada ein Simulakrum vorzulegen nach Art des Gesetzesentwurfs über die Amtsenthebung (der Vizesprecher Ruslan Stefantschuk hat dessen Beratung bereits für die nächste Woche angekündigt). „Schließlich steht diese Gesetzesinitiative (zur Amtsenthebung) im gleichen Verhältnis zur Absetzung des Präsidenten wie ein ‚Orbit‘-Kaugummi zum Kampf gegen Karies“, erklärte Sergej Rachmanin.
Von der Tribüne antwortete der Diener – Abgeordnete und frühere Journalist von „1+1“ Alexander Dubinskij. Er gab zu, dass es Verfahrensverstöße gibt, „aber wir sollten die Versprechen erfüllen, die wir dem Volk gegeben haben.“
Analoge Formulierungen verlautbarten viele Abgeordnete der Diener am Tag vor der Abstimmung im Gespräch mit LB.ua. Man sagte, ja, wir haben als Basis einen Gesetzentwurf von Poroschenko verwendet. Ja, wir haben nicht das gesamte Verfahren der Einbringung eines eigenen Gesetzentwurfs durchlaufen, was den Prozess der Abschaffung der Immunität bis Februar hinausgezögert hätte (bis zur nächsten Sitzungsperiode, wie es das Gesetz fordert). Ja, wir haben die erste Sitzung an einem Tag abgehalten, in der Nacht vom 29. Auf den 30. September, um in der zweiten Sitzung, schon eine Woche später schnell, wenn auch mit Formfehlern, das Gesetz im Ganzen zu beschließen. „Alles aus einem Grund. Unsere Wähler werden nicht so lange warten, sie brauchen schnelle Entscheidungen“, eröffnete einer der Führenden der Fraktion Diener des Volkes.
„Keine Himbeeren“ von Selenskij
Wladimir Selenskij stellte die Gesetzesinitiative selbst vor. Zuerst trollte er von der Tribüne aus Wadim Rabinowitsch von der Oppositionsplattform für das Leben für die Erwähnung der Regierungspläne zur Genehmigung von Landverkäufen. „Heute geht es nicht um den Boden“, begann Wladimir Alexandrowitsch [Selenskij] mit seiner ihm eigenen Heiserkeit, was seine Abgeordneten mit Ovationen beantworteten. Sodann begann der Präsident vom Blatt abzulesen. Merklich aus dem Tritt kommend, erinnerte er daran, dass die Abgeordneten die Abschaffung der Immunität schon seit zwei Jahrzehnten versprechen. Aber genau heute sei der historische Moment. Die Abgeordneten selbst müssen keine Angst haben. Nach der Abschaffung der Immunität wird es keine politische Strafverfolgung geben. „Denn den Gewählten bleibt immer noch die Indemnität“, trat Selenskij auf, bei dem letzten Wort jede einzelne Silbe betonend.
Mit einfachen Worten, es bleibt eine politische Immunität, bei der die Abgeordneten für politische Meinungen, Auftritte und Abstimmungen keine strafrechtliche Verantwortung tragen.
„Es geht nur um die Möglichkeit der strafrechtlichen Verantwortung, wenn ein Abgeordneter mit dem Auto ein Kind überfährt oder illegale Einnahmen durch Bernstein verheimlicht. Dann sollte er vor dem Gesetz gleich sein“, fuhr der Präsident fort, was erneut von Applaus „unter der Kuppel“ begleitet wurde.
„Das Parlament, das ist kein Vergnügen für fünf Jahre…, tut einfach, was ihr versprochen habt…Heute sind 90 Prozent der Menschen für die Abschaffung der Immunität und ich rate Ihnen sehr davon ab, die tatsächlich zu testen, wenn schon morgen Menschen hierher kommen könnten“, schloss das Staatsoberhaupt.
„Wir hätten unseren Gesetzentwurf einreichen, das ganze Prüfungsverfahren durchlaufen können, aber wir haben verstanden, dass das Volk der Ukraine nicht warten wird“, erklärte der nach Wladimir Selenskij auftretende Vertreter des Präsidenten im Verfassungsgericht und Abgeordneter der Diener, Fjodor Wenislawskij. Nach seinen Worten wurde im Gesetzesentwurf jedes Komma überprüft und „es gibt keinerlei Hinderungsgründe für die Verabschiedung des Gesetzes, die Schlussfolgerungen der Venedig-Kommission von 2015 wurden berücksichtigt und von Verstößen gegen das Beschlussverfahren kann keine Rede sein.“
Die Schlussfolgerung der zuständigen Ausschuss verlas dessen stellvertretende Vorsitzende und Abgeordnete der Diener, Olga Sowgirja, die alle Bemerkungen der Abgeordneten anderer Fraktionen über die mögliche Ablehnung des Gesetzes durch das Verfassungsgericht „juristische Kasuistik“ und banale Zeitverzögerung nannte, was die „Alteingesessenen“ in der Rada mit Gelächter und Spott über offensichtliche Inkompetenz aufnahmen.
Der Abgeordnete Dmitrij Lubinjez aus der Gruppe Für die Zukunft (ein „Hybrid“ aus Resten der Gruppen Renaissance und Wille des Volkes aus der letzten Legislaturperiode), und Chef des Menschenrechtsausschusses bemerkte, „dass wir ja nicht gegen den Beschluss des Gesetzes sind, aber Sie verstehen doch, dass es Abgeordnete geben wird, die beim Verfassungsgericht einen Antrag auf dessen Rücknahme stellen werden“, warnte er. Schlussendlich kam es auch so: die Oppositionsplattform für das Leben von Medwedtschuk und Bojko verkündete bereits die Anfechtung des Gesetzes vor Gericht.
Vor der eigentlichen Abstimmung verlängerte der Autor des Gesetzes Pjotr Poroschenko selbst die Beratung über den Gesetzentwurf, der nicht vergaß daran zu erinnern, dass man genau über seinen Gesetzentwurf abstimmen wird. Und er erinnerte auch noch einmal an alle Verfahrensfehler, aber „im Verständnis der gesamten Bedeutung dieses Schrittes, werden wir für das Gesetz stimmen. Ich bin stolz darauf, dass unter dem Gesetz zuerst meine Unterschrift steht“, sagte Pjotr Alexejewitsch [Poroschenko], und seine kleine Fraktion unterstützte ihn durch Händeklatschen.
Um die Verfahrens-„Unebenheiten“ wenigstens ein bisschen zu glätten, bemerkte die Chefin des Ausschusse für Rechtsprechung, Irina Wenediktowa, dass die gestrige Sitzung des Ausschusses zwar „außerplanmäßig war, aber auf die Initiative von 14 Abgeordneten hin stattfand.“ Nach ihrer Logik räumen sich auf dieser Grundlage alle Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Aktivitäten des Ausschusses zwischen den Sitzungszeiten aus. Im Parlamentsreglement gibt es übrigens keine Normen zu „außerplanmäßigen“ Ausschusssitzungen. Wie es früher auch nicht die Praxis der „außerplanmäßigen jährlichen Botschaften des Präsidenten über die innere und äußere Lage der Ukraine“ gab, die von Selenskij in der langen Nachtsitzung der letzten Woche eingeführt wurde.
„Lassen Sie uns einfach unser Versprechen erfüllen“, rief Wenediktowa zum Schluss auf, und der Saal nahm unter anhaltendem Applaus das ganz Gesetz mit 373 Stimmen an. Viele Diener nahmen diesen Moment mit ihren Smartphones auf und der Präsident begleitete das Erscheinen der Zahlen auf der Anzeige mit der schon traditionellen Gestikulation. Damit sagend, sie hätten es noch einmal geschafft.
Der Änderungsmarathon
Nach einer halbtägigen Unterbrechung begannen die Abgeordneten alle sieben verfassungsändernden Gesetzentwürfe des Präsidenten einen nach dem anderen zu beschließen (darüber hat LB.ua bereits berichtet). Tatsächlich wurde dieses Mal streng nach Verfahrensordnung abgestimmt, die Dokumente zur Stellungnahme an das Verfassungsgericht verwiesen, was eine einfache Mehrheit von 226 Stimmen erfordert. Nach einer positiven Stellungnahme des Gerichts braucht die Rada noch einmal 226 Ja-Stimmen für die Abstimmung des Gesetzes in der ersten Lesung. Und unter optimistischen Umständen für die Diener, braucht es in der neuen Sitzungsperiode im Februar 300 Stimmen um die Änderungen in Form des Gesetzes komplett zu beschließen.
Allerdings hat Selenskij schon zu Beginn dieser Gesetzgebungs-Initiative einen ganzen Sturm an Kritik bei den anderen politischen Lagern ausgelöst. Während die Änderungen beim Rechtsanwalts-Monopol still beschlossen wurden, so wurde die Ausweitung der Machtbefugnisse des Präsidenten Regulierungsbehörden einzurichten und die Direktoren von des Nationalen Antikorruptionsbüros und des Staatlichen Ermittlungsbüros zu ernennen und zu entlassen einstimmig als „einwandfreie Usurpation der Macht durch den Präsidenten“ bezeichnet. Der Co-Vorsitzende der Europäischen Solidarität Artur Gerassimow konstatierte „das Herannahen einer vollständigen Machtkonzentration“, zu der er den Vorschlag der Begrenzung der Zahl der Abgeordneten auf 300, tatsächlich schon für das Parlament der nächsten Legislatur, sowie die Erweiterung der Liste von Gründen für den Entzug eines Abgeordnetenmandats wegen Fehlzeiten oder nicht persönlicher Abstimmung zählt.
„Sie können die Zahl der Abgeordneten gleich auf zwei begrenzen: Selenskij und Bogdan“, sagte der Vizesprecher der Europäischen Solidarität und Abgeordnete Andrej Parubij im Laufe der Beratung sichtlich ungehalten. Genauso viele Fragen warfen zwei Gesetzentwürfe über Gesetzesinitiativen durch das Volk und Bevollmächtigten der Werchowna Rada. In den Verfahrensbestimmungen für Abstimmungen ist nicht genau beschrieben, wie die Gesetzesinitiativen von eben jenem „Volk“ eingereicht werden können. Wie auch keine möglichen neuen Bevollmächtigten der Rada erwähnt sind (heute gibt es einen, den Menschenrechtsbeauftragten).
Insgesamt zog sich dieses „Abstempeln“ der Beschlüsse über die Übersendung aller sieben Bestimmungen an das Verfassungsgericht bis 20:15 Uhr. Die Vertreter der Oppositionsfraktionen versprachen schon für jeden Gesetzentwurf Selenskijs eine Alternative einzureichen. Die Monopolstellung der Diener des Volkes macht es allerdings einfach diese Hindernisse zu überwinden.
4. September 2019 // Anna Steschenko
Quelle: Lewyj Bereg